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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Gewinn erzielen will, der an die Mitglieder meist nach dem Maße ihrer Einkäufe ver-
teilt wird. Die Vorschuß- und Darlehnskassen, wesentlich dem Handwerker-, Klein-
kaufmanns-, Bauernstande entsprossen, sammeln von ihren Mitgliedern in kleinen Bei-
trägen ein eigenes Kapital, entleihen daneben fremdes und geben damit den Genossen
Personalkredit. Die Rohstoffgenossenschaften kaufen Roh- und Hülfsstoffe für Handwerker
und Landwirte ein, um sie ihnen gut und billig zu liefern; sie haben auf dem Lande
vielfach auch den Verkauf von Maschinen und Geräten übernommen. Wo sie dem
Landwirte seine Produkte abnehmen, werden sie zu Verwertungs-, Kornhausgenossen-
schaften etc. Die Magazingenossenschaften suchen dem städtischen Handwerker, z. B. dem
Tischler, den Absatz ans Publikum abzunehmen. Einzelne schwierige Teile des technischen
Prozesses, häufig einschließlich des Verkaufes, nehmen die Werkgenossenschaften den kleinen
Produzenten, teilweise auch schon den mittleren und größeren Landwirten ab: so die
genossenschaftlichen Mühlen und Bäckereien, die Schlächtereien, die Obstverwertungs-
vereine, die Zuchtgenossenschaften; am großartigsten haben sich neuerdings die Molkerei-
und Winzergenossenschaften entwickelt; sie konzentrieren in technisch vollendeten, gemein-
samen Anstalten die Butter-, Käse- und Weinbereitung und übernehmen den Vertrieb
für die Genossen. Die Baugenossenschaften sammeln teilweise nur Kapital, um es ihren
Mitgliedern zum Bau zu leihen, teilweise bauen sie selbst Einzelhäuser, die sie an
ihre Mitglieder vermieten oder verkaufen, oder große Logierhäuser, die in erster Linie
ihren Mitgliedern zur Miete angeboten werden. Die Produktivgenossenschaften endlich
gehen weiter, sie vereinigen eine Anzahl Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tischler,
teilweise auch Fabrik- und Erdarbeiter zu einem Geschäft, in welchem die Genossen allein
oder mit Lohnarbeitern thätig sind, mit eigenem und fremdem Kapital wie andere Unter-
nehmungen für den Markt arbeiten.

Wenn die Produktivgenossenschaften bis jetzt am wenigsten gediehen, so ist das
natürlich; die Leitung und Geschäftsführung, die Gefahren und die inneren Reibungen
sind am größten, viel stärker als bei den sämtlichen anderen Formen, die nur dem
Arbeiter seine Familienwirtschaft, dem Bauer und Handwerker sein Geschäft erleichtern
wollen, wie die Konsum- und Vorschußvereine. Die meisten Genossenschaften sind so
nicht ein Ersatz der bisherigen bestehenden wirtschaftlichen Organe und Geschäfte, sondern
nur Hülfsorgane für sie. Die Genossen verlassen ihre Stellung und Lebenssphäre nicht,
sondern treten nur zusammen, um einen Aufsichtsrat und Vorstand zu wählen, Beiträge
zu sammeln, die Leiter zu kontrollieren.

Die Rechtsformen, welche erst das praktische Leben und die Sitte für die Genossen-
schaften schufen, dann in Gesetzen fixiert wurden, sind teils der offenen Handelsgesellschaft,
teils der Aktiengesellschaft entlehnt. Aber der Geist war doch ein anderer, an die alten
brüderlichen Sippen sich anschließender. Suchen wir ihn und in Zusammenhang damit
die für Genossenschaften so wichtige Solidarhaft kurz zu charakterisieren und daran einige
Bemerkungen über die Verfassung der Genossenschaften zu knüpfen.

Die übrige Geschäftswelt, wo sie einseitig und schroff, ohne sittliche Schranken
dem Erwerbstriebe folgt, arbeitet mit der Losung: jeder für sich, jeder gegen seinen
Bruder, und den letzten beißen die Hunde; die Genossenschaft mit der Losung: einer
für alle und alle für einen. Dort der volle Kampf ums Dasein, hier seine Aufhebung
im Kreise der Genossen und auch darüber hinaus reelle, gerechte Gegenseitigkeit und
Ehrlichkeit; dort der Egoismus, hier die Sympathie, dort Niederwerfung der Schwachen,
hier Hebung und Erziehung derselben. Diese Tendenzen finden nun ihren lebendigsten
Ausdruck in der solidarischen Haftung aller Genossen für das Geschäft. Sie setzt voraus,
daß man sich kennt, schätzt und helfen will, sie ist voll und ganz im kleinen Kreise
von Gleichen und Bekannten angemessen; sie gedieh stets besser in der kleinen Stadt,
im Dorfe, im Gebirge, als im Treiben der egoistischen Weltstadt. Die Handwerker und
Kleinbürger deutscher Mittelstädte, das puritanisch ernste Geschlecht der englischen Weber
und Fabrikarbeiter im gebirgigen Nordwesten, die Elite französischer Industriearbeiter
und Werkmeister, jetzt die rheinhessischen und westdeutschen Bauern, sie gaben den Kern
der Bewegung, sie hatten die sittliche Kraft für die Solidarhaft. Und sie waren daneben

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Gewinn erzielen will, der an die Mitglieder meiſt nach dem Maße ihrer Einkäufe ver-
teilt wird. Die Vorſchuß- und Darlehnskaſſen, weſentlich dem Handwerker-, Klein-
kaufmanns-, Bauernſtande entſproſſen, ſammeln von ihren Mitgliedern in kleinen Bei-
trägen ein eigenes Kapital, entleihen daneben fremdes und geben damit den Genoſſen
Perſonalkredit. Die Rohſtoffgenoſſenſchaften kaufen Roh- und Hülfsſtoffe für Handwerker
und Landwirte ein, um ſie ihnen gut und billig zu liefern; ſie haben auf dem Lande
vielfach auch den Verkauf von Maſchinen und Geräten übernommen. Wo ſie dem
Landwirte ſeine Produkte abnehmen, werden ſie zu Verwertungs-, Kornhausgenoſſen-
ſchaften ꝛc. Die Magazingenoſſenſchaften ſuchen dem ſtädtiſchen Handwerker, z. B. dem
Tiſchler, den Abſatz ans Publikum abzunehmen. Einzelne ſchwierige Teile des techniſchen
Prozeſſes, häufig einſchließlich des Verkaufes, nehmen die Werkgenoſſenſchaften den kleinen
Produzenten, teilweiſe auch ſchon den mittleren und größeren Landwirten ab: ſo die
genoſſenſchaftlichen Mühlen und Bäckereien, die Schlächtereien, die Obſtverwertungs-
vereine, die Zuchtgenoſſenſchaften; am großartigſten haben ſich neuerdings die Molkerei-
und Winzergenoſſenſchaften entwickelt; ſie konzentrieren in techniſch vollendeten, gemein-
ſamen Anſtalten die Butter-, Käſe- und Weinbereitung und übernehmen den Vertrieb
für die Genoſſen. Die Baugenoſſenſchaften ſammeln teilweiſe nur Kapital, um es ihren
Mitgliedern zum Bau zu leihen, teilweiſe bauen ſie ſelbſt Einzelhäuſer, die ſie an
ihre Mitglieder vermieten oder verkaufen, oder große Logierhäuſer, die in erſter Linie
ihren Mitgliedern zur Miete angeboten werden. Die Produktivgenoſſenſchaften endlich
gehen weiter, ſie vereinigen eine Anzahl Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tiſchler,
teilweiſe auch Fabrik- und Erdarbeiter zu einem Geſchäft, in welchem die Genoſſen allein
oder mit Lohnarbeitern thätig ſind, mit eigenem und fremdem Kapital wie andere Unter-
nehmungen für den Markt arbeiten.

Wenn die Produktivgenoſſenſchaften bis jetzt am wenigſten gediehen, ſo iſt das
natürlich; die Leitung und Geſchäftsführung, die Gefahren und die inneren Reibungen
ſind am größten, viel ſtärker als bei den ſämtlichen anderen Formen, die nur dem
Arbeiter ſeine Familienwirtſchaft, dem Bauer und Handwerker ſein Geſchäft erleichtern
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nicht ein Erſatz der bisherigen beſtehenden wirtſchaftlichen Organe und Geſchäfte, ſondern
nur Hülfsorgane für ſie. Die Genoſſen verlaſſen ihre Stellung und Lebensſphäre nicht,
ſondern treten nur zuſammen, um einen Aufſichtsrat und Vorſtand zu wählen, Beiträge
zu ſammeln, die Leiter zu kontrollieren.

Die Rechtsformen, welche erſt das praktiſche Leben und die Sitte für die Genoſſen-
ſchaften ſchufen, dann in Geſetzen fixiert wurden, ſind teils der offenen Handelsgeſellſchaft,
teils der Aktiengeſellſchaft entlehnt. Aber der Geiſt war doch ein anderer, an die alten
brüderlichen Sippen ſich anſchließender. Suchen wir ihn und in Zuſammenhang damit
die für Genoſſenſchaften ſo wichtige Solidarhaft kurz zu charakteriſieren und daran einige
Bemerkungen über die Verfaſſung der Genoſſenſchaften zu knüpfen.

Die übrige Geſchäftswelt, wo ſie einſeitig und ſchroff, ohne ſittliche Schranken
dem Erwerbstriebe folgt, arbeitet mit der Loſung: jeder für ſich, jeder gegen ſeinen
Bruder, und den letzten beißen die Hunde; die Genoſſenſchaft mit der Loſung: einer
für alle und alle für einen. Dort der volle Kampf ums Daſein, hier ſeine Aufhebung
im Kreiſe der Genoſſen und auch darüber hinaus reelle, gerechte Gegenſeitigkeit und
Ehrlichkeit; dort der Egoismus, hier die Sympathie, dort Niederwerfung der Schwachen,
hier Hebung und Erziehung derſelben. Dieſe Tendenzen finden nun ihren lebendigſten
Ausdruck in der ſolidariſchen Haftung aller Genoſſen für das Geſchäft. Sie ſetzt voraus,
daß man ſich kennt, ſchätzt und helfen will, ſie iſt voll und ganz im kleinen Kreiſe
von Gleichen und Bekannten angemeſſen; ſie gedieh ſtets beſſer in der kleinen Stadt,
im Dorfe, im Gebirge, als im Treiben der egoiſtiſchen Weltſtadt. Die Handwerker und
Kleinbürger deutſcher Mittelſtädte, das puritaniſch ernſte Geſchlecht der engliſchen Weber
und Fabrikarbeiter im gebirgigen Nordweſten, die Elite franzöſiſcher Induſtriearbeiter
und Werkmeiſter, jetzt die rheinheſſiſchen und weſtdeutſchen Bauern, ſie gaben den Kern
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[446/0462] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Gewinn erzielen will, der an die Mitglieder meiſt nach dem Maße ihrer Einkäufe ver- teilt wird. Die Vorſchuß- und Darlehnskaſſen, weſentlich dem Handwerker-, Klein- kaufmanns-, Bauernſtande entſproſſen, ſammeln von ihren Mitgliedern in kleinen Bei- trägen ein eigenes Kapital, entleihen daneben fremdes und geben damit den Genoſſen Perſonalkredit. Die Rohſtoffgenoſſenſchaften kaufen Roh- und Hülfsſtoffe für Handwerker und Landwirte ein, um ſie ihnen gut und billig zu liefern; ſie haben auf dem Lande vielfach auch den Verkauf von Maſchinen und Geräten übernommen. Wo ſie dem Landwirte ſeine Produkte abnehmen, werden ſie zu Verwertungs-, Kornhausgenoſſen- ſchaften ꝛc. Die Magazingenoſſenſchaften ſuchen dem ſtädtiſchen Handwerker, z. B. dem Tiſchler, den Abſatz ans Publikum abzunehmen. Einzelne ſchwierige Teile des techniſchen Prozeſſes, häufig einſchließlich des Verkaufes, nehmen die Werkgenoſſenſchaften den kleinen Produzenten, teilweiſe auch ſchon den mittleren und größeren Landwirten ab: ſo die genoſſenſchaftlichen Mühlen und Bäckereien, die Schlächtereien, die Obſtverwertungs- vereine, die Zuchtgenoſſenſchaften; am großartigſten haben ſich neuerdings die Molkerei- und Winzergenoſſenſchaften entwickelt; ſie konzentrieren in techniſch vollendeten, gemein- ſamen Anſtalten die Butter-, Käſe- und Weinbereitung und übernehmen den Vertrieb für die Genoſſen. Die Baugenoſſenſchaften ſammeln teilweiſe nur Kapital, um es ihren Mitgliedern zum Bau zu leihen, teilweiſe bauen ſie ſelbſt Einzelhäuſer, die ſie an ihre Mitglieder vermieten oder verkaufen, oder große Logierhäuſer, die in erſter Linie ihren Mitgliedern zur Miete angeboten werden. Die Produktivgenoſſenſchaften endlich gehen weiter, ſie vereinigen eine Anzahl Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tiſchler, teilweiſe auch Fabrik- und Erdarbeiter zu einem Geſchäft, in welchem die Genoſſen allein oder mit Lohnarbeitern thätig ſind, mit eigenem und fremdem Kapital wie andere Unter- nehmungen für den Markt arbeiten. Wenn die Produktivgenoſſenſchaften bis jetzt am wenigſten gediehen, ſo iſt das natürlich; die Leitung und Geſchäftsführung, die Gefahren und die inneren Reibungen ſind am größten, viel ſtärker als bei den ſämtlichen anderen Formen, die nur dem Arbeiter ſeine Familienwirtſchaft, dem Bauer und Handwerker ſein Geſchäft erleichtern wollen, wie die Konſum- und Vorſchußvereine. Die meiſten Genoſſenſchaften ſind ſo nicht ein Erſatz der bisherigen beſtehenden wirtſchaftlichen Organe und Geſchäfte, ſondern nur Hülfsorgane für ſie. Die Genoſſen verlaſſen ihre Stellung und Lebensſphäre nicht, ſondern treten nur zuſammen, um einen Aufſichtsrat und Vorſtand zu wählen, Beiträge zu ſammeln, die Leiter zu kontrollieren. Die Rechtsformen, welche erſt das praktiſche Leben und die Sitte für die Genoſſen- ſchaften ſchufen, dann in Geſetzen fixiert wurden, ſind teils der offenen Handelsgeſellſchaft, teils der Aktiengeſellſchaft entlehnt. Aber der Geiſt war doch ein anderer, an die alten brüderlichen Sippen ſich anſchließender. Suchen wir ihn und in Zuſammenhang damit die für Genoſſenſchaften ſo wichtige Solidarhaft kurz zu charakteriſieren und daran einige Bemerkungen über die Verfaſſung der Genoſſenſchaften zu knüpfen. Die übrige Geſchäftswelt, wo ſie einſeitig und ſchroff, ohne ſittliche Schranken dem Erwerbstriebe folgt, arbeitet mit der Loſung: jeder für ſich, jeder gegen ſeinen Bruder, und den letzten beißen die Hunde; die Genoſſenſchaft mit der Loſung: einer für alle und alle für einen. Dort der volle Kampf ums Daſein, hier ſeine Aufhebung im Kreiſe der Genoſſen und auch darüber hinaus reelle, gerechte Gegenſeitigkeit und Ehrlichkeit; dort der Egoismus, hier die Sympathie, dort Niederwerfung der Schwachen, hier Hebung und Erziehung derſelben. Dieſe Tendenzen finden nun ihren lebendigſten Ausdruck in der ſolidariſchen Haftung aller Genoſſen für das Geſchäft. Sie ſetzt voraus, daß man ſich kennt, ſchätzt und helfen will, ſie iſt voll und ganz im kleinen Kreiſe von Gleichen und Bekannten angemeſſen; ſie gedieh ſtets beſſer in der kleinen Stadt, im Dorfe, im Gebirge, als im Treiben der egoiſtiſchen Weltſtadt. Die Handwerker und Kleinbürger deutſcher Mittelſtädte, das puritaniſch ernſte Geſchlecht der engliſchen Weber und Fabrikarbeiter im gebirgigen Nordweſten, die Elite franzöſiſcher Induſtriearbeiter und Werkmeiſter, jetzt die rheinheſſiſchen und weſtdeutſchen Bauern, ſie gaben den Kern der Bewegung, ſie hatten die ſittliche Kraft für die Solidarhaft. Und ſie waren daneben

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/462>, abgerufen am 25.04.2024.