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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Größe, nach Ursache und Folge ausreichenden Beschreibung vor allem
die Fähigkeit gehört, die Tausende von Einzeldaten zusammenzufassen,
zu komprimieren; es handelt sich um die Fähigkeit, das analytisch im
einzelnen Festgestellte in einer vollendeten Synthese zusammenzufas-
sen. Eine vollendete Beschreibung setzt einen vollendeten Sachkenner
voraus, der zugleich als vollendeter Künstler mit kurzen Strichen, mit
plastischer Anschaulichkeit und doch ganz wahrheitsgetreu zu schildern
weiß.

Je einfacher die Gegenstände einer Disziplin sind, eine desto geringere
Rolle spielt in der betreffenden Wissenschaft die Beschreibung; die
Erscheinungen sind typisch, wiederholen sich so gleichmäßig, daß Be-
schreibungen der verschiedenen Exemplare derselben Art nicht nötig
sind. Das gilt auch für die elementaren volkswirtschaftlichen Vorgänge,
wie Preisschwankungen; da kann ein Beispiel genügen. Alles Kom-
pliziertere hat seinen individuellen eigentümlichen Charakter, die Be-
schreibung der einen Hausindustrie macht die der anderen nicht über-
flüssig. In den komplizierteren Wissensgebieten hat daher stets mit
dem Siege strenger Wissenschaftlichkeit die Beschreibung, der deskrip-
tive Teil sich einen eigentümlichen selbständigen Platz erobert; einzeln
Hilfsmittel und Arten der Beobachtung, der Tatsachensammlung und
Beschreibung, wie z. B. die Mikroskopie und Statistik wurden zu be-
sonderen Wissenschaften.

Auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und speziell der Volkswirt-
schaftslehre beobachten wir seit ihrer höheren Ausbildung zwei An-
läufe nach dieser Richtung. Erst erging sich die Kameralistik und der
Merkantilismus im ersten mühevollen, freilich oft recht oberflächlichen
Sammeln der Tatsachen, in Beschreibungen von Holland, England und
anderen Staaten; endlose Encyklopädien und Sammelwerke entstanden;
diese ältere Richtung konnte sich nicht genug des Materials erfreuen
und endete zuletzt in gedankenloser Polyhistorie. Die Naturlehre der
Volkswirtschaft war dem gegenüber eine Erlösung; sie stellte einen
vorläufigen Versuch der rationalen Bemeisterung des toten Stoffes dar;
für einige Menschenalter trat das Beobachten und Beschreiben zurück;
die Dinge für zu einfach haltend, glaubte man in der allgemeinen
Menschennatur den Schlüssel gefunden zu haben, der direkter und
müheloser zum Heiligtum der Erkenntnis führe, als die langweilige,
zeitraubende Empirie. Den Rückschlag gegen diese Einseitigkeit stellt
unsere Epoche dar. Wie man in England den Schlagworten Angebot
und Nachfrage nicht mehr allein glaubte, sondern in endlosen Enqueten
vor jedem Urteil über die Dinge die Tatsachen festzustellen sich be-
mühte, wie die Franzosen in Le Play einen neuen Apostel der Empirie
fanden, so hat vor allem die deutsche nationalökonomische Wissen-
schaft, die aus der Epoche der Kameralistik stets lebendigen Sinn für

Größe, nach Ursache und Folge ausreichenden Beschreibung vor allem
die Fähigkeit gehört, die Tausende von Einzeldaten zusammenzufassen,
zu komprimieren; es handelt sich um die Fähigkeit, das analytisch im
einzelnen Festgestellte in einer vollendeten Synthese zusammenzufas-
sen. Eine vollendete Beschreibung setzt einen vollendeten Sachkenner
voraus, der zugleich als vollendeter Künstler mit kurzen Strichen, mit
plastischer Anschaulichkeit und doch ganz wahrheitsgetreu zu schildern
weiß.

Je einfacher die Gegenstände einer Disziplin sind, eine desto geringere
Rolle spielt in der betreffenden Wissenschaft die Beschreibung; die
Erscheinungen sind typisch, wiederholen sich so gleichmäßig, daß Be-
schreibungen der verschiedenen Exemplare derselben Art nicht nötig
sind. Das gilt auch für die elementaren volkswirtschaftlichen Vorgänge,
wie Preisschwankungen; da kann ein Beispiel genügen. Alles Kom-
pliziertere hat seinen individuellen eigentümlichen Charakter, die Be-
schreibung der einen Hausindustrie macht die der anderen nicht über-
flüssig. In den komplizierteren Wissensgebieten hat daher stets mit
dem Siege strenger Wissenschaftlichkeit die Beschreibung, der deskrip-
tive Teil sich einen eigentümlichen selbständigen Platz erobert; einzeln
Hilfsmittel und Arten der Beobachtung, der Tatsachensammlung und
Beschreibung, wie z. B. die Mikroskopie und Statistik wurden zu be-
sonderen Wissenschaften.

Auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und speziell der Volkswirt-
schaftslehre beobachten wir seit ihrer höheren Ausbildung zwei An-
läufe nach dieser Richtung. Erst erging sich die Kameralistik und der
Merkantilismus im ersten mühevollen, freilich oft recht oberflächlichen
Sammeln der Tatsachen, in Beschreibungen von Holland, England und
anderen Staaten; endlose Encyklopädien und Sammelwerke entstanden;
diese ältere Richtung konnte sich nicht genug des Materials erfreuen
und endete zuletzt in gedankenloser Polyhistorie. Die Naturlehre der
Volkswirtschaft war dem gegenüber eine Erlösung; sie stellte einen
vorläufigen Versuch der rationalen Bemeisterung des toten Stoffes dar;
für einige Menschenalter trat das Beobachten und Beschreiben zurück;
die Dinge für zu einfach haltend, glaubte man in der allgemeinen
Menschennatur den Schlüssel gefunden zu haben, der direkter und
müheloser zum Heiligtum der Erkenntnis führe, als die langweilige,
zeitraubende Empirie. Den Rückschlag gegen diese Einseitigkeit stellt
unsere Epoche dar. Wie man in England den Schlagworten Angebot
und Nachfrage nicht mehr allein glaubte, sondern in endlosen Enqueten
vor jedem Urteil über die Dinge die Tatsachen festzustellen sich be-
mühte, wie die Franzosen in Le Play einen neuen Apostel der Empirie
fanden, so hat vor allem die deutsche nationalökonomische Wissen-
schaft, die aus der Epoche der Kameralistik stets lebendigen Sinn für

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[34/0038] Größe, nach Ursache und Folge ausreichenden Beschreibung vor allem die Fähigkeit gehört, die Tausende von Einzeldaten zusammenzufassen, zu komprimieren; es handelt sich um die Fähigkeit, das analytisch im einzelnen Festgestellte in einer vollendeten Synthese zusammenzufas- sen. Eine vollendete Beschreibung setzt einen vollendeten Sachkenner voraus, der zugleich als vollendeter Künstler mit kurzen Strichen, mit plastischer Anschaulichkeit und doch ganz wahrheitsgetreu zu schildern weiß. Je einfacher die Gegenstände einer Disziplin sind, eine desto geringere Rolle spielt in der betreffenden Wissenschaft die Beschreibung; die Erscheinungen sind typisch, wiederholen sich so gleichmäßig, daß Be- schreibungen der verschiedenen Exemplare derselben Art nicht nötig sind. Das gilt auch für die elementaren volkswirtschaftlichen Vorgänge, wie Preisschwankungen; da kann ein Beispiel genügen. Alles Kom- pliziertere hat seinen individuellen eigentümlichen Charakter, die Be- schreibung der einen Hausindustrie macht die der anderen nicht über- flüssig. In den komplizierteren Wissensgebieten hat daher stets mit dem Siege strenger Wissenschaftlichkeit die Beschreibung, der deskrip- tive Teil sich einen eigentümlichen selbständigen Platz erobert; einzeln Hilfsmittel und Arten der Beobachtung, der Tatsachensammlung und Beschreibung, wie z. B. die Mikroskopie und Statistik wurden zu be- sonderen Wissenschaften. Auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und speziell der Volkswirt- schaftslehre beobachten wir seit ihrer höheren Ausbildung zwei An- läufe nach dieser Richtung. Erst erging sich die Kameralistik und der Merkantilismus im ersten mühevollen, freilich oft recht oberflächlichen Sammeln der Tatsachen, in Beschreibungen von Holland, England und anderen Staaten; endlose Encyklopädien und Sammelwerke entstanden; diese ältere Richtung konnte sich nicht genug des Materials erfreuen und endete zuletzt in gedankenloser Polyhistorie. Die Naturlehre der Volkswirtschaft war dem gegenüber eine Erlösung; sie stellte einen vorläufigen Versuch der rationalen Bemeisterung des toten Stoffes dar; für einige Menschenalter trat das Beobachten und Beschreiben zurück; die Dinge für zu einfach haltend, glaubte man in der allgemeinen Menschennatur den Schlüssel gefunden zu haben, der direkter und müheloser zum Heiligtum der Erkenntnis führe, als die langweilige, zeitraubende Empirie. Den Rückschlag gegen diese Einseitigkeit stellt unsere Epoche dar. Wie man in England den Schlagworten Angebot und Nachfrage nicht mehr allein glaubte, sondern in endlosen Enqueten vor jedem Urteil über die Dinge die Tatsachen festzustellen sich be- mühte, wie die Franzosen in Le Play einen neuen Apostel der Empirie fanden, so hat vor allem die deutsche nationalökonomische Wissen- schaft, die aus der Epoche der Kameralistik stets lebendigen Sinn für

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/38>, abgerufen am 19.04.2024.