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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Ausbildung und Verbreitung des Erwerbstriebes.
gegenseitigen persönlichen Rücksichtnahme sich auflösen; ein steigender Teil der Wirt-
schaftenden steht sich jetzt auf dem Waren- und Arbeitsmarkt in einer gewissen abstrakten
Gleichgültigkeit schon deshalb gegenüber, weil man sich, abgesehen von den Geschäfts-
beziehungen, nicht kennt. Es entsteht in diesen wirtschaftlichen Kreisen die moralische,
teilweise durch das Recht geschützte Lehre, jeder dürfe ohne Rücksicht auf den Schaden
anderer sein wirtschaftliches Interesse verfolgen. Es entsteht für die an den Konkurrenz-
kämpfen Teilnehmenden der Erwerbstrieb, wie er in Handelsstädten die Kaufleute,
Großunternehmer, Spekulanten beherrscht, wie er auf der Börse als berechtigt, heilsam
und notwendig angesehen wird.

Der historischen Entwickelung des Erwerbstriebes entspricht seine geographische
Verbreitung. Die südlichen und östlichen Völker Europas kennen ihn nicht so wie die
nordöstlichen; am stärksten ist er in England und Nordfrankreich ausgebildet; in
Deutschland kennt ihn der Norden mehr, als der Süden. Daß er in den Vereinigten
Staaten, wie in allen Kolonialländern mit klugen, energischen Einwohnern hochentwickelter
Rasse besonders stark zu Hause ist, kommt wesentlich mit daher, daß man dort andere
höhere Lebensziele weniger kennt, als in den Ländern alter Kultur.

Nirgends ist dieser Erwerbstrieb über alle Klassen der Gesellschaft gleichmäßig
verbreitet. Händler, Bankier, Großunternehmer haben ihn mehr als die rationellsten
Landwirte; dem Offizier, Geistlichen, Beamten fehlt er vielfach nur zu sehr; der Hand-
werker und Kleinbauer hat erst langsam und sporadisch, je nachdem er rechnen, buch-
führen, spekulieren lernt, Teil daran. Die Arbeiter und die unteren Klassen überhaupt
haben fast allerwärts noch eher einen zu geringen Erwerbstrieb. Das sinnliche Trieb-
leben des Augenblickes ist noch stärker als der Sinn für die Zukunft, als die Selbst-
beherrschung, die sich für die Kinder, für künftige Genüsse anstrengt. Wir hatten bis
vor kurzer Zeit ländliche Arbeiter, die nach einer guten Kartoffelernte einige Tage in
der Woche faulenzten. Man mag diese stumpfe Trägheit teilweise auf die erschöpfende
mechanische Arbeit zurückführen, wie sie die moderne Volkswirtschaft geschaffen, mehr ist
sie doch bei den ländlichen, als bei den industriellen Arbeitern zu Hause, die in ihrer
oberen Hälfte heute mit höheren Bedürfnissen, mit ihrem Eintritt in harte Lohnkämpfe
auch einen kräftigen Erwerbstrieb zu entwickeln beginnen. So roh er da und dort
auftreten mag, so liegt darin doch ein unzweifelhafter Fortschritt.

Der Erwerbstrieb ruht so in seiner successiven Ausbildung 1. auf bestimmten technisch-
gesellschaftlichen Voraussetzungen, 2. auf bestimmten moralischen Anschauungen, Sitten und
Rechtsschranken, und 3. auf den ursprünglichen Trieben und Lustgefühlen, die in jedem
Individuum thätig, aber bei den verschiedenen Menschen einen sehr verschiedenen Grad
von egoistischer Leidenschaft erreichen. Diese Lustgefühle, der Wunsch nach Lebensgenuß,
Macht und Ansehen stehen stets mehr oder weniger im Hintergrund. In Zeiten, wo die
Genüsse des Lebens, der Luxus, der Ehrgeiz wächst, und an Orten, wo dies geschieht,
wie in den modernen Großstädten, nimmt auch der Erwerbstrieb stark zu. Aber doch
spielen bei vielen, überwiegend vom Erwerbstrieb Geleiteten diese Motive keine ausschlag-
gebende Rolle. Der Reichtum, ursprünglich nur ein Mittel für höhere Lebensgenüsse, ist
für sie zum Selbstzweck geworden; sie freuen sich nicht sowohl des Besitzes als des guten
jährlichen Geschäftsabschlusses, ihrer Fähigkeit, anderen im Besitz zuvorzukommen und
etwa noch der socialen Macht, die ihnen der Besitz giebt, der steigenden Abhängigkeit
anderer von ihnen, unter Umständen der Möglichkeit, Gutes im großen Stil zu thun.

In den Zeiten der höchsten wirtschaftlichen Blüte der Völker, welche in der Regel
mit einem hochentwickelten Waren-, Geld- und Kredithandel zusammenfallen, in welcher
zahlreiche überkommene Schranken der Sitte und des Rechtes fallen, wird leicht der an
sich berechtigte Erwerbstrieb zu jener fieberhaften Sucht des Erwerbes, die nicht sowohl
durch eigene Anstrengung und tüchtige Leistung, als durch Ausnutzung anderer, durch
Druck und Überlistung, durch Schamlosigkeit und Betrug rasch möglichst viel verdienen
will. Es sind die Zeiten, in welchen die Millionäre scherzen, daß sie mit den Armeln
das Zuchthaus gestreift, und die radikalen Arbeiterführer jeden Unternehmer der

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Die Ausbildung und Verbreitung des Erwerbstriebes.
gegenſeitigen perſönlichen Rückſichtnahme ſich auflöſen; ein ſteigender Teil der Wirt-
ſchaftenden ſteht ſich jetzt auf dem Waren- und Arbeitsmarkt in einer gewiſſen abſtrakten
Gleichgültigkeit ſchon deshalb gegenüber, weil man ſich, abgeſehen von den Geſchäfts-
beziehungen, nicht kennt. Es entſteht in dieſen wirtſchaftlichen Kreiſen die moraliſche,
teilweiſe durch das Recht geſchützte Lehre, jeder dürfe ohne Rückſicht auf den Schaden
anderer ſein wirtſchaftliches Intereſſe verfolgen. Es entſteht für die an den Konkurrenz-
kämpfen Teilnehmenden der Erwerbstrieb, wie er in Handelsſtädten die Kaufleute,
Großunternehmer, Spekulanten beherrſcht, wie er auf der Börſe als berechtigt, heilſam
und notwendig angeſehen wird.

Der hiſtoriſchen Entwickelung des Erwerbstriebes entſpricht ſeine geographiſche
Verbreitung. Die ſüdlichen und öſtlichen Völker Europas kennen ihn nicht ſo wie die
nordöſtlichen; am ſtärkſten iſt er in England und Nordfrankreich ausgebildet; in
Deutſchland kennt ihn der Norden mehr, als der Süden. Daß er in den Vereinigten
Staaten, wie in allen Kolonialländern mit klugen, energiſchen Einwohnern hochentwickelter
Raſſe beſonders ſtark zu Hauſe iſt, kommt weſentlich mit daher, daß man dort andere
höhere Lebensziele weniger kennt, als in den Ländern alter Kultur.

Nirgends iſt dieſer Erwerbstrieb über alle Klaſſen der Geſellſchaft gleichmäßig
verbreitet. Händler, Bankier, Großunternehmer haben ihn mehr als die rationellſten
Landwirte; dem Offizier, Geiſtlichen, Beamten fehlt er vielfach nur zu ſehr; der Hand-
werker und Kleinbauer hat erſt langſam und ſporadiſch, je nachdem er rechnen, buch-
führen, ſpekulieren lernt, Teil daran. Die Arbeiter und die unteren Klaſſen überhaupt
haben faſt allerwärts noch eher einen zu geringen Erwerbstrieb. Das ſinnliche Trieb-
leben des Augenblickes iſt noch ſtärker als der Sinn für die Zukunft, als die Selbſt-
beherrſchung, die ſich für die Kinder, für künftige Genüſſe anſtrengt. Wir hatten bis
vor kurzer Zeit ländliche Arbeiter, die nach einer guten Kartoffelernte einige Tage in
der Woche faulenzten. Man mag dieſe ſtumpfe Trägheit teilweiſe auf die erſchöpfende
mechaniſche Arbeit zurückführen, wie ſie die moderne Volkswirtſchaft geſchaffen, mehr iſt
ſie doch bei den ländlichen, als bei den induſtriellen Arbeitern zu Hauſe, die in ihrer
oberen Hälfte heute mit höheren Bedürfniſſen, mit ihrem Eintritt in harte Lohnkämpfe
auch einen kräftigen Erwerbstrieb zu entwickeln beginnen. So roh er da und dort
auftreten mag, ſo liegt darin doch ein unzweifelhafter Fortſchritt.

Der Erwerbstrieb ruht ſo in ſeiner ſucceſſiven Ausbildung 1. auf beſtimmten techniſch-
geſellſchaftlichen Vorausſetzungen, 2. auf beſtimmten moraliſchen Anſchauungen, Sitten und
Rechtsſchranken, und 3. auf den urſprünglichen Trieben und Luſtgefühlen, die in jedem
Individuum thätig, aber bei den verſchiedenen Menſchen einen ſehr verſchiedenen Grad
von egoiſtiſcher Leidenſchaft erreichen. Dieſe Luſtgefühle, der Wunſch nach Lebensgenuß,
Macht und Anſehen ſtehen ſtets mehr oder weniger im Hintergrund. In Zeiten, wo die
Genüſſe des Lebens, der Luxus, der Ehrgeiz wächſt, und an Orten, wo dies geſchieht,
wie in den modernen Großſtädten, nimmt auch der Erwerbstrieb ſtark zu. Aber doch
ſpielen bei vielen, überwiegend vom Erwerbstrieb Geleiteten dieſe Motive keine ausſchlag-
gebende Rolle. Der Reichtum, urſprünglich nur ein Mittel für höhere Lebensgenüſſe, iſt
für ſie zum Selbſtzweck geworden; ſie freuen ſich nicht ſowohl des Beſitzes als des guten
jährlichen Geſchäftsabſchluſſes, ihrer Fähigkeit, anderen im Beſitz zuvorzukommen und
etwa noch der ſocialen Macht, die ihnen der Beſitz giebt, der ſteigenden Abhängigkeit
anderer von ihnen, unter Umſtänden der Möglichkeit, Gutes im großen Stil zu thun.

In den Zeiten der höchſten wirtſchaftlichen Blüte der Völker, welche in der Regel
mit einem hochentwickelten Waren-, Geld- und Kredithandel zuſammenfallen, in welcher
zahlreiche überkommene Schranken der Sitte und des Rechtes fallen, wird leicht der an
ſich berechtigte Erwerbstrieb zu jener fieberhaften Sucht des Erwerbes, die nicht ſowohl
durch eigene Anſtrengung und tüchtige Leiſtung, als durch Ausnutzung anderer, durch
Druck und Überliſtung, durch Schamloſigkeit und Betrug raſch möglichſt viel verdienen
will. Es ſind die Zeiten, in welchen die Millionäre ſcherzen, daß ſie mit den Armeln
das Zuchthaus geſtreift, und die radikalen Arbeiterführer jeden Unternehmer der

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[35/0051] Die Ausbildung und Verbreitung des Erwerbstriebes. gegenſeitigen perſönlichen Rückſichtnahme ſich auflöſen; ein ſteigender Teil der Wirt- ſchaftenden ſteht ſich jetzt auf dem Waren- und Arbeitsmarkt in einer gewiſſen abſtrakten Gleichgültigkeit ſchon deshalb gegenüber, weil man ſich, abgeſehen von den Geſchäfts- beziehungen, nicht kennt. Es entſteht in dieſen wirtſchaftlichen Kreiſen die moraliſche, teilweiſe durch das Recht geſchützte Lehre, jeder dürfe ohne Rückſicht auf den Schaden anderer ſein wirtſchaftliches Intereſſe verfolgen. Es entſteht für die an den Konkurrenz- kämpfen Teilnehmenden der Erwerbstrieb, wie er in Handelsſtädten die Kaufleute, Großunternehmer, Spekulanten beherrſcht, wie er auf der Börſe als berechtigt, heilſam und notwendig angeſehen wird. Der hiſtoriſchen Entwickelung des Erwerbstriebes entſpricht ſeine geographiſche Verbreitung. Die ſüdlichen und öſtlichen Völker Europas kennen ihn nicht ſo wie die nordöſtlichen; am ſtärkſten iſt er in England und Nordfrankreich ausgebildet; in Deutſchland kennt ihn der Norden mehr, als der Süden. Daß er in den Vereinigten Staaten, wie in allen Kolonialländern mit klugen, energiſchen Einwohnern hochentwickelter Raſſe beſonders ſtark zu Hauſe iſt, kommt weſentlich mit daher, daß man dort andere höhere Lebensziele weniger kennt, als in den Ländern alter Kultur. Nirgends iſt dieſer Erwerbstrieb über alle Klaſſen der Geſellſchaft gleichmäßig verbreitet. Händler, Bankier, Großunternehmer haben ihn mehr als die rationellſten Landwirte; dem Offizier, Geiſtlichen, Beamten fehlt er vielfach nur zu ſehr; der Hand- werker und Kleinbauer hat erſt langſam und ſporadiſch, je nachdem er rechnen, buch- führen, ſpekulieren lernt, Teil daran. Die Arbeiter und die unteren Klaſſen überhaupt haben faſt allerwärts noch eher einen zu geringen Erwerbstrieb. Das ſinnliche Trieb- leben des Augenblickes iſt noch ſtärker als der Sinn für die Zukunft, als die Selbſt- beherrſchung, die ſich für die Kinder, für künftige Genüſſe anſtrengt. Wir hatten bis vor kurzer Zeit ländliche Arbeiter, die nach einer guten Kartoffelernte einige Tage in der Woche faulenzten. Man mag dieſe ſtumpfe Trägheit teilweiſe auf die erſchöpfende mechaniſche Arbeit zurückführen, wie ſie die moderne Volkswirtſchaft geſchaffen, mehr iſt ſie doch bei den ländlichen, als bei den induſtriellen Arbeitern zu Hauſe, die in ihrer oberen Hälfte heute mit höheren Bedürfniſſen, mit ihrem Eintritt in harte Lohnkämpfe auch einen kräftigen Erwerbstrieb zu entwickeln beginnen. So roh er da und dort auftreten mag, ſo liegt darin doch ein unzweifelhafter Fortſchritt. Der Erwerbstrieb ruht ſo in ſeiner ſucceſſiven Ausbildung 1. auf beſtimmten techniſch- geſellſchaftlichen Vorausſetzungen, 2. auf beſtimmten moraliſchen Anſchauungen, Sitten und Rechtsſchranken, und 3. auf den urſprünglichen Trieben und Luſtgefühlen, die in jedem Individuum thätig, aber bei den verſchiedenen Menſchen einen ſehr verſchiedenen Grad von egoiſtiſcher Leidenſchaft erreichen. Dieſe Luſtgefühle, der Wunſch nach Lebensgenuß, Macht und Anſehen ſtehen ſtets mehr oder weniger im Hintergrund. In Zeiten, wo die Genüſſe des Lebens, der Luxus, der Ehrgeiz wächſt, und an Orten, wo dies geſchieht, wie in den modernen Großſtädten, nimmt auch der Erwerbstrieb ſtark zu. Aber doch ſpielen bei vielen, überwiegend vom Erwerbstrieb Geleiteten dieſe Motive keine ausſchlag- gebende Rolle. Der Reichtum, urſprünglich nur ein Mittel für höhere Lebensgenüſſe, iſt für ſie zum Selbſtzweck geworden; ſie freuen ſich nicht ſowohl des Beſitzes als des guten jährlichen Geſchäftsabſchluſſes, ihrer Fähigkeit, anderen im Beſitz zuvorzukommen und etwa noch der ſocialen Macht, die ihnen der Beſitz giebt, der ſteigenden Abhängigkeit anderer von ihnen, unter Umſtänden der Möglichkeit, Gutes im großen Stil zu thun. In den Zeiten der höchſten wirtſchaftlichen Blüte der Völker, welche in der Regel mit einem hochentwickelten Waren-, Geld- und Kredithandel zuſammenfallen, in welcher zahlreiche überkommene Schranken der Sitte und des Rechtes fallen, wird leicht der an ſich berechtigte Erwerbstrieb zu jener fieberhaften Sucht des Erwerbes, die nicht ſowohl durch eigene Anſtrengung und tüchtige Leiſtung, als durch Ausnutzung anderer, durch Druck und Überliſtung, durch Schamloſigkeit und Betrug raſch möglichſt viel verdienen will. Es ſind die Zeiten, in welchen die Millionäre ſcherzen, daß ſie mit den Armeln das Zuchthaus geſtreift, und die radikalen Arbeiterführer jeden Unternehmer der 3*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/51>, abgerufen am 29.03.2024.