Vorzug und Schwäche des Handwerks. Seine neuere Lage.
Bei den 1,3 Mill. Handwerksmeistern 1895 darf man nicht vergessen, daß die Mehrzahl auf das Land und die kleinen Städte kommt, daß ein sehr großer Teil nur noch als Lohnarbeiter für Magazine, als Hausindustrielle ihr Dasein fristen. Die seit 1840--50 dauernde, seit 1875--90 immer stärker einsetzende Handwerkerkrisis ist trotz dieser Zahl vorhanden. Wir sehen, daß es in den großen Städten, wo die Entwickelung weiter ist, nur noch halb soviel Meister giebt wie in den Mittelstädten. Aber die Abnahme hier wird teilweise noch durch die Zunahme auf dem Lande, zumal wo dichte Bevölkerung ist, ausgeglichen.
Im ganzen mußten die Groß- und die Hausindustrie, sowie die städtischen Magazine immer weitere Teile des Handwerks zurückdrängen, gerade weil es noch nicht eine volle Unternehmung mit ihren wirtschaftlichen Vorzügen darstellt. Das Handwerks- geschäft alten Stils ist von der Form und den Sitten der Familienwirtschaft beherrscht; darin liegt seine Kraft und seine Schwäche. Der Meister ist Familienvater, Unter- nehmer, technischer Arbeiter, Besitzer des kleinen Kapitals zugleich; der Meister besitzt sein eigenes Werkzeug, das ihn sittlich erzieht, indem er es technisch bemeistern lernt; Körper und Geist, Gemüt und Sinn der Mitarbeitenden werden durch die Einfügung in Familie und Werkstatt zugleich in einem normalen Gleichgewicht erhalten und richtig erzogen. Der Handwerker kennt seinen Kunden, für den er arbeitet; er fühlt sich ihm verantwortlich; das Verhältnis erhält damit einen ethischen Charakter, der später wegfällt, wo Produzent und Konsument sich nicht mehr kennen. Aber die Arbeitsteilung fehlt, häufig auch die wissenschaftliche Kenntnis, die höhere, feinere Technik; der Sinn für technischen Fortschritt erlahmt in der Routine; mechanische Kräfte und erhebliche Kapitale werden nicht angewandt; der Betrieb bleibt Jahrhunderte lang gleich einfach und elementar. Das Verkaufsgeschäft, dem lokalen, engen Marktverkehr angepaßt, ist technisch noch unvollkommener. Die Technik der Produktion und das Verkehrs- und Absatz- bedürfnis mußten mit der Zeit über die alte Form des Handwerksbetriebes hinaus- drängen, wo es große Märkte, einen Absatz in die Ferne zu erobern galt.
Ein Teil der alten Handwerker, die Spinner und Weber, die Böttcher und Seiler, die Brauer und die Seifensieder, die Nagelschmiede und andere Metallarbeiter sind fast schon ganz verschwunden; ein anderer Teil ist erst neuerdings bedroht: die Schuh- macher, Tischler, Schmiede, Stellmacher, sie sind im Begriff, ihre Thätigkeit an Fabriken, Hausindustrien, Magazine abzugeben. Ein dritter Teil ist stabil geblieben, weil ihre Geschäfte heute noch überwiegend nach ihrer Technik und ihrem Markt lokale sind: die Bau- und Anbringungsgewerbe, die Buchbinder, die Sattler, auch ein Teil der Schneider, so viel sie auch schon an die großen Konfektionsgeschäfte verloren. Endlich hat ein vierter Teil der alten Handwerke sich noch mit Bevölkerung und Wohl- stand vermehrt, weil sie Kundengeschäfte sind und bleiben: die Bäcker, die Fleischer, die Tapeziere, die Barbiere etc. In allen Branchen halten sich kleine Handwerker als Laden- und Flickgeschäfte. In sehr vielen konservieren sie sich dann, wenn die intelli- genten Meister so viel kaufmännischen Sinn und Marktkenntnis erwerben, um sich das Wichtigste für heute, einen guten Absatz nah und fern zu erwerben und zu erhalten. Aber immer bleibt die Thatsache, daß unter den 1,3 Mill. Meistern von 1895 wohl drei Viertel allein ohne Gesellen, also kümmerlich ihr Gewerbe treiben; neben ihnen stehen aber in der Gewerbestatistik von 1895 nun 0,6--0,7 Mill. Gewerbetreibende, die 2--5 Personen beschäftigen; sie repräsentieren immer noch einen breiten gewerblichen Mittelstand in Deutschland, der allerdings auch schon ziemlich umfangreich Maschinen und Arbeitsteilung anwendet, mit Kapital und Kredit arbeitet.
Die Gewerbefreiheit, welche die kleinen Gewerbetreibenden von den Schranken des Zunftwesens befreite, kaufmännische Leiter und allerlei Arbeiter in allen Gewerben zuließ, hat die Umwälzung befördert, aber nicht erzeugt; sie liegt in der Hauptsache in den Forderungen der Technik, des Absatzes, der Kapitalanwendung, der kaufmännischen Leitung.
140. Die Ansätze zu größeren Betrieben und Organisationen in genossenschaftlicher und korporativer Form bis gegen 1800. War im
Vorzug und Schwäche des Handwerks. Seine neuere Lage.
Bei den 1,3 Mill. Handwerksmeiſtern 1895 darf man nicht vergeſſen, daß die Mehrzahl auf das Land und die kleinen Städte kommt, daß ein ſehr großer Teil nur noch als Lohnarbeiter für Magazine, als Hausinduſtrielle ihr Daſein friſten. Die ſeit 1840—50 dauernde, ſeit 1875—90 immer ſtärker einſetzende Handwerkerkriſis iſt trotz dieſer Zahl vorhanden. Wir ſehen, daß es in den großen Städten, wo die Entwickelung weiter iſt, nur noch halb ſoviel Meiſter giebt wie in den Mittelſtädten. Aber die Abnahme hier wird teilweiſe noch durch die Zunahme auf dem Lande, zumal wo dichte Bevölkerung iſt, ausgeglichen.
Im ganzen mußten die Groß- und die Hausinduſtrie, ſowie die ſtädtiſchen Magazine immer weitere Teile des Handwerks zurückdrängen, gerade weil es noch nicht eine volle Unternehmung mit ihren wirtſchaftlichen Vorzügen darſtellt. Das Handwerks- geſchäft alten Stils iſt von der Form und den Sitten der Familienwirtſchaft beherrſcht; darin liegt ſeine Kraft und ſeine Schwäche. Der Meiſter iſt Familienvater, Unter- nehmer, techniſcher Arbeiter, Beſitzer des kleinen Kapitals zugleich; der Meiſter beſitzt ſein eigenes Werkzeug, das ihn ſittlich erzieht, indem er es techniſch bemeiſtern lernt; Körper und Geiſt, Gemüt und Sinn der Mitarbeitenden werden durch die Einfügung in Familie und Werkſtatt zugleich in einem normalen Gleichgewicht erhalten und richtig erzogen. Der Handwerker kennt ſeinen Kunden, für den er arbeitet; er fühlt ſich ihm verantwortlich; das Verhältnis erhält damit einen ethiſchen Charakter, der ſpäter wegfällt, wo Produzent und Konſument ſich nicht mehr kennen. Aber die Arbeitsteilung fehlt, häufig auch die wiſſenſchaftliche Kenntnis, die höhere, feinere Technik; der Sinn für techniſchen Fortſchritt erlahmt in der Routine; mechaniſche Kräfte und erhebliche Kapitale werden nicht angewandt; der Betrieb bleibt Jahrhunderte lang gleich einfach und elementar. Das Verkaufsgeſchäft, dem lokalen, engen Marktverkehr angepaßt, iſt techniſch noch unvollkommener. Die Technik der Produktion und das Verkehrs- und Abſatz- bedürfnis mußten mit der Zeit über die alte Form des Handwerksbetriebes hinaus- drängen, wo es große Märkte, einen Abſatz in die Ferne zu erobern galt.
Ein Teil der alten Handwerker, die Spinner und Weber, die Böttcher und Seiler, die Brauer und die Seifenſieder, die Nagelſchmiede und andere Metallarbeiter ſind faſt ſchon ganz verſchwunden; ein anderer Teil iſt erſt neuerdings bedroht: die Schuh- macher, Tiſchler, Schmiede, Stellmacher, ſie ſind im Begriff, ihre Thätigkeit an Fabriken, Hausinduſtrien, Magazine abzugeben. Ein dritter Teil iſt ſtabil geblieben, weil ihre Geſchäfte heute noch überwiegend nach ihrer Technik und ihrem Markt lokale ſind: die Bau- und Anbringungsgewerbe, die Buchbinder, die Sattler, auch ein Teil der Schneider, ſo viel ſie auch ſchon an die großen Konfektionsgeſchäfte verloren. Endlich hat ein vierter Teil der alten Handwerke ſich noch mit Bevölkerung und Wohl- ſtand vermehrt, weil ſie Kundengeſchäfte ſind und bleiben: die Bäcker, die Fleiſcher, die Tapeziere, die Barbiere ꝛc. In allen Branchen halten ſich kleine Handwerker als Laden- und Flickgeſchäfte. In ſehr vielen konſervieren ſie ſich dann, wenn die intelli- genten Meiſter ſo viel kaufmänniſchen Sinn und Marktkenntnis erwerben, um ſich das Wichtigſte für heute, einen guten Abſatz nah und fern zu erwerben und zu erhalten. Aber immer bleibt die Thatſache, daß unter den 1,3 Mill. Meiſtern von 1895 wohl drei Viertel allein ohne Geſellen, alſo kümmerlich ihr Gewerbe treiben; neben ihnen ſtehen aber in der Gewerbeſtatiſtik von 1895 nun 0,6—0,7 Mill. Gewerbetreibende, die 2—5 Perſonen beſchäftigen; ſie repräſentieren immer noch einen breiten gewerblichen Mittelſtand in Deutſchland, der allerdings auch ſchon ziemlich umfangreich Maſchinen und Arbeitsteilung anwendet, mit Kapital und Kredit arbeitet.
Die Gewerbefreiheit, welche die kleinen Gewerbetreibenden von den Schranken des Zunftweſens befreite, kaufmänniſche Leiter und allerlei Arbeiter in allen Gewerben zuließ, hat die Umwälzung befördert, aber nicht erzeugt; ſie liegt in der Hauptſache in den Forderungen der Technik, des Abſatzes, der Kapitalanwendung, der kaufmänniſchen Leitung.
140. Die Anſätze zu größeren Betrieben und Organiſationen in genoſſenſchaftlicher und korporativer Form bis gegen 1800. War im
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[421/0437]
Vorzug und Schwäche des Handwerks. Seine neuere Lage.
Bei den 1,3 Mill. Handwerksmeiſtern 1895 darf man nicht vergeſſen, daß die
Mehrzahl auf das Land und die kleinen Städte kommt, daß ein ſehr großer Teil nur
noch als Lohnarbeiter für Magazine, als Hausinduſtrielle ihr Daſein friſten. Die ſeit
1840—50 dauernde, ſeit 1875—90 immer ſtärker einſetzende Handwerkerkriſis iſt trotz
dieſer Zahl vorhanden. Wir ſehen, daß es in den großen Städten, wo die Entwickelung
weiter iſt, nur noch halb ſoviel Meiſter giebt wie in den Mittelſtädten. Aber die
Abnahme hier wird teilweiſe noch durch die Zunahme auf dem Lande, zumal wo dichte
Bevölkerung iſt, ausgeglichen.
Im ganzen mußten die Groß- und die Hausinduſtrie, ſowie die ſtädtiſchen
Magazine immer weitere Teile des Handwerks zurückdrängen, gerade weil es noch nicht
eine volle Unternehmung mit ihren wirtſchaftlichen Vorzügen darſtellt. Das Handwerks-
geſchäft alten Stils iſt von der Form und den Sitten der Familienwirtſchaft beherrſcht;
darin liegt ſeine Kraft und ſeine Schwäche. Der Meiſter iſt Familienvater, Unter-
nehmer, techniſcher Arbeiter, Beſitzer des kleinen Kapitals zugleich; der Meiſter beſitzt ſein
eigenes Werkzeug, das ihn ſittlich erzieht, indem er es techniſch bemeiſtern lernt;
Körper und Geiſt, Gemüt und Sinn der Mitarbeitenden werden durch die Einfügung
in Familie und Werkſtatt zugleich in einem normalen Gleichgewicht erhalten und richtig
erzogen. Der Handwerker kennt ſeinen Kunden, für den er arbeitet; er fühlt ſich ihm
verantwortlich; das Verhältnis erhält damit einen ethiſchen Charakter, der ſpäter wegfällt,
wo Produzent und Konſument ſich nicht mehr kennen. Aber die Arbeitsteilung fehlt,
häufig auch die wiſſenſchaftliche Kenntnis, die höhere, feinere Technik; der Sinn für
techniſchen Fortſchritt erlahmt in der Routine; mechaniſche Kräfte und erhebliche Kapitale
werden nicht angewandt; der Betrieb bleibt Jahrhunderte lang gleich einfach und
elementar. Das Verkaufsgeſchäft, dem lokalen, engen Marktverkehr angepaßt, iſt techniſch
noch unvollkommener. Die Technik der Produktion und das Verkehrs- und Abſatz-
bedürfnis mußten mit der Zeit über die alte Form des Handwerksbetriebes hinaus-
drängen, wo es große Märkte, einen Abſatz in die Ferne zu erobern galt.
Ein Teil der alten Handwerker, die Spinner und Weber, die Böttcher und Seiler,
die Brauer und die Seifenſieder, die Nagelſchmiede und andere Metallarbeiter ſind faſt
ſchon ganz verſchwunden; ein anderer Teil iſt erſt neuerdings bedroht: die Schuh-
macher, Tiſchler, Schmiede, Stellmacher, ſie ſind im Begriff, ihre Thätigkeit an
Fabriken, Hausinduſtrien, Magazine abzugeben. Ein dritter Teil iſt ſtabil geblieben,
weil ihre Geſchäfte heute noch überwiegend nach ihrer Technik und ihrem Markt lokale
ſind: die Bau- und Anbringungsgewerbe, die Buchbinder, die Sattler, auch ein Teil
der Schneider, ſo viel ſie auch ſchon an die großen Konfektionsgeſchäfte verloren.
Endlich hat ein vierter Teil der alten Handwerke ſich noch mit Bevölkerung und Wohl-
ſtand vermehrt, weil ſie Kundengeſchäfte ſind und bleiben: die Bäcker, die Fleiſcher, die
Tapeziere, die Barbiere ꝛc. In allen Branchen halten ſich kleine Handwerker als
Laden- und Flickgeſchäfte. In ſehr vielen konſervieren ſie ſich dann, wenn die intelli-
genten Meiſter ſo viel kaufmänniſchen Sinn und Marktkenntnis erwerben, um ſich das
Wichtigſte für heute, einen guten Abſatz nah und fern zu erwerben und zu erhalten.
Aber immer bleibt die Thatſache, daß unter den 1,3 Mill. Meiſtern von 1895 wohl
drei Viertel allein ohne Geſellen, alſo kümmerlich ihr Gewerbe treiben; neben ihnen
ſtehen aber in der Gewerbeſtatiſtik von 1895 nun 0,6—0,7 Mill. Gewerbetreibende, die
2—5 Perſonen beſchäftigen; ſie repräſentieren immer noch einen breiten gewerblichen
Mittelſtand in Deutſchland, der allerdings auch ſchon ziemlich umfangreich Maſchinen und
Arbeitsteilung anwendet, mit Kapital und Kredit arbeitet.
Die Gewerbefreiheit, welche die kleinen Gewerbetreibenden von den Schranken des
Zunftweſens befreite, kaufmänniſche Leiter und allerlei Arbeiter in allen Gewerben
zuließ, hat die Umwälzung befördert, aber nicht erzeugt; ſie liegt in der Hauptſache
in den Forderungen der Technik, des Abſatzes, der Kapitalanwendung, der kaufmänniſchen
Leitung.
140. Die Anſätze zu größeren Betrieben und Organiſationen in
genoſſenſchaftlicher und korporativer Form bis gegen 1800. War im
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/437>, abgerufen am 20.04.2024.
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