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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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wird, steht dahin; vielleicht ändert sich dann auch der Sprachgebrauch.
Und zu dieser freien Verbindung durch Arbeitsteilung und Verkehr
kommt die rechtliche und organisatorische durch ein einheitliches wirt-
schaftliches Recht und staatliche Wirtschaftseinrichtungen: eine ein-
heitliche Handels-, Gewerbe- und Agrarpolitik, eine einheitliche Steuer-,
Zoll- und Finanzverfassung, ein staatliches Geld- und Kreditsystem,
ein staatliches und kommunales Schuldenwesen, ein staatliches Heer-,
Schul-, Erziehungs- und Armenwesen, ein staatliches Verkehrswesen
mit Eisenbahnen, Kanälen, Dampferlinien, staatliche Kolonien und
internationale Verträge -- alle diese Einrichtungen beherrschen heute
jede Einzelwirtschaft in einer Weise wie niemals früher, machen aus
ihr ein abhängiges Glied der "Volkswirtschaft".

So werden wir die Volkswirtschaft definieren können als den einheit-
lichen Inbegriff der in einem Staate vorhandenen, teils neben-, teils
übereinander stehenden und aufeinander angewiesenen Einzel- und
Korporationswirtschaften, einschließlich der staatlichen Finanzwirt-
schaft; wir sehen diesen Inbegriff als das einheitliche System der wirt-
schaftlich-sozialen Veranstaltungen und Einrichtungen des Volkes an;
wir betrachten das System insofern als ein einheitliches reales Ganzes
trotz der Selbständigkeit der Teile, als es von einheitlichen psychischen
und materiellen Ursachen beherrscht wird, als seine sämtlichen Teile
in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Organe nach-
weisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben, als die Gesamterscheinung
jeder Volkswirtschaft, wie die jedes anderen individuellen Wesens, trotz
des steten Wechsels der Teile für unsere Vorstellung im wesentlichen
unverändert fortdauert, als wir alle Veränderungen derselben Volks-
wirtschaft unter der Vorstellung der Entwickelung desselben Wesens
begreifen1.

Indem die Volkswirtschaft sich in den letzten zwei Jahrhunderten als
ein relativ selbständiges System von Einrichtungen und Veranstaltun-
gen entwickelte, teilweise eigene Organe mit selbständigen Interessen
erhielt, wurde sie für die Vorstellungen der Menschen mit Recht ein
selbständiges, von Staat, Kirche und anderen sozialen Kreisen und
menschlichen Lebensgebieten sich loslösendes System des individuellen
und gesellschaftlichen Handelns, wobei freilich nie zu vergessen ist,
daß diese Loslösung mehr in Gedanken als in der Realität vollzogen
ist. Die in der Volkswirtschaft handelnden Kräfte sind dieselben, die
die anderen Kulturzwecke verfolgen, den Staat, die Kirche bilden, die
gesellschaftlichen Kreise ausmachen, als Träger von Moral, Sitte und
Recht auftreten; eine große Zahl von Organen, wie Familie, Gemeinde,
Staatsgewalt, dient anderen Zwecken ebenso wie wirtschaftlichen. Die
Volkswirtschaft bleibt stets ein integrierender Teilinhalt des ganzen
gesellschaftlichen Lebens. Zu ihren Veranstaltungen gehört jetzt der

wird, steht dahin; vielleicht ändert sich dann auch der Sprachgebrauch.
Und zu dieser freien Verbindung durch Arbeitsteilung und Verkehr
kommt die rechtliche und organisatorische durch ein einheitliches wirt-
schaftliches Recht und staatliche Wirtschaftseinrichtungen: eine ein-
heitliche Handels-, Gewerbe- und Agrarpolitik, eine einheitliche Steuer-,
Zoll- und Finanzverfassung, ein staatliches Geld- und Kreditsystem,
ein staatliches und kommunales Schuldenwesen, ein staatliches Heer-,
Schul-, Erziehungs- und Armenwesen, ein staatliches Verkehrswesen
mit Eisenbahnen, Kanälen, Dampferlinien, staatliche Kolonien und
internationale Verträge — alle diese Einrichtungen beherrschen heute
jede Einzelwirtschaft in einer Weise wie niemals früher, machen aus
ihr ein abhängiges Glied der „Volkswirtschaft“.

So werden wir die Volkswirtschaft definieren können als den einheit-
lichen Inbegriff der in einem Staate vorhandenen, teils neben-, teils
übereinander stehenden und aufeinander angewiesenen Einzel- und
Korporationswirtschaften, einschließlich der staatlichen Finanzwirt-
schaft; wir sehen diesen Inbegriff als das einheitliche System der wirt-
schaftlich-sozialen Veranstaltungen und Einrichtungen des Volkes an;
wir betrachten das System insofern als ein einheitliches reales Ganzes
trotz der Selbständigkeit der Teile, als es von einheitlichen psychischen
und materiellen Ursachen beherrscht wird, als seine sämtlichen Teile
in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Organe nach-
weisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben, als die Gesamterscheinung
jeder Volkswirtschaft, wie die jedes anderen individuellen Wesens, trotz
des steten Wechsels der Teile für unsere Vorstellung im wesentlichen
unverändert fortdauert, als wir alle Veränderungen derselben Volks-
wirtschaft unter der Vorstellung der Entwickelung desselben Wesens
begreifen1.

Indem die Volkswirtschaft sich in den letzten zwei Jahrhunderten als
ein relativ selbständiges System von Einrichtungen und Veranstaltun-
gen entwickelte, teilweise eigene Organe mit selbständigen Interessen
erhielt, wurde sie für die Vorstellungen der Menschen mit Recht ein
selbständiges, von Staat, Kirche und anderen sozialen Kreisen und
menschlichen Lebensgebieten sich loslösendes System des individuellen
und gesellschaftlichen Handelns, wobei freilich nie zu vergessen ist,
daß diese Loslösung mehr in Gedanken als in der Realität vollzogen
ist. Die in der Volkswirtschaft handelnden Kräfte sind dieselben, die
die anderen Kulturzwecke verfolgen, den Staat, die Kirche bilden, die
gesellschaftlichen Kreise ausmachen, als Träger von Moral, Sitte und
Recht auftreten; eine große Zahl von Organen, wie Familie, Gemeinde,
Staatsgewalt, dient anderen Zwecken ebenso wie wirtschaftlichen. Die
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[12/0016] wird, steht dahin; vielleicht ändert sich dann auch der Sprachgebrauch. Und zu dieser freien Verbindung durch Arbeitsteilung und Verkehr kommt die rechtliche und organisatorische durch ein einheitliches wirt- schaftliches Recht und staatliche Wirtschaftseinrichtungen: eine ein- heitliche Handels-, Gewerbe- und Agrarpolitik, eine einheitliche Steuer-, Zoll- und Finanzverfassung, ein staatliches Geld- und Kreditsystem, ein staatliches und kommunales Schuldenwesen, ein staatliches Heer-, Schul-, Erziehungs- und Armenwesen, ein staatliches Verkehrswesen mit Eisenbahnen, Kanälen, Dampferlinien, staatliche Kolonien und internationale Verträge — alle diese Einrichtungen beherrschen heute jede Einzelwirtschaft in einer Weise wie niemals früher, machen aus ihr ein abhängiges Glied der „Volkswirtschaft“. So werden wir die Volkswirtschaft definieren können als den einheit- lichen Inbegriff der in einem Staate vorhandenen, teils neben-, teils übereinander stehenden und aufeinander angewiesenen Einzel- und Korporationswirtschaften, einschließlich der staatlichen Finanzwirt- schaft; wir sehen diesen Inbegriff als das einheitliche System der wirt- schaftlich-sozialen Veranstaltungen und Einrichtungen des Volkes an; wir betrachten das System insofern als ein einheitliches reales Ganzes trotz der Selbständigkeit der Teile, als es von einheitlichen psychischen und materiellen Ursachen beherrscht wird, als seine sämtlichen Teile in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Organe nach- weisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben, als die Gesamterscheinung jeder Volkswirtschaft, wie die jedes anderen individuellen Wesens, trotz des steten Wechsels der Teile für unsere Vorstellung im wesentlichen unverändert fortdauert, als wir alle Veränderungen derselben Volks- wirtschaft unter der Vorstellung der Entwickelung desselben Wesens begreifen1. Indem die Volkswirtschaft sich in den letzten zwei Jahrhunderten als ein relativ selbständiges System von Einrichtungen und Veranstaltun- gen entwickelte, teilweise eigene Organe mit selbständigen Interessen erhielt, wurde sie für die Vorstellungen der Menschen mit Recht ein selbständiges, von Staat, Kirche und anderen sozialen Kreisen und menschlichen Lebensgebieten sich loslösendes System des individuellen und gesellschaftlichen Handelns, wobei freilich nie zu vergessen ist, daß diese Loslösung mehr in Gedanken als in der Realität vollzogen ist. Die in der Volkswirtschaft handelnden Kräfte sind dieselben, die die anderen Kulturzwecke verfolgen, den Staat, die Kirche bilden, die gesellschaftlichen Kreise ausmachen, als Träger von Moral, Sitte und Recht auftreten; eine große Zahl von Organen, wie Familie, Gemeinde, Staatsgewalt, dient anderen Zwecken ebenso wie wirtschaftlichen. Die Volkswirtschaft bleibt stets ein integrierender Teilinhalt des ganzen gesellschaftlichen Lebens. Zu ihren Veranstaltungen gehört jetzt der

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/16>, abgerufen am 28.03.2024.