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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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bare vom Unbrauchbaren zu sondern, aus der großen Masse des Be-
obachtungsmaterials, das uns die Presse, gesammelte Beschreibungen,
andere Wissenschaften darbieten, die richtige Auswahl zu treffen ge-
lernt haben.

Aber immer bleibt die Beobachtung der volkswirtschaftlichen Tatsachen
eine schwierige, von Fehlern um so leichter getrübte Operation, je
größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erscheinung ist. Die
an sich berechtigte Vorschrift, jeden zu untersuchenden Vorgang in
seine kleinsten Teile aufzulösen, diese für sich zu beobachten und aus
den gesammelten Beobachtungen erst ein Gesamtergebnis zusammen-
zusetzen, ist nur unter besonders günstigen Umständen restlos durch-
zuführen. In der Regel handelt es sich darum, aus gewissen, an einem
Vorgange festgestellten sicheren Daten die übrigen nicht oder nicht
genügend beobachteten schließend zu ergänzen und so sich ein Bild
von dem Ganzen desselben zu machen; das geschieht unter dem Ein-
flusse gewisser Gesamteindrücke durch einen produktiven Akt der
Phantasie, der irren kann, wenn nicht reiche Begabung und Schulung
den Geist auf die rechte Bahn lenken. Dabei ist, wenn es sich um die
weitere Verwertung des Beobachteten handelt, nie zu vergessen, wie
verschieden zunächst psychologisch das Erfahrungsmaterial wirkt, das
man selbst dem Leben abgelauscht, und jenes, welches man aus der
Hand Dritter empfängt. Das erstere hat stets Farbe, Leben, die volle
Deutlichkeit der Anschauung; es erscheint stets größer, wirkt kräftiger,
ist aber dem Umfange nach bei Gelehrten doch in der Regel das
beschränktere. Das andere aus Büchern, Nachrichten, Erzählungen
stammende stellt, je weniger der Aufnehmende eine produktive Phan-
tasie besitzt, desto mehr nur verblaßte Bilder, Schemen, ja bloße Na-
men und Begriffe dar, zu denen die Anschauung fehlt. Nur eine plan-
volle, mit Absicht stets sich wiederholende Anstrengung kann es dahin
bringen, daß das lebendige und das verblaßte Material sich zu ganz
gleichwertigen Stücken und damit zu einem der Wirklichkeit ent-
sprechenden Gesamtresultate verbindet.

Es wird sich jedem aufmerksamen Leser volkswirtschaftlicher Schriften
sofort die Erkenntnis eröffnen, ob und inwieweit sie auf guter oder
schlechter Beobachtung beruhen, ob selbständige eigene Beobachtung
oder die Benutzung der Beobachtung anderer im Vordergrunde steht,
ob sie auf Welt- und Menschenkenntnis oder auf Bücherkenntnis sich
aufbauen. A. Smith hat das wirtschaftliche Leben im kleinen gut be-
obachtet, im übrigen war er ein Stubengelehrter, der aber auch aus
abgeleitetem Material Bedeutsames zu machen wußte. Ricardo war ein
Mann ohne wissenschaftliche Bildung, aber mit reicher praktischer
Geschäftserfahrung. Wo im praktischen Leben geschulte Staatsmänner
und Geschäftsleute zugleich eine volle wissenschaftliche Bildung sich

bare vom Unbrauchbaren zu sondern, aus der großen Masse des Be-
obachtungsmaterials, das uns die Presse, gesammelte Beschreibungen,
andere Wissenschaften darbieten, die richtige Auswahl zu treffen ge-
lernt haben.

Aber immer bleibt die Beobachtung der volkswirtschaftlichen Tatsachen
eine schwierige, von Fehlern um so leichter getrübte Operation, je
größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erscheinung ist. Die
an sich berechtigte Vorschrift, jeden zu untersuchenden Vorgang in
seine kleinsten Teile aufzulösen, diese für sich zu beobachten und aus
den gesammelten Beobachtungen erst ein Gesamtergebnis zusammen-
zusetzen, ist nur unter besonders günstigen Umständen restlos durch-
zuführen. In der Regel handelt es sich darum, aus gewissen, an einem
Vorgange festgestellten sicheren Daten die übrigen nicht oder nicht
genügend beobachteten schließend zu ergänzen und so sich ein Bild
von dem Ganzen desselben zu machen; das geschieht unter dem Ein-
flusse gewisser Gesamteindrücke durch einen produktiven Akt der
Phantasie, der irren kann, wenn nicht reiche Begabung und Schulung
den Geist auf die rechte Bahn lenken. Dabei ist, wenn es sich um die
weitere Verwertung des Beobachteten handelt, nie zu vergessen, wie
verschieden zunächst psychologisch das Erfahrungsmaterial wirkt, das
man selbst dem Leben abgelauscht, und jenes, welches man aus der
Hand Dritter empfängt. Das erstere hat stets Farbe, Leben, die volle
Deutlichkeit der Anschauung; es erscheint stets größer, wirkt kräftiger,
ist aber dem Umfange nach bei Gelehrten doch in der Regel das
beschränktere. Das andere aus Büchern, Nachrichten, Erzählungen
stammende stellt, je weniger der Aufnehmende eine produktive Phan-
tasie besitzt, desto mehr nur verblaßte Bilder, Schemen, ja bloße Na-
men und Begriffe dar, zu denen die Anschauung fehlt. Nur eine plan-
volle, mit Absicht stets sich wiederholende Anstrengung kann es dahin
bringen, daß das lebendige und das verblaßte Material sich zu ganz
gleichwertigen Stücken und damit zu einem der Wirklichkeit ent-
sprechenden Gesamtresultate verbindet.

Es wird sich jedem aufmerksamen Leser volkswirtschaftlicher Schriften
sofort die Erkenntnis eröffnen, ob und inwieweit sie auf guter oder
schlechter Beobachtung beruhen, ob selbständige eigene Beobachtung
oder die Benutzung der Beobachtung anderer im Vordergrunde steht,
ob sie auf Welt- und Menschenkenntnis oder auf Bücherkenntnis sich
aufbauen. A. Smith hat das wirtschaftliche Leben im kleinen gut be-
obachtet, im übrigen war er ein Stubengelehrter, der aber auch aus
abgeleitetem Material Bedeutsames zu machen wußte. Ricardo war ein
Mann ohne wissenschaftliche Bildung, aber mit reicher praktischer
Geschäftserfahrung. Wo im praktischen Leben geschulte Staatsmänner
und Geschäftsleute zugleich eine volle wissenschaftliche Bildung sich

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[32/0036] bare vom Unbrauchbaren zu sondern, aus der großen Masse des Be- obachtungsmaterials, das uns die Presse, gesammelte Beschreibungen, andere Wissenschaften darbieten, die richtige Auswahl zu treffen ge- lernt haben. Aber immer bleibt die Beobachtung der volkswirtschaftlichen Tatsachen eine schwierige, von Fehlern um so leichter getrübte Operation, je größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erscheinung ist. Die an sich berechtigte Vorschrift, jeden zu untersuchenden Vorgang in seine kleinsten Teile aufzulösen, diese für sich zu beobachten und aus den gesammelten Beobachtungen erst ein Gesamtergebnis zusammen- zusetzen, ist nur unter besonders günstigen Umständen restlos durch- zuführen. In der Regel handelt es sich darum, aus gewissen, an einem Vorgange festgestellten sicheren Daten die übrigen nicht oder nicht genügend beobachteten schließend zu ergänzen und so sich ein Bild von dem Ganzen desselben zu machen; das geschieht unter dem Ein- flusse gewisser Gesamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantasie, der irren kann, wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geist auf die rechte Bahn lenken. Dabei ist, wenn es sich um die weitere Verwertung des Beobachteten handelt, nie zu vergessen, wie verschieden zunächst psychologisch das Erfahrungsmaterial wirkt, das man selbst dem Leben abgelauscht, und jenes, welches man aus der Hand Dritter empfängt. Das erstere hat stets Farbe, Leben, die volle Deutlichkeit der Anschauung; es erscheint stets größer, wirkt kräftiger, ist aber dem Umfange nach bei Gelehrten doch in der Regel das beschränktere. Das andere aus Büchern, Nachrichten, Erzählungen stammende stellt, je weniger der Aufnehmende eine produktive Phan- tasie besitzt, desto mehr nur verblaßte Bilder, Schemen, ja bloße Na- men und Begriffe dar, zu denen die Anschauung fehlt. Nur eine plan- volle, mit Absicht stets sich wiederholende Anstrengung kann es dahin bringen, daß das lebendige und das verblaßte Material sich zu ganz gleichwertigen Stücken und damit zu einem der Wirklichkeit ent- sprechenden Gesamtresultate verbindet. Es wird sich jedem aufmerksamen Leser volkswirtschaftlicher Schriften sofort die Erkenntnis eröffnen, ob und inwieweit sie auf guter oder schlechter Beobachtung beruhen, ob selbständige eigene Beobachtung oder die Benutzung der Beobachtung anderer im Vordergrunde steht, ob sie auf Welt- und Menschenkenntnis oder auf Bücherkenntnis sich aufbauen. A. Smith hat das wirtschaftliche Leben im kleinen gut be- obachtet, im übrigen war er ein Stubengelehrter, der aber auch aus abgeleitetem Material Bedeutsames zu machen wußte. Ricardo war ein Mann ohne wissenschaftliche Bildung, aber mit reicher praktischer Geschäftserfahrung. Wo im praktischen Leben geschulte Staatsmänner und Geschäftsleute zugleich eine volle wissenschaftliche Bildung sich

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/36>, abgerufen am 16.04.2024.