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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
und Ideen, wenn sie nicht dieselben ganz oder teilweise aus den oberen Klassen beziehen
könnte. Bedeutende Kulturhistoriker haben die freilich noch nicht bewiesene Hypothese
aufgestellt, das Zurücksinken und Altern ganzer Völker und Kulturen beruhe stets
wesentlich auf dem Verluste ihrer Aristokratie, auf der zu geringen Fortpflanzung der-
selben, auf der Verbannung und Hinrichtung der Fähigsten, auf der politischen Ver-
folgung aller Höherstehenden (so Gobineau, Lapouge, Seeck, Ammon). Jedenfalls
werden wir zugeben, daß wir keine höhere Kultur kennen, ohne daß gewisse aristokratische
Kreise eine leitende Stellung einnehmen. In diesem Sinne hat Schäffle recht, wenn er
sagt, daß jede Aristokratie besser sei als die Abwesenheit jeder Aristokratie.

Aber nicht bloß die oberen Klassen, auch die mittleren und unteren erscheinen mit
ihren eigentümlichen Berufssphären, ihren eigentümlichen Eigenschaften, Tugenden und
Trieben als eine Bereicherung der socialen Gemeinschaft. Ein großes Kulturvolk braucht
verschiedene Menschentypen, wie nur die verschiedenen Klassen und ihre Organisation sie
liefern. Dazu gehört der Fleiß, die Ehrbarkeit, die Familienzucht des Mittelstandes,
das lebendige Gemütsleben und die Aufopferungsfähigkeit der unteren Klassen ebenso
wie die Geisteskraft und das Selbstbewußtsein der oberen. Die Ausbildung des Indivi-
dualismus, des feineren Nervenlebens, der Wissenschaft, die Schaffung von Menschen
mit Herrscherwillen und Unbeugsamkeit, von Übermenschen, wie man seit Nietzsche sagt
und sie übermäßig verherrlicht, ist Sache der mittleren und oberen Stände, die der
Gemein-, der religiösen und sympathischen Gefühle, der derben Körperkraft, der gesunden
Muskeln Sache der unteren Klassen. Darum konnte Treitschke mit Recht sagen, letztere
seien der Jungbrunnen der Gesellschaft; durch sie erhält sich das Gemüt, die Kraft und
die Gesundheit, durch die oberen die Gesittung, der Geist, der Fortschritt, die Genialität,
die Thatkraft.

Wenn und wo die oberen Klassen nach Ablauf von Generationen und Jahr-
hunderten degenerieren, wie das ein allgemeines Gesetz der Geschichte zu sein scheint, so
ist in den mittleren und unteren, die von den Fehlern und Entartungen der oberen
vielfach frei bleiben, der Ersatz gegeben; ihre Talente dringen als einzelne in die
Aristokratie ein, verjüngen sie, teilweise steigen sie als Gesamtheit oder in größeren
Gruppen empor. Keine Gesellschaft kann ohne ein solches Aufsteigen, das verschiedene
Klassen voraussetzt, bestehen. Die Klassenhierarchie mit ihrer Verschiedenheit der Ehre,
der Macht, des Besitzes ist das wesentliche Instrument, das den gesellschaftlichen Fort-
schritt in Bewegung erhält. Wenn es für den einzelnen kein Ziel des Aufstrebens,
keine erreichbare höhere Stellung mehr giebt, so erlahmt alle Energie, versiegt aller Wett-
bewerb; volle sociale Gleichheit wäre der Tod der Gesellschaft. Wenn der Mensch keine
Hoffnung mehr hat, seine Lage zu verbessern, so verdrängt Mutlosigkeit und Indolenz
alles Streben.

Jede Klasse ist auch für sich durch die Zusammenfassung und Unterordnung der
einzelnen unter ihre Tendenzen ein Instrument sittlicher Ordnung wie jede andere
Gemeinschaft. Die Klassensitte und die Klassenehre erzieht, sittigt, zwingt zu Opfern,
zu Zucht, zu Gehorsam.

Freilich steht diesen Wahrheiten nun eine andere nicht minder sichere entgegen:
die zunehmenden Klassengegensätze werden so groß, daß die Einheit des Volkes, die
sympathische Wechselwirkung zwischen den Klassen, der Friede in der Gesellschaft bedroht
ist. Jede normale Gesellschaft kann nur bestehen, wenn eine gewisse Einheit, sei es der
Religion, sei es der Staatsgesinnung, sei es der Bildung und Gesittung, trotz aller
Verschiedenheit sich erhält. Die übermäßig zunehmenden Verschiedenheiten werden nun
aber weiter durch Mißbrauch, durch falsche Rechtsentwickelung unter Umständen bis zur
Unerträglichkeit gesteigert. Wo diese Erscheinungen sich zeigen, da wird mit den wachsenden
Gegensätzen der Erziehung und der Lebenshaltung, des Besitzes und der Macht, der Ehre
und des Rechtes erst die Entfremdung und das Mißverständnis, dann der Haß und der
Neid immer mehr zunehmen; es können sich so zuletzt die verschiedenen Klassen wie
Todfeinde gegenüberstehen, jede Klasse mit der gleichen des Auslandes sympathischer sich
berührend als mit den verfeindeten Klassen der eigenen Heimat. Und fällt nun mit

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
und Ideen, wenn ſie nicht dieſelben ganz oder teilweiſe aus den oberen Klaſſen beziehen
könnte. Bedeutende Kulturhiſtoriker haben die freilich noch nicht bewieſene Hypotheſe
aufgeſtellt, das Zurückſinken und Altern ganzer Völker und Kulturen beruhe ſtets
weſentlich auf dem Verluſte ihrer Ariſtokratie, auf der zu geringen Fortpflanzung der-
ſelben, auf der Verbannung und Hinrichtung der Fähigſten, auf der politiſchen Ver-
folgung aller Höherſtehenden (ſo Gobineau, Lapouge, Seeck, Ammon). Jedenfalls
werden wir zugeben, daß wir keine höhere Kultur kennen, ohne daß gewiſſe ariſtokratiſche
Kreiſe eine leitende Stellung einnehmen. In dieſem Sinne hat Schäffle recht, wenn er
ſagt, daß jede Ariſtokratie beſſer ſei als die Abweſenheit jeder Ariſtokratie.

Aber nicht bloß die oberen Klaſſen, auch die mittleren und unteren erſcheinen mit
ihren eigentümlichen Berufsſphären, ihren eigentümlichen Eigenſchaften, Tugenden und
Trieben als eine Bereicherung der ſocialen Gemeinſchaft. Ein großes Kulturvolk braucht
verſchiedene Menſchentypen, wie nur die verſchiedenen Klaſſen und ihre Organiſation ſie
liefern. Dazu gehört der Fleiß, die Ehrbarkeit, die Familienzucht des Mittelſtandes,
das lebendige Gemütsleben und die Aufopferungsfähigkeit der unteren Klaſſen ebenſo
wie die Geiſteskraft und das Selbſtbewußtſein der oberen. Die Ausbildung des Indivi-
dualismus, des feineren Nervenlebens, der Wiſſenſchaft, die Schaffung von Menſchen
mit Herrſcherwillen und Unbeugſamkeit, von Übermenſchen, wie man ſeit Nietzſche ſagt
und ſie übermäßig verherrlicht, iſt Sache der mittleren und oberen Stände, die der
Gemein-, der religiöſen und ſympathiſchen Gefühle, der derben Körperkraft, der geſunden
Muskeln Sache der unteren Klaſſen. Darum konnte Treitſchke mit Recht ſagen, letztere
ſeien der Jungbrunnen der Geſellſchaft; durch ſie erhält ſich das Gemüt, die Kraft und
die Geſundheit, durch die oberen die Geſittung, der Geiſt, der Fortſchritt, die Genialität,
die Thatkraft.

Wenn und wo die oberen Klaſſen nach Ablauf von Generationen und Jahr-
hunderten degenerieren, wie das ein allgemeines Geſetz der Geſchichte zu ſein ſcheint, ſo
iſt in den mittleren und unteren, die von den Fehlern und Entartungen der oberen
vielfach frei bleiben, der Erſatz gegeben; ihre Talente dringen als einzelne in die
Ariſtokratie ein, verjüngen ſie, teilweiſe ſteigen ſie als Geſamtheit oder in größeren
Gruppen empor. Keine Geſellſchaft kann ohne ein ſolches Aufſteigen, das verſchiedene
Klaſſen vorausſetzt, beſtehen. Die Klaſſenhierarchie mit ihrer Verſchiedenheit der Ehre,
der Macht, des Beſitzes iſt das weſentliche Inſtrument, das den geſellſchaftlichen Fort-
ſchritt in Bewegung erhält. Wenn es für den einzelnen kein Ziel des Aufſtrebens,
keine erreichbare höhere Stellung mehr giebt, ſo erlahmt alle Energie, verſiegt aller Wett-
bewerb; volle ſociale Gleichheit wäre der Tod der Geſellſchaft. Wenn der Menſch keine
Hoffnung mehr hat, ſeine Lage zu verbeſſern, ſo verdrängt Mutloſigkeit und Indolenz
alles Streben.

Jede Klaſſe iſt auch für ſich durch die Zuſammenfaſſung und Unterordnung der
einzelnen unter ihre Tendenzen ein Inſtrument ſittlicher Ordnung wie jede andere
Gemeinſchaft. Die Klaſſenſitte und die Klaſſenehre erzieht, ſittigt, zwingt zu Opfern,
zu Zucht, zu Gehorſam.

Freilich ſteht dieſen Wahrheiten nun eine andere nicht minder ſichere entgegen:
die zunehmenden Klaſſengegenſätze werden ſo groß, daß die Einheit des Volkes, die
ſympathiſche Wechſelwirkung zwiſchen den Klaſſen, der Friede in der Geſellſchaft bedroht
iſt. Jede normale Geſellſchaft kann nur beſtehen, wenn eine gewiſſe Einheit, ſei es der
Religion, ſei es der Staatsgeſinnung, ſei es der Bildung und Geſittung, trotz aller
Verſchiedenheit ſich erhält. Die übermäßig zunehmenden Verſchiedenheiten werden nun
aber weiter durch Mißbrauch, durch falſche Rechtsentwickelung unter Umſtänden bis zur
Unerträglichkeit geſteigert. Wo dieſe Erſcheinungen ſich zeigen, da wird mit den wachſenden
Gegenſätzen der Erziehung und der Lebenshaltung, des Beſitzes und der Macht, der Ehre
und des Rechtes erſt die Entfremdung und das Mißverſtändnis, dann der Haß und der
Neid immer mehr zunehmen; es können ſich ſo zuletzt die verſchiedenen Klaſſen wie
Todfeinde gegenüberſtehen, jede Klaſſe mit der gleichen des Auslandes ſympathiſcher ſich
berührend als mit den verfeindeten Klaſſen der eigenen Heimat. Und fällt nun mit

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[410/0426] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. und Ideen, wenn ſie nicht dieſelben ganz oder teilweiſe aus den oberen Klaſſen beziehen könnte. Bedeutende Kulturhiſtoriker haben die freilich noch nicht bewieſene Hypotheſe aufgeſtellt, das Zurückſinken und Altern ganzer Völker und Kulturen beruhe ſtets weſentlich auf dem Verluſte ihrer Ariſtokratie, auf der zu geringen Fortpflanzung der- ſelben, auf der Verbannung und Hinrichtung der Fähigſten, auf der politiſchen Ver- folgung aller Höherſtehenden (ſo Gobineau, Lapouge, Seeck, Ammon). Jedenfalls werden wir zugeben, daß wir keine höhere Kultur kennen, ohne daß gewiſſe ariſtokratiſche Kreiſe eine leitende Stellung einnehmen. In dieſem Sinne hat Schäffle recht, wenn er ſagt, daß jede Ariſtokratie beſſer ſei als die Abweſenheit jeder Ariſtokratie. Aber nicht bloß die oberen Klaſſen, auch die mittleren und unteren erſcheinen mit ihren eigentümlichen Berufsſphären, ihren eigentümlichen Eigenſchaften, Tugenden und Trieben als eine Bereicherung der ſocialen Gemeinſchaft. Ein großes Kulturvolk braucht verſchiedene Menſchentypen, wie nur die verſchiedenen Klaſſen und ihre Organiſation ſie liefern. Dazu gehört der Fleiß, die Ehrbarkeit, die Familienzucht des Mittelſtandes, das lebendige Gemütsleben und die Aufopferungsfähigkeit der unteren Klaſſen ebenſo wie die Geiſteskraft und das Selbſtbewußtſein der oberen. Die Ausbildung des Indivi- dualismus, des feineren Nervenlebens, der Wiſſenſchaft, die Schaffung von Menſchen mit Herrſcherwillen und Unbeugſamkeit, von Übermenſchen, wie man ſeit Nietzſche ſagt und ſie übermäßig verherrlicht, iſt Sache der mittleren und oberen Stände, die der Gemein-, der religiöſen und ſympathiſchen Gefühle, der derben Körperkraft, der geſunden Muskeln Sache der unteren Klaſſen. Darum konnte Treitſchke mit Recht ſagen, letztere ſeien der Jungbrunnen der Geſellſchaft; durch ſie erhält ſich das Gemüt, die Kraft und die Geſundheit, durch die oberen die Geſittung, der Geiſt, der Fortſchritt, die Genialität, die Thatkraft. Wenn und wo die oberen Klaſſen nach Ablauf von Generationen und Jahr- hunderten degenerieren, wie das ein allgemeines Geſetz der Geſchichte zu ſein ſcheint, ſo iſt in den mittleren und unteren, die von den Fehlern und Entartungen der oberen vielfach frei bleiben, der Erſatz gegeben; ihre Talente dringen als einzelne in die Ariſtokratie ein, verjüngen ſie, teilweiſe ſteigen ſie als Geſamtheit oder in größeren Gruppen empor. Keine Geſellſchaft kann ohne ein ſolches Aufſteigen, das verſchiedene Klaſſen vorausſetzt, beſtehen. Die Klaſſenhierarchie mit ihrer Verſchiedenheit der Ehre, der Macht, des Beſitzes iſt das weſentliche Inſtrument, das den geſellſchaftlichen Fort- ſchritt in Bewegung erhält. Wenn es für den einzelnen kein Ziel des Aufſtrebens, keine erreichbare höhere Stellung mehr giebt, ſo erlahmt alle Energie, verſiegt aller Wett- bewerb; volle ſociale Gleichheit wäre der Tod der Geſellſchaft. Wenn der Menſch keine Hoffnung mehr hat, ſeine Lage zu verbeſſern, ſo verdrängt Mutloſigkeit und Indolenz alles Streben. Jede Klaſſe iſt auch für ſich durch die Zuſammenfaſſung und Unterordnung der einzelnen unter ihre Tendenzen ein Inſtrument ſittlicher Ordnung wie jede andere Gemeinſchaft. Die Klaſſenſitte und die Klaſſenehre erzieht, ſittigt, zwingt zu Opfern, zu Zucht, zu Gehorſam. Freilich ſteht dieſen Wahrheiten nun eine andere nicht minder ſichere entgegen: die zunehmenden Klaſſengegenſätze werden ſo groß, daß die Einheit des Volkes, die ſympathiſche Wechſelwirkung zwiſchen den Klaſſen, der Friede in der Geſellſchaft bedroht iſt. Jede normale Geſellſchaft kann nur beſtehen, wenn eine gewiſſe Einheit, ſei es der Religion, ſei es der Staatsgeſinnung, ſei es der Bildung und Geſittung, trotz aller Verſchiedenheit ſich erhält. Die übermäßig zunehmenden Verſchiedenheiten werden nun aber weiter durch Mißbrauch, durch falſche Rechtsentwickelung unter Umſtänden bis zur Unerträglichkeit geſteigert. Wo dieſe Erſcheinungen ſich zeigen, da wird mit den wachſenden Gegenſätzen der Erziehung und der Lebenshaltung, des Beſitzes und der Macht, der Ehre und des Rechtes erſt die Entfremdung und das Mißverſtändnis, dann der Haß und der Neid immer mehr zunehmen; es können ſich ſo zuletzt die verſchiedenen Klaſſen wie Todfeinde gegenüberſtehen, jede Klaſſe mit der gleichen des Auslandes ſympathiſcher ſich berührend als mit den verfeindeten Klaſſen der eigenen Heimat. Und fällt nun mit

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/426>, abgerufen am 29.03.2024.