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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Einheit im Staate, nach logischer Durchbildung, nach der Herrschaft allgemeiner Ge-
danken strebt. Die Entstehung einer absichtlichen Gesetzgebung durch Volksbeschlüsse,
Königsbefehle, zuletzt durch einen besonderen komplizierten staatlichen Apparat, der auf
genau bestimmtem Zusammenwirken verschiedener Organe beruht, ist der wichtigste Schritt
in der Loslösung des Rechtes von der Sitte, in der Erhebung bestimmter Regeln des
socialen Zusammenlebens zu einer höheren Würde, Bedeutung und Wirksamkeit. Mit
dem Gesetzesrecht beginnt die absichtliche Regulierung des socialen Lebens durch das seiner
Kraft und seiner sittlichen Macht bewußt gewordene Recht. Freilich will auch das Gesetz
oft nur Bestehendes genauer fixieren und durchführen, aber ebenso oft will es Neues
anordnen, will es für die Mehrzahl einführen, was nur wenige bisher gethan. Erst
das bewußte Gesetzesrecht kann die reale gesellschaftliche Welt als Willensmacht nach
gewissen Idealen gestalten. Je kühner es freilich vordringt, desto zweifelhafter ist es,
ob die neue Regel sich behauptet, in die Sitten übergeht, ob die hinter dem Recht
stehende Macht allen Widerstand brechen kann.

Das Recht auf dieser Kulturstufe können wir definieren als denjenigen Teil der
auf das äußere sociale Leben gerichteten sittlichen Lebensordnung, welcher zur Macht
geworden, auf die politische Gewalt des Staates gestützt, durch Feststellung der Grenz-
verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens und durch Vorschriften über das Zusammen-
wirken zu gemeinsamem Zwecke die wichtigste Vorbedingung für einen friedlichen und
gesitteten, fortschreitenden Kulturzustand schaffen will. Dieses Recht muß die älteren
Formen, die Symbole, die poetische Sprache abgestreift haben; sein Zweck ist, daß stets
der gleiche Satz auf den gleichen Fall angewandt werde. Dazu bedarf es der verstandes-
mäßigen, logischen Durchbildung, der Ordnung, der sprachlichen Präcisierung, der
gesicherten Überlieferung, der wissenschaftlichen Behandlung, der Zurückführung auf
oberste Principien. Es muß die Anwendung des bestehenden Rechtes durch Richter und
Behörden sich trennen von der Neuschaffung des Rechtes durch die Staatsgewalt. Es
muß alles Willkürliche aus den Rechtsentscheidungen weichen. Der Einfluß der Mäch-
tigen und der oberen Klassen soll durch Gerichtsorganisation und Öffentlichkeit möglichst
beschränkt werden. Die Sicherheit der gerechten, gleichförmigen Anwendung des Rechtes
bleibt das oberste Ziel. Deshalb sind für alles feste, klare, formale Vorschriften nötig.
Feste Termine über Fristen, Verjährung, Altersgrenzen werden notwendig, auch wenn
sie im einzelnen Fall oft nicht passen, weil sie allein gerechte, immer gleiche Anwendung
garantieren. Die feste Form des Rechtes muß oft über die Sache, über die materielle
Gerechtigkeit gestellt werden, weil sie allein die gleiche Durchführung garantiert. Und
so sehr man sich bemüht hat, die Maßstäbe, die das Recht anwendet, zu verfeinern, es
Zwecken und Verhältnissen anzupassen, auf die es sich früher nicht erstreckte, wie z. B.
auf die Gewalthandlungen der Staatsbehörden, es muß seiner Natur nach ein sprödes,
starres System von Lebensregeln bleiben, die, auf den Durchschnitt gegründet, immer
nach rechts und links hin leicht unpassend werden; das formale Recht muß dem
Leben oft Zwang anthun, es kann nicht alle Forderungen der Sittlichkeit durch-
führen, es muß, auf falsche Gebiete angewandt, ein Prokrustesbett bilden, das Wunden
schlägt. Der zu komplizierte Rechtssatz wird leicht, weil er Gefahr leidet, ungleich
angewandt zu werden, zur harten Ungerechtigkeit. Auch dadurch, daß das positive Recht
dem Flusse steter Umbildung und Anpassung an neue reale Verhältnisse mehr entzogen
ist als Sitte und Moral, muß die Anwendung oft als Härte erscheinen. Geschaffen als
Grenzwälle, um Streit zu vermeiden, geben die Rechtssätze Individuen und Gemein-
schaften hinter ihrem Wall einen freieren Spielraum des Handelns und Wirkens in dem
Maße, als sie die Übergriffe über die Grenze verbieten und hindern; eben dadurch aber
liegt es in ihrer Natur, daß sie einerseits die individuelle Ausbildung, die persönliche
Freiheit, die freie Bewegung des einzelnen auf dem Boden seines Eigentums, seiner
Sonderrechte fördern, andererseits aber auch zu moralischem Unrecht Anlaß geben; sie
erteilen in der Hauptsache immer mehr Befugnisse, als daß sie Pflichten auferlegen.
Die Moral betont die Pflicht in erster Linie, das Recht kann seiner Natur nach nur
die gröbsten Pflichten erzwingen, im übrigen betont es die freie Thätigkeit des einzelnen,

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Einheit im Staate, nach logiſcher Durchbildung, nach der Herrſchaft allgemeiner Ge-
danken ſtrebt. Die Entſtehung einer abſichtlichen Geſetzgebung durch Volksbeſchlüſſe,
Königsbefehle, zuletzt durch einen beſonderen komplizierten ſtaatlichen Apparat, der auf
genau beſtimmtem Zuſammenwirken verſchiedener Organe beruht, iſt der wichtigſte Schritt
in der Loslöſung des Rechtes von der Sitte, in der Erhebung beſtimmter Regeln des
ſocialen Zuſammenlebens zu einer höheren Würde, Bedeutung und Wirkſamkeit. Mit
dem Geſetzesrecht beginnt die abſichtliche Regulierung des ſocialen Lebens durch das ſeiner
Kraft und ſeiner ſittlichen Macht bewußt gewordene Recht. Freilich will auch das Geſetz
oft nur Beſtehendes genauer fixieren und durchführen, aber ebenſo oft will es Neues
anordnen, will es für die Mehrzahl einführen, was nur wenige bisher gethan. Erſt
das bewußte Geſetzesrecht kann die reale geſellſchaftliche Welt als Willensmacht nach
gewiſſen Idealen geſtalten. Je kühner es freilich vordringt, deſto zweifelhafter iſt es,
ob die neue Regel ſich behauptet, in die Sitten übergeht, ob die hinter dem Recht
ſtehende Macht allen Widerſtand brechen kann.

Das Recht auf dieſer Kulturſtufe können wir definieren als denjenigen Teil der
auf das äußere ſociale Leben gerichteten ſittlichen Lebensordnung, welcher zur Macht
geworden, auf die politiſche Gewalt des Staates geſtützt, durch Feſtſtellung der Grenz-
verhältniſſe des geſellſchaftlichen Lebens und durch Vorſchriften über das Zuſammen-
wirken zu gemeinſamem Zwecke die wichtigſte Vorbedingung für einen friedlichen und
geſitteten, fortſchreitenden Kulturzuſtand ſchaffen will. Dieſes Recht muß die älteren
Formen, die Symbole, die poetiſche Sprache abgeſtreift haben; ſein Zweck iſt, daß ſtets
der gleiche Satz auf den gleichen Fall angewandt werde. Dazu bedarf es der verſtandes-
mäßigen, logiſchen Durchbildung, der Ordnung, der ſprachlichen Präciſierung, der
geſicherten Überlieferung, der wiſſenſchaftlichen Behandlung, der Zurückführung auf
oberſte Principien. Es muß die Anwendung des beſtehenden Rechtes durch Richter und
Behörden ſich trennen von der Neuſchaffung des Rechtes durch die Staatsgewalt. Es
muß alles Willkürliche aus den Rechtsentſcheidungen weichen. Der Einfluß der Mäch-
tigen und der oberen Klaſſen ſoll durch Gerichtsorganiſation und Öffentlichkeit möglichſt
beſchränkt werden. Die Sicherheit der gerechten, gleichförmigen Anwendung des Rechtes
bleibt das oberſte Ziel. Deshalb ſind für alles feſte, klare, formale Vorſchriften nötig.
Feſte Termine über Friſten, Verjährung, Altersgrenzen werden notwendig, auch wenn
ſie im einzelnen Fall oft nicht paſſen, weil ſie allein gerechte, immer gleiche Anwendung
garantieren. Die feſte Form des Rechtes muß oft über die Sache, über die materielle
Gerechtigkeit geſtellt werden, weil ſie allein die gleiche Durchführung garantiert. Und
ſo ſehr man ſich bemüht hat, die Maßſtäbe, die das Recht anwendet, zu verfeinern, es
Zwecken und Verhältniſſen anzupaſſen, auf die es ſich früher nicht erſtreckte, wie z. B.
auf die Gewalthandlungen der Staatsbehörden, es muß ſeiner Natur nach ein ſprödes,
ſtarres Syſtem von Lebensregeln bleiben, die, auf den Durchſchnitt gegründet, immer
nach rechts und links hin leicht unpaſſend werden; das formale Recht muß dem
Leben oft Zwang anthun, es kann nicht alle Forderungen der Sittlichkeit durch-
führen, es muß, auf falſche Gebiete angewandt, ein Prokruſtesbett bilden, das Wunden
ſchlägt. Der zu komplizierte Rechtsſatz wird leicht, weil er Gefahr leidet, ungleich
angewandt zu werden, zur harten Ungerechtigkeit. Auch dadurch, daß das poſitive Recht
dem Fluſſe ſteter Umbildung und Anpaſſung an neue reale Verhältniſſe mehr entzogen
iſt als Sitte und Moral, muß die Anwendung oft als Härte erſcheinen. Geſchaffen als
Grenzwälle, um Streit zu vermeiden, geben die Rechtsſätze Individuen und Gemein-
ſchaften hinter ihrem Wall einen freieren Spielraum des Handelns und Wirkens in dem
Maße, als ſie die Übergriffe über die Grenze verbieten und hindern; eben dadurch aber
liegt es in ihrer Natur, daß ſie einerſeits die individuelle Ausbildung, die perſönliche
Freiheit, die freie Bewegung des einzelnen auf dem Boden ſeines Eigentums, ſeiner
Sonderrechte fördern, andererſeits aber auch zu moraliſchem Unrecht Anlaß geben; ſie
erteilen in der Hauptſache immer mehr Befugniſſe, als daß ſie Pflichten auferlegen.
Die Moral betont die Pflicht in erſter Linie, das Recht kann ſeiner Natur nach nur
die gröbſten Pflichten erzwingen, im übrigen betont es die freie Thätigkeit des einzelnen,

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[54/0070] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Einheit im Staate, nach logiſcher Durchbildung, nach der Herrſchaft allgemeiner Ge- danken ſtrebt. Die Entſtehung einer abſichtlichen Geſetzgebung durch Volksbeſchlüſſe, Königsbefehle, zuletzt durch einen beſonderen komplizierten ſtaatlichen Apparat, der auf genau beſtimmtem Zuſammenwirken verſchiedener Organe beruht, iſt der wichtigſte Schritt in der Loslöſung des Rechtes von der Sitte, in der Erhebung beſtimmter Regeln des ſocialen Zuſammenlebens zu einer höheren Würde, Bedeutung und Wirkſamkeit. Mit dem Geſetzesrecht beginnt die abſichtliche Regulierung des ſocialen Lebens durch das ſeiner Kraft und ſeiner ſittlichen Macht bewußt gewordene Recht. Freilich will auch das Geſetz oft nur Beſtehendes genauer fixieren und durchführen, aber ebenſo oft will es Neues anordnen, will es für die Mehrzahl einführen, was nur wenige bisher gethan. Erſt das bewußte Geſetzesrecht kann die reale geſellſchaftliche Welt als Willensmacht nach gewiſſen Idealen geſtalten. Je kühner es freilich vordringt, deſto zweifelhafter iſt es, ob die neue Regel ſich behauptet, in die Sitten übergeht, ob die hinter dem Recht ſtehende Macht allen Widerſtand brechen kann. Das Recht auf dieſer Kulturſtufe können wir definieren als denjenigen Teil der auf das äußere ſociale Leben gerichteten ſittlichen Lebensordnung, welcher zur Macht geworden, auf die politiſche Gewalt des Staates geſtützt, durch Feſtſtellung der Grenz- verhältniſſe des geſellſchaftlichen Lebens und durch Vorſchriften über das Zuſammen- wirken zu gemeinſamem Zwecke die wichtigſte Vorbedingung für einen friedlichen und geſitteten, fortſchreitenden Kulturzuſtand ſchaffen will. Dieſes Recht muß die älteren Formen, die Symbole, die poetiſche Sprache abgeſtreift haben; ſein Zweck iſt, daß ſtets der gleiche Satz auf den gleichen Fall angewandt werde. Dazu bedarf es der verſtandes- mäßigen, logiſchen Durchbildung, der Ordnung, der ſprachlichen Präciſierung, der geſicherten Überlieferung, der wiſſenſchaftlichen Behandlung, der Zurückführung auf oberſte Principien. Es muß die Anwendung des beſtehenden Rechtes durch Richter und Behörden ſich trennen von der Neuſchaffung des Rechtes durch die Staatsgewalt. Es muß alles Willkürliche aus den Rechtsentſcheidungen weichen. Der Einfluß der Mäch- tigen und der oberen Klaſſen ſoll durch Gerichtsorganiſation und Öffentlichkeit möglichſt beſchränkt werden. Die Sicherheit der gerechten, gleichförmigen Anwendung des Rechtes bleibt das oberſte Ziel. Deshalb ſind für alles feſte, klare, formale Vorſchriften nötig. Feſte Termine über Friſten, Verjährung, Altersgrenzen werden notwendig, auch wenn ſie im einzelnen Fall oft nicht paſſen, weil ſie allein gerechte, immer gleiche Anwendung garantieren. Die feſte Form des Rechtes muß oft über die Sache, über die materielle Gerechtigkeit geſtellt werden, weil ſie allein die gleiche Durchführung garantiert. Und ſo ſehr man ſich bemüht hat, die Maßſtäbe, die das Recht anwendet, zu verfeinern, es Zwecken und Verhältniſſen anzupaſſen, auf die es ſich früher nicht erſtreckte, wie z. B. auf die Gewalthandlungen der Staatsbehörden, es muß ſeiner Natur nach ein ſprödes, ſtarres Syſtem von Lebensregeln bleiben, die, auf den Durchſchnitt gegründet, immer nach rechts und links hin leicht unpaſſend werden; das formale Recht muß dem Leben oft Zwang anthun, es kann nicht alle Forderungen der Sittlichkeit durch- führen, es muß, auf falſche Gebiete angewandt, ein Prokruſtesbett bilden, das Wunden ſchlägt. Der zu komplizierte Rechtsſatz wird leicht, weil er Gefahr leidet, ungleich angewandt zu werden, zur harten Ungerechtigkeit. Auch dadurch, daß das poſitive Recht dem Fluſſe ſteter Umbildung und Anpaſſung an neue reale Verhältniſſe mehr entzogen iſt als Sitte und Moral, muß die Anwendung oft als Härte erſcheinen. Geſchaffen als Grenzwälle, um Streit zu vermeiden, geben die Rechtsſätze Individuen und Gemein- ſchaften hinter ihrem Wall einen freieren Spielraum des Handelns und Wirkens in dem Maße, als ſie die Übergriffe über die Grenze verbieten und hindern; eben dadurch aber liegt es in ihrer Natur, daß ſie einerſeits die individuelle Ausbildung, die perſönliche Freiheit, die freie Bewegung des einzelnen auf dem Boden ſeines Eigentums, ſeiner Sonderrechte fördern, andererſeits aber auch zu moraliſchem Unrecht Anlaß geben; ſie erteilen in der Hauptſache immer mehr Befugniſſe, als daß ſie Pflichten auferlegen. Die Moral betont die Pflicht in erſter Linie, das Recht kann ſeiner Natur nach nur die gröbſten Pflichten erzwingen, im übrigen betont es die freie Thätigkeit des einzelnen,

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/70>, abgerufen am 25.04.2024.