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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

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Der Ausdruck freundlicher Verwunderung in dem
frommen treuherzigen Gesicht des Riesen ist höchst
anziehend; doch wahrhaft göttlich groß, bei aller
kindlichen Anmuth, ist der junge, etwa drei Jahr
alte Christus. Das lichte Köpfchen von himmlischer
Glorie umflossen, hebt er die erhobne Rechte gen
Himmel, indem er die ernsten Worte ausspricht: --
"du trägst den Herrn der Welt." -- Oben auf dem
hohen Felsenufer steht eine Einsiedelei, der sie be-
wohnende Eremit vernahm das Geräusch auf dem
Wasser, er eilte hinaus und steht über die Felsen-
wand gebogen, sein schwaches Lämpchen hinaushal-
tend. Aber im nämlichen Moment steigt die Sonne
in siegender Pracht aus dem unabsehbaren Wellen-
bette. Der Strom wird zum Lichtmeer, und die
erfreute Welt, stralend im Glanze des Himmels,
bedarf nicht mehr des künstlichen schwachen Lichts
des in der Dämmerung Wohnenden.

Kein Miniaturbild, kein berühmtes Kabinets-
stück der fleißigsten niederländischen Meister späterer
Zeit, kann bis in die kleinsten Einzelheiten zarter
und vollendeter seyn als diese unbeschreiblich herr-


Der Ausdruck freundlicher Verwunderung in dem
frommen treuherzigen Geſicht des Rieſen iſt höchſt
anziehend; doch wahrhaft göttlich groß, bei aller
kindlichen Anmuth, iſt der junge, etwa drei Jahr
alte Chriſtus. Das lichte Köpfchen von himmliſcher
Glorie umfloſſen, hebt er die erhobne Rechte gen
Himmel, indem er die ernſten Worte ausſpricht: —
„du trägſt den Herrn der Welt.“ — Oben auf dem
hohen Felſenufer ſteht eine Einſiedelei, der ſie be-
wohnende Eremit vernahm das Geräuſch auf dem
Waſſer, er eilte hinaus und ſteht über die Felſen-
wand gebogen, ſein ſchwaches Lämpchen hinaushal-
tend. Aber im nämlichen Moment ſteigt die Sonne
in ſiegender Pracht aus dem unabſehbaren Wellen-
bette. Der Strom wird zum Lichtmeer, und die
erfreute Welt, ſtralend im Glanze des Himmels,
bedarf nicht mehr des künſtlichen ſchwachen Lichts
des in der Dämmerung Wohnenden.

Kein Miniaturbild, kein berühmtes Kabinets-
ſtück der fleißigſten niederländiſchen Meiſter ſpäterer
Zeit, kann bis in die kleinſten Einzelheiten zarter
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[186/0198] Der Ausdruck freundlicher Verwunderung in dem frommen treuherzigen Geſicht des Rieſen iſt höchſt anziehend; doch wahrhaft göttlich groß, bei aller kindlichen Anmuth, iſt der junge, etwa drei Jahr alte Chriſtus. Das lichte Köpfchen von himmliſcher Glorie umfloſſen, hebt er die erhobne Rechte gen Himmel, indem er die ernſten Worte ausſpricht: — „du trägſt den Herrn der Welt.“ — Oben auf dem hohen Felſenufer ſteht eine Einſiedelei, der ſie be- wohnende Eremit vernahm das Geräuſch auf dem Waſſer, er eilte hinaus und ſteht über die Felſen- wand gebogen, ſein ſchwaches Lämpchen hinaushal- tend. Aber im nämlichen Moment ſteigt die Sonne in ſiegender Pracht aus dem unabſehbaren Wellen- bette. Der Strom wird zum Lichtmeer, und die erfreute Welt, ſtralend im Glanze des Himmels, bedarf nicht mehr des künſtlichen ſchwachen Lichts des in der Dämmerung Wohnenden. Kein Miniaturbild, kein berühmtes Kabinets- ſtück der fleißigſten niederländiſchen Meiſter ſpäterer Zeit, kann bis in die kleinſten Einzelheiten zarter und vollendeter ſeyn als dieſe unbeſchreiblich herr-

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Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/198>, abgerufen am 20.04.2024.