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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
nachher von der Methode der Volkswirtschaft und den neueren Versuchen zu reden, auf
Grund tieferer Forschung ein wirklich wissenschaftliches Gebäude derselben zu errichten.

Es erklärt sich aus der Natur dieser Litteratur, daß ihre Träger nur teilweise
Gelehrte des Faches sind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforscher,
Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien sind häufig
messiasartige Persönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um sich sammeln, die einen
halb mystischen Glauben an bestimmte Formeln und politische Rezepte haben. Es fehlen
unter ihnen nicht die marktschreierischen und agitatorischen Elemente, ebensowenig aber
die edelsten Idealisten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit
erfassen als mit umfassender Gelehrsamkeit und nüchternem Scharfsinn die Erscheinungen
untersuchen. Große Kenner des Lebens sind darunter wie Stubengelehrte, die kühne
Gebäude aus den unvollständigen Elementen unseres Wissens zimmern. Immer aber sind
die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder gewesen auf dem dornenvollen Wege
der Neugestaltung; sie haben der Gesellschaft eine praktische Leuchte vorangetragen, die,
wenn sie nicht die ganze Zukunft, so doch partielle Wege derselben aufhellte.

38. Das Naturrecht. Die sogenannte natürliche Religionslehre, das Natur-
recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Gesellschaft, sowie die natürliche
Pädagogik sind Früchte desselben Baumes, sie gehören alle derselben großen geistigen
Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entsprang, im 17. und 18. als Aufklärung
vorherrschte. Aus dem gehässigen Kampfe der Konfessionen und Sekten, der Religions-
kriege entsprang die Sehnsucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Wesen
des natürlichen, von Gott mit gewissen Gaben ausgestatteten Menschen abgeleitet, alle
Völker und Rassen, alle christlichen Konfessionen unter Zurückdrängung der Dogmen und
der mit der natürlichen Vernunft im Widerspruch stehenden Glaubenselemente einigen
könnte. Geläuterte christliche Empfindungen und stoische Traditionen verbanden sich zu
jenem universal-religiösen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener
natürlichen Religion, welche die edelsten Geister jener Zeit einte: Erasmus,
Sebastian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza,
Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten
sich diesem Gedankenkreise stark genähert; letzterer mit seiner Theorie, daß dem
Menschen ein natürliches Licht mitgegeben sei, in dem die wichtigsten theoretischen und
praktischen Wahrheiten enthalten seien; gewisse notitae, sagt er, hauptsächlich die Grund-
lagen der Ethik, der Staats- und Rechtslehre seien dem Menschen von Gott eingepflanzt,
stünden mit dem göttlichen Denken in Übereinstimmung. Von da war es nur ein kleiner
Schritt zu der Annahme, die menschliche Vernunft habe an sich das Vermögen, die
religiös-moralischen Wahrheiten zu erkennen, wie sie Herbert von Cherbury für die
Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgesetz für die sittlichen Ordnungen an-
nahm. In der Übereinstimmung der Völker und in der Analyse der menschlichen Natur
findet Hugo Grotius die Wege, zu diesen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der
neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberste logisch-mathematische Principien steigerte
das stolze Bewußtsein der Autonomie des menschlichen Intellektes, und man war rasch
bereit, in ähnlicher Weise oberste Sätze als mit dem Wesen Gottes, der Vernunft und
der menschlichen Natur, welche drei Begriffe man in stoischer Weise identifizierte, als
gegeben anzunehmen; sie erschienen nun tauglich zu einer Konstruktion der natürlichen
Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Gesellschaftsverfassung.

Das sogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptsächlich in Bodinus
(De la republique 1577), Joh. Althusius (Politica 1603), Hugo Grotius (De jure belli et
pacis 1625)
, Hobbes (Leviathan 1651), Pufendorf (De jure naturae et gentium 1672),
Locke (Two treatises on government 1689), Christian Wolf (Jus naturae 1740) entgegen-
tritt, will die gesamte staatswissenschaftliche, rechtliche und volkswirtschaftliche Erkenntnis
der Zeit systematisch darstellen: Völkerrecht, Verfassungsformen, Strafrecht, Privatrecht,
Finanzen, Eigentum, Geldwesen, Verkehr, Wert, Verträge sollen als überall wieder-
kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menschlichen Natur abgeleitet werden.
Ein ursprünglicher Naturzustand, ein Übergang desselben in die sogenannte bürgerliche

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, auf
Grund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten.

Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe
Gelehrte des Faches ſind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforſcher,
Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien ſind häufig
meſſiasartige Perſönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um ſich ſammeln, die einen
halb myſtiſchen Glauben an beſtimmte Formeln und politiſche Rezepte haben. Es fehlen
unter ihnen nicht die marktſchreieriſchen und agitatoriſchen Elemente, ebenſowenig aber
die edelſten Idealiſten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit
erfaſſen als mit umfaſſender Gelehrſamkeit und nüchternem Scharfſinn die Erſcheinungen
unterſuchen. Große Kenner des Lebens ſind darunter wie Stubengelehrte, die kühne
Gebäude aus den unvollſtändigen Elementen unſeres Wiſſens zimmern. Immer aber ſind
die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder geweſen auf dem dornenvollen Wege
der Neugeſtaltung; ſie haben der Geſellſchaft eine praktiſche Leuchte vorangetragen, die,
wenn ſie nicht die ganze Zukunft, ſo doch partielle Wege derſelben aufhellte.

38. Das Naturrecht. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur-
recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Geſellſchaft, ſowie die natürliche
Pädagogik ſind Früchte desſelben Baumes, ſie gehören alle derſelben großen geiſtigen
Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entſprang, im 17. und 18. als Aufklärung
vorherrſchte. Aus dem gehäſſigen Kampfe der Konfeſſionen und Sekten, der Religions-
kriege entſprang die Sehnſucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Weſen
des natürlichen, von Gott mit gewiſſen Gaben ausgeſtatteten Menſchen abgeleitet, alle
Völker und Raſſen, alle chriſtlichen Konfeſſionen unter Zurückdrängung der Dogmen und
der mit der natürlichen Vernunft im Widerſpruch ſtehenden Glaubenselemente einigen
könnte. Geläuterte chriſtliche Empfindungen und ſtoiſche Traditionen verbanden ſich zu
jenem univerſal-religiöſen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener
natürlichen Religion, welche die edelſten Geiſter jener Zeit einte: Erasmus,
Sebaſtian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza,
Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten
ſich dieſem Gedankenkreiſe ſtark genähert; letzterer mit ſeiner Theorie, daß dem
Menſchen ein natürliches Licht mitgegeben ſei, in dem die wichtigſten theoretiſchen und
praktiſchen Wahrheiten enthalten ſeien; gewiſſe notitae, ſagt er, hauptſächlich die Grund-
lagen der Ethik, der Staats- und Rechtslehre ſeien dem Menſchen von Gott eingepflanzt,
ſtünden mit dem göttlichen Denken in Übereinſtimmung. Von da war es nur ein kleiner
Schritt zu der Annahme, die menſchliche Vernunft habe an ſich das Vermögen, die
religiös-moraliſchen Wahrheiten zu erkennen, wie ſie Herbert von Cherbury für die
Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgeſetz für die ſittlichen Ordnungen an-
nahm. In der Übereinſtimmung der Völker und in der Analyſe der menſchlichen Natur
findet Hugo Grotius die Wege, zu dieſen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der
neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberſte logiſch-mathematiſche Principien ſteigerte
das ſtolze Bewußtſein der Autonomie des menſchlichen Intellektes, und man war raſch
bereit, in ähnlicher Weiſe oberſte Sätze als mit dem Weſen Gottes, der Vernunft und
der menſchlichen Natur, welche drei Begriffe man in ſtoiſcher Weiſe identifizierte, als
gegeben anzunehmen; ſie erſchienen nun tauglich zu einer Konſtruktion der natürlichen
Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Geſellſchaftsverfaſſung.

Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus
(De la république 1577), Joh. Althuſius (Politica 1603), Hugo Grotius (De jure belli et
pacis 1625)
, Hobbes (Leviathan 1651), Pufendorf (De jure naturae et gentium 1672),
Locke (Two treatises on government 1689), Chriſtian Wolf (Jus naturae 1740) entgegen-
tritt, will die geſamte ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche und volkswirtſchaftliche Erkenntnis
der Zeit ſyſtematiſch darſtellen: Völkerrecht, Verfaſſungsformen, Strafrecht, Privatrecht,
Finanzen, Eigentum, Geldweſen, Verkehr, Wert, Verträge ſollen als überall wieder-
kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menſchlichen Natur abgeleitet werden.
Ein urſprünglicher Naturzuſtand, ein Übergang desſelben in die ſogenannte bürgerliche

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[82/0098] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, auf Grund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten. Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe Gelehrte des Faches ſind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforſcher, Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien ſind häufig meſſiasartige Perſönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um ſich ſammeln, die einen halb myſtiſchen Glauben an beſtimmte Formeln und politiſche Rezepte haben. Es fehlen unter ihnen nicht die marktſchreieriſchen und agitatoriſchen Elemente, ebenſowenig aber die edelſten Idealiſten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit erfaſſen als mit umfaſſender Gelehrſamkeit und nüchternem Scharfſinn die Erſcheinungen unterſuchen. Große Kenner des Lebens ſind darunter wie Stubengelehrte, die kühne Gebäude aus den unvollſtändigen Elementen unſeres Wiſſens zimmern. Immer aber ſind die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder geweſen auf dem dornenvollen Wege der Neugeſtaltung; ſie haben der Geſellſchaft eine praktiſche Leuchte vorangetragen, die, wenn ſie nicht die ganze Zukunft, ſo doch partielle Wege derſelben aufhellte. 38. Das Naturrecht. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur- recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Geſellſchaft, ſowie die natürliche Pädagogik ſind Früchte desſelben Baumes, ſie gehören alle derſelben großen geiſtigen Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entſprang, im 17. und 18. als Aufklärung vorherrſchte. Aus dem gehäſſigen Kampfe der Konfeſſionen und Sekten, der Religions- kriege entſprang die Sehnſucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Weſen des natürlichen, von Gott mit gewiſſen Gaben ausgeſtatteten Menſchen abgeleitet, alle Völker und Raſſen, alle chriſtlichen Konfeſſionen unter Zurückdrängung der Dogmen und der mit der natürlichen Vernunft im Widerſpruch ſtehenden Glaubenselemente einigen könnte. Geläuterte chriſtliche Empfindungen und ſtoiſche Traditionen verbanden ſich zu jenem univerſal-religiöſen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener natürlichen Religion, welche die edelſten Geiſter jener Zeit einte: Erasmus, Sebaſtian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza, Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten ſich dieſem Gedankenkreiſe ſtark genähert; letzterer mit ſeiner Theorie, daß dem Menſchen ein natürliches Licht mitgegeben ſei, in dem die wichtigſten theoretiſchen und praktiſchen Wahrheiten enthalten ſeien; gewiſſe notitae, ſagt er, hauptſächlich die Grund- lagen der Ethik, der Staats- und Rechtslehre ſeien dem Menſchen von Gott eingepflanzt, ſtünden mit dem göttlichen Denken in Übereinſtimmung. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, die menſchliche Vernunft habe an ſich das Vermögen, die religiös-moraliſchen Wahrheiten zu erkennen, wie ſie Herbert von Cherbury für die Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgeſetz für die ſittlichen Ordnungen an- nahm. In der Übereinſtimmung der Völker und in der Analyſe der menſchlichen Natur findet Hugo Grotius die Wege, zu dieſen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberſte logiſch-mathematiſche Principien ſteigerte das ſtolze Bewußtſein der Autonomie des menſchlichen Intellektes, und man war raſch bereit, in ähnlicher Weiſe oberſte Sätze als mit dem Weſen Gottes, der Vernunft und der menſchlichen Natur, welche drei Begriffe man in ſtoiſcher Weiſe identifizierte, als gegeben anzunehmen; ſie erſchienen nun tauglich zu einer Konſtruktion der natürlichen Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Geſellſchaftsverfaſſung. Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus (De la république 1577), Joh. Althuſius (Politica 1603), Hugo Grotius (De jure belli et pacis 1625), Hobbes (Leviathan 1651), Pufendorf (De jure naturae et gentium 1672), Locke (Two treatises on government 1689), Chriſtian Wolf (Jus naturae 1740) entgegen- tritt, will die geſamte ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche und volkswirtſchaftliche Erkenntnis der Zeit ſyſtematiſch darſtellen: Völkerrecht, Verfaſſungsformen, Strafrecht, Privatrecht, Finanzen, Eigentum, Geldweſen, Verkehr, Wert, Verträge ſollen als überall wieder- kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menſchlichen Natur abgeleitet werden. Ein urſprünglicher Naturzuſtand, ein Übergang desſelben in die ſogenannte bürgerliche

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/98>, abgerufen am 28.03.2024.