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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
räuberischen Profitwut anklagen. Da herrscht jene ruhelose Habsucht, von der Plinius
sagt, daß sie alles vernichtet habe, was dem Leben wahren Wert gegeben habe, jene
ungerechte Pleonexie, von der Aristoteles sagt, daß sie keine Grenzen kenne und die
größten Ungerechtigkeiten begehe, nur um mehr zu haben als andere. Wenn ein naiver
Materialismus in unseren Tagen jede Art des rücksichtslosen Erwerbstriebes als das
Schwungrad des Fortschrittes preist, so ist zwar zuzugeben, daß die großen wirtschaft-
lichen Anstrengungen und Leistungen unserer Kulturnationen nicht ohne einen starken, ja
rücksichtslosen Erwerbstrieb möglich wären. Aber ebenso sicher scheint uns zu sein, daß
die uberspannung des Erwerbstriebes bis zur Hartherzigkeit die socialen Beziehungen
vergiften, den Frieden in der Gesellschaft vernichten und durch die erzeugte Gehässigkeit
und sittliche Roheit, durch die entstehenden Kämpfe den vorhandenen Wohlstand unter-
graben und verschütten kann. Es ist daher die große Frage unserer Zeit, durch welche
sittliche Mittel und durch welche sociale Einrichtungen einerseits das Maß gesunden
Erwerbstriebes zu erhalten ist, ohne welches das wirtschaftliche Streben großer Gemein-
schaften (die berechtigte Selbstbehauptung), die Freiheit der Person und die Entwickelung
der Individualität nicht zu denken ist, und andererseits doch jene Habsucht und sociale
Ungerechtigkeit zu bannen wäre, die unsere sittliche wie unsere wirtschaftliche Existenz
bedrohen. Die Socialdemokratie glaubt, es sei nur zu helfen durch Ausrottung aller
Profitmacherei, sie hofft auf ein goldenes Zeitalter mit Menschen ohne Egoismus. Der
Historiker und Geograph wird daran erinnern, daß es mancherlei Volkstypen gebe,
wie z. B. die Madagassen, bei denen der Erwerbstrieb viel schamloser, ohne die bei
uns meist damit verbundene Energie und wirtschaftliche Thatkraft, rein als Geiz, als
Habgier, als bloßes Laster auftrete. Er wird daran erinnern, daß auch der Erwerbs-
trieb im späteren Rom und Athen schlimmer war, als bei uns, daß der germanische
Erwerbstrieb in Grenzen bleibt, den andere Rassen nicht kennen, daß manche Kultur-
nationen einen reellen anständigen Kaufmannsgeist, eine Kaufmannsehre kennen, die in
einer eigentümlichen Verknüpfung des Erwerbstriebes mit höheren Eigenschaften der Seele
und mit mancherlei Tugenden besteht. Er wird es also für möglich halten, daß der
Erwerbstrieb immer gereinigter auftrete, in einer komplizierteren Weise mit anderen
sittlichen Kräften sich verbinde, durch höhere Formen des gesellschaftlichen Lebens nicht
vernichtet, sondern richtig reguliert werde.

19. Würdigung des Erwerbstriebes. Wir haben im bisherigen nur
vom Erwerbstrieb gesprochen: denn er ist in der Hauptsache auch von denen gemeint,
welche vorgeben, aus dem Egoismus, der Selbstsucht, dem Selbstinteresse die Volks-
wirtschaft abzuleiten. All' das sind weitere Begriffe, die sich nicht auf das wirtschaft-
liche Leben beschränken, sich nicht mit dem Erwerbstrieb decken. Der Egoismus und
seine Potenzierung, die Selbstsucht bezieht alles auf das Individuum, hat nur sich im
Auge, vernachlässigt alles übrige; es giebt Leute mit starkem Erwerbstrieb, die aber
keine Egoisten sind. Das Selbstinteresse des Menschen steht im Gegensatz zum Interesse
für andere; das geläuterte Selbstinteresse hat aber auch alle höheren Gefühle, besonders
die für nahestehende Personen, das Vaterland und ähnliches in sich aufgenommen.
Wir brauchen dabei nicht zu verweilen. Wir haben nur den wirtschaftlichen Erwerbs-
trieb zu würdigen.

Er ist, wie wir sahen, kein ursprünglicher und fundamentaler Trieb, wie etwa
der Selbsterhaltungstrieb; er kann nicht mit einigen anderen klar von ihm geschiedenen
Trieben den Anspruch erheben, die Reihe der menschlichen Triebe zu erschöpfen. Er ist
ein spätes Ergebnis der höheren Entwickelung des Selbsterhaltungs- und Thätigkeits-
triebes sowie des individuellen Egoismus, die auf gewisser wirtschaftlicher Kulturstufe
ihn erzeugen; er wächst hervor aus den sinnlichen Bedürfnissen und dem rechnenden
Sinn für die Zukunft, aus Selbstbeherrschung und kluger Anstrengung. Es hat Jahr-
tausende wirtschaftlichen Handelns gegeben ohne ihn. Auch wo er heute ausgebildet
ist, erhält er seine Färbung bei den einzelnen durch eine verschiedene Verbindung mit
anderen Gefühlen und Trieben; er verknüpft sich beim einen mit starken sinnlichen Be-
gierden, beim anderen mit aufopferndem Familiensinn, beim dritten mit Ehrgeiz und

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
räuberiſchen Profitwut anklagen. Da herrſcht jene ruheloſe Habſucht, von der Plinius
ſagt, daß ſie alles vernichtet habe, was dem Leben wahren Wert gegeben habe, jene
ungerechte Pleonexie, von der Ariſtoteles ſagt, daß ſie keine Grenzen kenne und die
größten Ungerechtigkeiten begehe, nur um mehr zu haben als andere. Wenn ein naiver
Materialismus in unſeren Tagen jede Art des rückſichtsloſen Erwerbstriebes als das
Schwungrad des Fortſchrittes preiſt, ſo iſt zwar zuzugeben, daß die großen wirtſchaft-
lichen Anſtrengungen und Leiſtungen unſerer Kulturnationen nicht ohne einen ſtarken, ja
rückſichtsloſen Erwerbstrieb möglich wären. Aber ebenſo ſicher ſcheint uns zu ſein, daß
die uberſpannung des Erwerbstriebes bis zur Hartherzigkeit die ſocialen Beziehungen
vergiften, den Frieden in der Geſellſchaft vernichten und durch die erzeugte Gehäſſigkeit
und ſittliche Roheit, durch die entſtehenden Kämpfe den vorhandenen Wohlſtand unter-
graben und verſchütten kann. Es iſt daher die große Frage unſerer Zeit, durch welche
ſittliche Mittel und durch welche ſociale Einrichtungen einerſeits das Maß geſunden
Erwerbstriebes zu erhalten iſt, ohne welches das wirtſchaftliche Streben großer Gemein-
ſchaften (die berechtigte Selbſtbehauptung), die Freiheit der Perſon und die Entwickelung
der Individualität nicht zu denken iſt, und andererſeits doch jene Habſucht und ſociale
Ungerechtigkeit zu bannen wäre, die unſere ſittliche wie unſere wirtſchaftliche Exiſtenz
bedrohen. Die Socialdemokratie glaubt, es ſei nur zu helfen durch Ausrottung aller
Profitmacherei, ſie hofft auf ein goldenes Zeitalter mit Menſchen ohne Egoismus. Der
Hiſtoriker und Geograph wird daran erinnern, daß es mancherlei Volkstypen gebe,
wie z. B. die Madagaſſen, bei denen der Erwerbstrieb viel ſchamloſer, ohne die bei
uns meiſt damit verbundene Energie und wirtſchaftliche Thatkraft, rein als Geiz, als
Habgier, als bloßes Laſter auftrete. Er wird daran erinnern, daß auch der Erwerbs-
trieb im ſpäteren Rom und Athen ſchlimmer war, als bei uns, daß der germaniſche
Erwerbstrieb in Grenzen bleibt, den andere Raſſen nicht kennen, daß manche Kultur-
nationen einen reellen anſtändigen Kaufmannsgeiſt, eine Kaufmannsehre kennen, die in
einer eigentümlichen Verknüpfung des Erwerbstriebes mit höheren Eigenſchaften der Seele
und mit mancherlei Tugenden beſteht. Er wird es alſo für möglich halten, daß der
Erwerbstrieb immer gereinigter auftrete, in einer komplizierteren Weiſe mit anderen
ſittlichen Kräften ſich verbinde, durch höhere Formen des geſellſchaftlichen Lebens nicht
vernichtet, ſondern richtig reguliert werde.

19. Würdigung des Erwerbstriebes. Wir haben im bisherigen nur
vom Erwerbstrieb geſprochen: denn er iſt in der Hauptſache auch von denen gemeint,
welche vorgeben, aus dem Egoismus, der Selbſtſucht, dem Selbſtintereſſe die Volks-
wirtſchaft abzuleiten. All’ das ſind weitere Begriffe, die ſich nicht auf das wirtſchaft-
liche Leben beſchränken, ſich nicht mit dem Erwerbstrieb decken. Der Egoismus und
ſeine Potenzierung, die Selbſtſucht bezieht alles auf das Individuum, hat nur ſich im
Auge, vernachläſſigt alles übrige; es giebt Leute mit ſtarkem Erwerbstrieb, die aber
keine Egoiſten ſind. Das Selbſtintereſſe des Menſchen ſteht im Gegenſatz zum Intereſſe
für andere; das geläuterte Selbſtintereſſe hat aber auch alle höheren Gefühle, beſonders
die für naheſtehende Perſonen, das Vaterland und ähnliches in ſich aufgenommen.
Wir brauchen dabei nicht zu verweilen. Wir haben nur den wirtſchaftlichen Erwerbs-
trieb zu würdigen.

Er iſt, wie wir ſahen, kein urſprünglicher und fundamentaler Trieb, wie etwa
der Selbſterhaltungstrieb; er kann nicht mit einigen anderen klar von ihm geſchiedenen
Trieben den Anſpruch erheben, die Reihe der menſchlichen Triebe zu erſchöpfen. Er iſt
ein ſpätes Ergebnis der höheren Entwickelung des Selbſterhaltungs- und Thätigkeits-
triebes ſowie des individuellen Egoismus, die auf gewiſſer wirtſchaftlicher Kulturſtufe
ihn erzeugen; er wächſt hervor aus den ſinnlichen Bedürfniſſen und dem rechnenden
Sinn für die Zukunft, aus Selbſtbeherrſchung und kluger Anſtrengung. Es hat Jahr-
tauſende wirtſchaftlichen Handelns gegeben ohne ihn. Auch wo er heute ausgebildet
iſt, erhält er ſeine Färbung bei den einzelnen durch eine verſchiedene Verbindung mit
anderen Gefühlen und Trieben; er verknüpft ſich beim einen mit ſtarken ſinnlichen Be-
gierden, beim anderen mit aufopferndem Familienſinn, beim dritten mit Ehrgeiz und

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[36/0052] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. räuberiſchen Profitwut anklagen. Da herrſcht jene ruheloſe Habſucht, von der Plinius ſagt, daß ſie alles vernichtet habe, was dem Leben wahren Wert gegeben habe, jene ungerechte Pleonexie, von der Ariſtoteles ſagt, daß ſie keine Grenzen kenne und die größten Ungerechtigkeiten begehe, nur um mehr zu haben als andere. Wenn ein naiver Materialismus in unſeren Tagen jede Art des rückſichtsloſen Erwerbstriebes als das Schwungrad des Fortſchrittes preiſt, ſo iſt zwar zuzugeben, daß die großen wirtſchaft- lichen Anſtrengungen und Leiſtungen unſerer Kulturnationen nicht ohne einen ſtarken, ja rückſichtsloſen Erwerbstrieb möglich wären. Aber ebenſo ſicher ſcheint uns zu ſein, daß die uberſpannung des Erwerbstriebes bis zur Hartherzigkeit die ſocialen Beziehungen vergiften, den Frieden in der Geſellſchaft vernichten und durch die erzeugte Gehäſſigkeit und ſittliche Roheit, durch die entſtehenden Kämpfe den vorhandenen Wohlſtand unter- graben und verſchütten kann. Es iſt daher die große Frage unſerer Zeit, durch welche ſittliche Mittel und durch welche ſociale Einrichtungen einerſeits das Maß geſunden Erwerbstriebes zu erhalten iſt, ohne welches das wirtſchaftliche Streben großer Gemein- ſchaften (die berechtigte Selbſtbehauptung), die Freiheit der Perſon und die Entwickelung der Individualität nicht zu denken iſt, und andererſeits doch jene Habſucht und ſociale Ungerechtigkeit zu bannen wäre, die unſere ſittliche wie unſere wirtſchaftliche Exiſtenz bedrohen. Die Socialdemokratie glaubt, es ſei nur zu helfen durch Ausrottung aller Profitmacherei, ſie hofft auf ein goldenes Zeitalter mit Menſchen ohne Egoismus. Der Hiſtoriker und Geograph wird daran erinnern, daß es mancherlei Volkstypen gebe, wie z. B. die Madagaſſen, bei denen der Erwerbstrieb viel ſchamloſer, ohne die bei uns meiſt damit verbundene Energie und wirtſchaftliche Thatkraft, rein als Geiz, als Habgier, als bloßes Laſter auftrete. Er wird daran erinnern, daß auch der Erwerbs- trieb im ſpäteren Rom und Athen ſchlimmer war, als bei uns, daß der germaniſche Erwerbstrieb in Grenzen bleibt, den andere Raſſen nicht kennen, daß manche Kultur- nationen einen reellen anſtändigen Kaufmannsgeiſt, eine Kaufmannsehre kennen, die in einer eigentümlichen Verknüpfung des Erwerbstriebes mit höheren Eigenſchaften der Seele und mit mancherlei Tugenden beſteht. Er wird es alſo für möglich halten, daß der Erwerbstrieb immer gereinigter auftrete, in einer komplizierteren Weiſe mit anderen ſittlichen Kräften ſich verbinde, durch höhere Formen des geſellſchaftlichen Lebens nicht vernichtet, ſondern richtig reguliert werde. 19. Würdigung des Erwerbstriebes. Wir haben im bisherigen nur vom Erwerbstrieb geſprochen: denn er iſt in der Hauptſache auch von denen gemeint, welche vorgeben, aus dem Egoismus, der Selbſtſucht, dem Selbſtintereſſe die Volks- wirtſchaft abzuleiten. All’ das ſind weitere Begriffe, die ſich nicht auf das wirtſchaft- liche Leben beſchränken, ſich nicht mit dem Erwerbstrieb decken. Der Egoismus und ſeine Potenzierung, die Selbſtſucht bezieht alles auf das Individuum, hat nur ſich im Auge, vernachläſſigt alles übrige; es giebt Leute mit ſtarkem Erwerbstrieb, die aber keine Egoiſten ſind. Das Selbſtintereſſe des Menſchen ſteht im Gegenſatz zum Intereſſe für andere; das geläuterte Selbſtintereſſe hat aber auch alle höheren Gefühle, beſonders die für naheſtehende Perſonen, das Vaterland und ähnliches in ſich aufgenommen. Wir brauchen dabei nicht zu verweilen. Wir haben nur den wirtſchaftlichen Erwerbs- trieb zu würdigen. Er iſt, wie wir ſahen, kein urſprünglicher und fundamentaler Trieb, wie etwa der Selbſterhaltungstrieb; er kann nicht mit einigen anderen klar von ihm geſchiedenen Trieben den Anſpruch erheben, die Reihe der menſchlichen Triebe zu erſchöpfen. Er iſt ein ſpätes Ergebnis der höheren Entwickelung des Selbſterhaltungs- und Thätigkeits- triebes ſowie des individuellen Egoismus, die auf gewiſſer wirtſchaftlicher Kulturſtufe ihn erzeugen; er wächſt hervor aus den ſinnlichen Bedürfniſſen und dem rechnenden Sinn für die Zukunft, aus Selbſtbeherrſchung und kluger Anſtrengung. Es hat Jahr- tauſende wirtſchaftlichen Handelns gegeben ohne ihn. Auch wo er heute ausgebildet iſt, erhält er ſeine Färbung bei den einzelnen durch eine verſchiedene Verbindung mit anderen Gefühlen und Trieben; er verknüpft ſich beim einen mit ſtarken ſinnlichen Be- gierden, beim anderen mit aufopferndem Familienſinn, beim dritten mit Ehrgeiz und

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/52>, abgerufen am 29.03.2024.