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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Schwierigkeiten. Wie viel von dem Ackerwert hat die Arbeit des Feldmessers, des
Hypothekenrichters, des Gutsbesitzers, des Tagelöhners, wie viel von dem fertigen
Maschinenwert hat der Bergmann, der Eisenproduzent, der Maschinenfabrikant, der
Monteur, der Gießer und der Schmied geschaffen? Der ärmste Arbeiter, wie der
Millionär ist heute zu Neunzehntel von Eigentum umgeben, das er nicht geschaffen.
Außerdem aber, soll die Waise und die Witwe nicht das Eigentum des verstorbenen
Vaters oder Mannes erhalten, weil sie es nicht erarbeitet? Hat eine wohlthätige
Stiftung, hat eine Gemeinde ihr Eigentum auf Grund von Arbeit? Kurz, wir kommen
mit dieser Theorie, so Richtiges sie in ihrem Kern enthält, praktisch nicht weit, so wenig
wie mit der in die Reihe der individualistischen Theorien gehörenden Fiktion der Natur-
rechtslehrer (Hugo Grotius), die Menschen seien durch freien Vertrag der Individuen aus
einem ursprünglichen Zustande der allgemeinen Gütergemeinschaft in eine solche des
geteilten individuellen Eigentums übergetreten.

Alle diese Theorien denken ausschließlich an das Privateigentum, sie sind gänzlich
unhistorisch, aber sie greifen aus den Thatsachen der Geschichte und des Seelenlebens
doch die wichtigsten heraus, die in der Ausbildung des privaten Eigentums eine Rolle
gespielt. Sie haben darin recht, daß bei höherer Kultur, bei zunehmender Individuali-
sierung der Menschen die private Eigentumssphäre eine steigende Rolle spielt, sie berühren
sich teilweise in ihren Idealen der Verteilung mit den entgegengesetzten Theorien, die
eine planvolle Ordnung des Eigentums von oben verlangen. Die individualistische
Gerechtigkeit, die nie allein herrschen kann, die aber einen steigenden Einfluß erlangt,
fordert vom Standpunkt der natürlichen und der Arbeitstheorie, daß jedes vollberechtigte,
selbständige Individuum einen bestimmten auskömmlichen Anteil am Eigentum erhalte;
sie lehrt, daß eine Eigentumsordnung und -verteilung, welche den Arbeitsleistungen,
ja überhaupt den sittlich und social in Betracht kommenden Eigenschaften und Leistungen
der Familien und Individuen im großen und ganzen entspreche, welche versuche, sich
solchem Ideal zu nähern, die richtige sei. Aber alles Recht arbeitet mit durchschnitt-
lichen Maßstäben und groben Regeln, kann deshalb nie alle Ungerechtigkeit und
Zufälligkeit der Eigentumsverteilung beseitigen.

Die entgegengesetzten centralistischen Eigentumstheorien stehen auf dem
Boden, der schon in der ältesten Sprachbildung den Besitz als ein Geschenk der Götter
(divitiae) bezeichnete, der das Grundeigentum als ein von den Priestern verwaltetes
und verteiltes Eigentum der Gottheit auffaßte. Von Plato bis zu den heutigen
Socialisten reicht die Kette der Denker, die das Gemeinsame und Zusammenhängende
in der Gesellschaft im Auge haben und alles von den einzelnen Individuen nicht direkt
Geschaffene der Gesamtheit und ihren Organen vindizieren. Von den neueren Socialisten
werden alle schlechten Eigenschaften der Menschen, Habsucht, Gewinnsucht, Verbrechen,
unrechtmäßige Abhängigkeit eines Teiles der Bevölkerung vom anderen auf das individuelle
Eigentum zurückgeführt.

Die sogenannte Legaltheorie betont ausschließlich das Formale: alles Eigen-
tum ist Folge des Gewohnheitsrechtes und des Gesetzes. Zu ihr bekennen sich Hobbes
und Montesquien, Bentham und Lassalle, neuerdings A. Wagner, also Geister aus
den verschiedensten politischen Lagern. Die Theorie drückt den Gedanken richtig aus,
daß das Eigentum, wie alles Recht, der staatlichen Anerkennung bedürfe, unter
staatlicher Oberhoheit stehe, vom Staate mit Pflichten, wie ein Amt sie erteile, belegt
werden könne; aber sie übersieht, daß die Anfänge der Eigentumsbildung älter sind
als jede eigentliche Staatsgewalt, und sie giebt für die Frage, ob es ein Privateigentum
und wie weit es ein solches geben soll, gar keinen Anhalt, weil sie eben rein formali-
stische Theorie ist. Von socialistischer und staatssocialistischer Seite ist sie neuerdings
bevorzugt worden, weil sie die Konsequenz nahe legt, daß wenn das Eigentum nur
durch Gesetz entstanden, es durch Gesetz auch jederzeit aufgehoben oder beschränkt
werden könne. --

Alle diese verschiedenen Theorien enthalten so Elemente der Wahrheit, keine enthält
die volle ganze Wahrheit. Alle gehen von dem falschen Glauben aus, eine so komplizierte,

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Schwierigkeiten. Wie viel von dem Ackerwert hat die Arbeit des Feldmeſſers, des
Hypothekenrichters, des Gutsbeſitzers, des Tagelöhners, wie viel von dem fertigen
Maſchinenwert hat der Bergmann, der Eiſenproduzent, der Maſchinenfabrikant, der
Monteur, der Gießer und der Schmied geſchaffen? Der ärmſte Arbeiter, wie der
Millionär iſt heute zu Neunzehntel von Eigentum umgeben, das er nicht geſchaffen.
Außerdem aber, ſoll die Waiſe und die Witwe nicht das Eigentum des verſtorbenen
Vaters oder Mannes erhalten, weil ſie es nicht erarbeitet? Hat eine wohlthätige
Stiftung, hat eine Gemeinde ihr Eigentum auf Grund von Arbeit? Kurz, wir kommen
mit dieſer Theorie, ſo Richtiges ſie in ihrem Kern enthält, praktiſch nicht weit, ſo wenig
wie mit der in die Reihe der individualiſtiſchen Theorien gehörenden Fiktion der Natur-
rechtslehrer (Hugo Grotius), die Menſchen ſeien durch freien Vertrag der Individuen aus
einem urſprünglichen Zuſtande der allgemeinen Gütergemeinſchaft in eine ſolche des
geteilten individuellen Eigentums übergetreten.

Alle dieſe Theorien denken ausſchließlich an das Privateigentum, ſie ſind gänzlich
unhiſtoriſch, aber ſie greifen aus den Thatſachen der Geſchichte und des Seelenlebens
doch die wichtigſten heraus, die in der Ausbildung des privaten Eigentums eine Rolle
geſpielt. Sie haben darin recht, daß bei höherer Kultur, bei zunehmender Individuali-
ſierung der Menſchen die private Eigentumsſphäre eine ſteigende Rolle ſpielt, ſie berühren
ſich teilweiſe in ihren Idealen der Verteilung mit den entgegengeſetzten Theorien, die
eine planvolle Ordnung des Eigentums von oben verlangen. Die individualiſtiſche
Gerechtigkeit, die nie allein herrſchen kann, die aber einen ſteigenden Einfluß erlangt,
fordert vom Standpunkt der natürlichen und der Arbeitstheorie, daß jedes vollberechtigte,
ſelbſtändige Individuum einen beſtimmten auskömmlichen Anteil am Eigentum erhalte;
ſie lehrt, daß eine Eigentumsordnung und -verteilung, welche den Arbeitsleiſtungen,
ja überhaupt den ſittlich und ſocial in Betracht kommenden Eigenſchaften und Leiſtungen
der Familien und Individuen im großen und ganzen entſpreche, welche verſuche, ſich
ſolchem Ideal zu nähern, die richtige ſei. Aber alles Recht arbeitet mit durchſchnitt-
lichen Maßſtäben und groben Regeln, kann deshalb nie alle Ungerechtigkeit und
Zufälligkeit der Eigentumsverteilung beſeitigen.

Die entgegengeſetzten centraliſtiſchen Eigentumstheorien ſtehen auf dem
Boden, der ſchon in der älteſten Sprachbildung den Beſitz als ein Geſchenk der Götter
(divitiae) bezeichnete, der das Grundeigentum als ein von den Prieſtern verwaltetes
und verteiltes Eigentum der Gottheit auffaßte. Von Plato bis zu den heutigen
Socialiſten reicht die Kette der Denker, die das Gemeinſame und Zuſammenhängende
in der Geſellſchaft im Auge haben und alles von den einzelnen Individuen nicht direkt
Geſchaffene der Geſamtheit und ihren Organen vindizieren. Von den neueren Socialiſten
werden alle ſchlechten Eigenſchaften der Menſchen, Habſucht, Gewinnſucht, Verbrechen,
unrechtmäßige Abhängigkeit eines Teiles der Bevölkerung vom anderen auf das individuelle
Eigentum zurückgeführt.

Die ſogenannte Legaltheorie betont ausſchließlich das Formale: alles Eigen-
tum iſt Folge des Gewohnheitsrechtes und des Geſetzes. Zu ihr bekennen ſich Hobbes
und Montesquien, Bentham und Laſſalle, neuerdings A. Wagner, alſo Geiſter aus
den verſchiedenſten politiſchen Lagern. Die Theorie drückt den Gedanken richtig aus,
daß das Eigentum, wie alles Recht, der ſtaatlichen Anerkennung bedürfe, unter
ſtaatlicher Oberhoheit ſtehe, vom Staate mit Pflichten, wie ein Amt ſie erteile, belegt
werden könne; aber ſie überſieht, daß die Anfänge der Eigentumsbildung älter ſind
als jede eigentliche Staatsgewalt, und ſie giebt für die Frage, ob es ein Privateigentum
und wie weit es ein ſolches geben ſoll, gar keinen Anhalt, weil ſie eben rein formali-
ſtiſche Theorie iſt. Von ſocialiſtiſcher und ſtaatsſocialiſtiſcher Seite iſt ſie neuerdings
bevorzugt worden, weil ſie die Konſequenz nahe legt, daß wenn das Eigentum nur
durch Geſetz entſtanden, es durch Geſetz auch jederzeit aufgehoben oder beſchränkt
werden könne. —

Alle dieſe verſchiedenen Theorien enthalten ſo Elemente der Wahrheit, keine enthält
die volle ganze Wahrheit. Alle gehen von dem falſchen Glauben aus, eine ſo komplizierte,

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[390/0406] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Schwierigkeiten. Wie viel von dem Ackerwert hat die Arbeit des Feldmeſſers, des Hypothekenrichters, des Gutsbeſitzers, des Tagelöhners, wie viel von dem fertigen Maſchinenwert hat der Bergmann, der Eiſenproduzent, der Maſchinenfabrikant, der Monteur, der Gießer und der Schmied geſchaffen? Der ärmſte Arbeiter, wie der Millionär iſt heute zu Neunzehntel von Eigentum umgeben, das er nicht geſchaffen. Außerdem aber, ſoll die Waiſe und die Witwe nicht das Eigentum des verſtorbenen Vaters oder Mannes erhalten, weil ſie es nicht erarbeitet? Hat eine wohlthätige Stiftung, hat eine Gemeinde ihr Eigentum auf Grund von Arbeit? Kurz, wir kommen mit dieſer Theorie, ſo Richtiges ſie in ihrem Kern enthält, praktiſch nicht weit, ſo wenig wie mit der in die Reihe der individualiſtiſchen Theorien gehörenden Fiktion der Natur- rechtslehrer (Hugo Grotius), die Menſchen ſeien durch freien Vertrag der Individuen aus einem urſprünglichen Zuſtande der allgemeinen Gütergemeinſchaft in eine ſolche des geteilten individuellen Eigentums übergetreten. Alle dieſe Theorien denken ausſchließlich an das Privateigentum, ſie ſind gänzlich unhiſtoriſch, aber ſie greifen aus den Thatſachen der Geſchichte und des Seelenlebens doch die wichtigſten heraus, die in der Ausbildung des privaten Eigentums eine Rolle geſpielt. Sie haben darin recht, daß bei höherer Kultur, bei zunehmender Individuali- ſierung der Menſchen die private Eigentumsſphäre eine ſteigende Rolle ſpielt, ſie berühren ſich teilweiſe in ihren Idealen der Verteilung mit den entgegengeſetzten Theorien, die eine planvolle Ordnung des Eigentums von oben verlangen. Die individualiſtiſche Gerechtigkeit, die nie allein herrſchen kann, die aber einen ſteigenden Einfluß erlangt, fordert vom Standpunkt der natürlichen und der Arbeitstheorie, daß jedes vollberechtigte, ſelbſtändige Individuum einen beſtimmten auskömmlichen Anteil am Eigentum erhalte; ſie lehrt, daß eine Eigentumsordnung und -verteilung, welche den Arbeitsleiſtungen, ja überhaupt den ſittlich und ſocial in Betracht kommenden Eigenſchaften und Leiſtungen der Familien und Individuen im großen und ganzen entſpreche, welche verſuche, ſich ſolchem Ideal zu nähern, die richtige ſei. Aber alles Recht arbeitet mit durchſchnitt- lichen Maßſtäben und groben Regeln, kann deshalb nie alle Ungerechtigkeit und Zufälligkeit der Eigentumsverteilung beſeitigen. Die entgegengeſetzten centraliſtiſchen Eigentumstheorien ſtehen auf dem Boden, der ſchon in der älteſten Sprachbildung den Beſitz als ein Geſchenk der Götter (divitiae) bezeichnete, der das Grundeigentum als ein von den Prieſtern verwaltetes und verteiltes Eigentum der Gottheit auffaßte. Von Plato bis zu den heutigen Socialiſten reicht die Kette der Denker, die das Gemeinſame und Zuſammenhängende in der Geſellſchaft im Auge haben und alles von den einzelnen Individuen nicht direkt Geſchaffene der Geſamtheit und ihren Organen vindizieren. Von den neueren Socialiſten werden alle ſchlechten Eigenſchaften der Menſchen, Habſucht, Gewinnſucht, Verbrechen, unrechtmäßige Abhängigkeit eines Teiles der Bevölkerung vom anderen auf das individuelle Eigentum zurückgeführt. Die ſogenannte Legaltheorie betont ausſchließlich das Formale: alles Eigen- tum iſt Folge des Gewohnheitsrechtes und des Geſetzes. Zu ihr bekennen ſich Hobbes und Montesquien, Bentham und Laſſalle, neuerdings A. Wagner, alſo Geiſter aus den verſchiedenſten politiſchen Lagern. Die Theorie drückt den Gedanken richtig aus, daß das Eigentum, wie alles Recht, der ſtaatlichen Anerkennung bedürfe, unter ſtaatlicher Oberhoheit ſtehe, vom Staate mit Pflichten, wie ein Amt ſie erteile, belegt werden könne; aber ſie überſieht, daß die Anfänge der Eigentumsbildung älter ſind als jede eigentliche Staatsgewalt, und ſie giebt für die Frage, ob es ein Privateigentum und wie weit es ein ſolches geben ſoll, gar keinen Anhalt, weil ſie eben rein formali- ſtiſche Theorie iſt. Von ſocialiſtiſcher und ſtaatsſocialiſtiſcher Seite iſt ſie neuerdings bevorzugt worden, weil ſie die Konſequenz nahe legt, daß wenn das Eigentum nur durch Geſetz entſtanden, es durch Geſetz auch jederzeit aufgehoben oder beſchränkt werden könne. — Alle dieſe verſchiedenen Theorien enthalten ſo Elemente der Wahrheit, keine enthält die volle ganze Wahrheit. Alle gehen von dem falſchen Glauben aus, eine ſo komplizierte,

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/406>, abgerufen am 24.04.2024.