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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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das Wirkliche sich gerettet hatte, mit großer Energie seit ein bis zwei
Menschenaltern den Realismus auf ihre Fahne geschrieben. Die besten
Geister anderer Staaten sind ihr hierin gefolgt, es sei z. B. nur an
Herbert Spencers Materialsammlungen und an Sir H. S. Maines Ar-
beiten erinnert. Auch diejenigen unter den deutschen National-
okonomen, welche am meisten für deduktives Verfahren eingetreten
sind, haben sich teilweise mit größtem Erfolge an den deskriptiven
Arbeiten beteiligt, wie z. B. A. Wagner. Der Unterschied der heutigen
deskriptiven Richtung der Nationalökonomie von der des vorigen Jahr-
hunderts besteht darin, daß heute nicht mehr zufällige Notizen ge-
sammelt, sondern nach strenger Methode wissenschaftlich vollendete
Beobachtungen und Beschreibungen gefordert werden.

Wenn vor allem die deutsche Wissenschaft in dieser Richtung vorging,
so hat sie sich nie eingebildet, daß das Beobachten und Beschreiben
allein Wissenschaft sei, daß das mehr sei, als die Vorbereitung, um zu
allgemeinen Wahrheiten zu kommen. Sie behauptete nur und mit
Recht, ohne diese empirische Grundlage und ohne strenge Schulung
und Gewöhnung nach dieser Seite gebe es keine brauchbare Induktion
und Deduktion; sie glaubte vor allem, daß hierin ein Unterricht mög-
lich und heilsam sei, daß hierin geschulte Anfänger noch etwas leisten
können, während die Spekulationen der Schüler über die letzten Fra-
gen der Wissenschaft meist ziemlich wertlos sind. Die deutsche Wissen-
schaft und die Leiter derjenigen staatswissenschaftlichen Seminare, aus
denen seit 30 Jahren überwiegend deskriptive Arbeiten hervorgingen,
waren sich bewußt, damit im Einklange zu stehen mit dem Gange, den
die Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre überhaupt genommen.
Sie konnten sich auf Lasalles Wort berufen: "Der Stoff hat ohne den
Gedanken immer noch relativen Wert, der Gedanke ohne den Stoff
nur die Bedeutung einer Chimäre"; oder auf Lotzes Ausspruch: "Die
Tatsache kennen, ist nicht alles, aber ein Großes; dies gering zu
schätzen, weil man mehr verlangt, geziemt nur jenen hesiodischen
Toren, die nie einsehen, daß halb oft besser ist, als ganz."

Bei den verschiedenen Seiten der volkswirtschaftlichen Erscheinungen
kommen nun für Beobachtung und Beschreibung natürlich verschie-
dene Verfahrungsweisen in Betracht; sie sind teils anderen Wissen-
schaften entlehnt, teils mehr selbständig innerhalb der Staatswissen-
schaften ausgebildet worden. Es ist hier des Raumes wegen nicht mög-
lich, auf alle diese Methoden im einzelnen einzugehen. Dagegen muß
wenigstens davon besonders geredet werden, wie Statistik und Ge-
schichte sich als Hilfswissenschaften der Volkswirtschaftslehre neuer-
dings ausgebildet haben.

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das Wirkliche sich gerettet hatte, mit großer Energie seit ein bis zwei
Menschenaltern den Realismus auf ihre Fahne geschrieben. Die besten
Geister anderer Staaten sind ihr hierin gefolgt, es sei z. B. nur an
Herbert Spencers Materialsammlungen und an Sir H. S. Maines Ar-
beiten erinnert. Auch diejenigen unter den deutschen National-
okonomen, welche am meisten für deduktives Verfahren eingetreten
sind, haben sich teilweise mit größtem Erfolge an den deskriptiven
Arbeiten beteiligt, wie z. B. A. Wagner. Der Unterschied der heutigen
deskriptiven Richtung der Nationalökonomie von der des vorigen Jahr-
hunderts besteht darin, daß heute nicht mehr zufällige Notizen ge-
sammelt, sondern nach strenger Methode wissenschaftlich vollendete
Beobachtungen und Beschreibungen gefordert werden.

Wenn vor allem die deutsche Wissenschaft in dieser Richtung vorging,
so hat sie sich nie eingebildet, daß das Beobachten und Beschreiben
allein Wissenschaft sei, daß das mehr sei, als die Vorbereitung, um zu
allgemeinen Wahrheiten zu kommen. Sie behauptete nur und mit
Recht, ohne diese empirische Grundlage und ohne strenge Schulung
und Gewöhnung nach dieser Seite gebe es keine brauchbare Induktion
und Deduktion; sie glaubte vor allem, daß hierin ein Unterricht mög-
lich und heilsam sei, daß hierin geschulte Anfänger noch etwas leisten
können, während die Spekulationen der Schüler über die letzten Fra-
gen der Wissenschaft meist ziemlich wertlos sind. Die deutsche Wissen-
schaft und die Leiter derjenigen staatswissenschaftlichen Seminare, aus
denen seit 30 Jahren überwiegend deskriptive Arbeiten hervorgingen,
waren sich bewußt, damit im Einklange zu stehen mit dem Gange, den
die Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre überhaupt genommen.
Sie konnten sich auf Lasalles Wort berufen: „Der Stoff hat ohne den
Gedanken immer noch relativen Wert, der Gedanke ohne den Stoff
nur die Bedeutung einer Chimäre“; oder auf Lotzes Ausspruch: „Die
Tatsache kennen, ist nicht alles, aber ein Großes; dies gering zu
schätzen, weil man mehr verlangt, geziemt nur jenen hesiodischen
Toren, die nie einsehen, daß halb oft besser ist, als ganz.“

Bei den verschiedenen Seiten der volkswirtschaftlichen Erscheinungen
kommen nun für Beobachtung und Beschreibung natürlich verschie-
dene Verfahrungsweisen in Betracht; sie sind teils anderen Wissen-
schaften entlehnt, teils mehr selbständig innerhalb der Staatswissen-
schaften ausgebildet worden. Es ist hier des Raumes wegen nicht mög-
lich, auf alle diese Methoden im einzelnen einzugehen. Dagegen muß
wenigstens davon besonders geredet werden, wie Statistik und Ge-
schichte sich als Hilfswissenschaften der Volkswirtschaftslehre neuer-
dings ausgebildet haben.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/39>, abgerufen am 29.03.2024.