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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
triebenen Gestaltungen der Arbeitsteilung. Aber sie irren historisch und praktisch, wenn
sie glauben, das Individuum hätte vor der Arbeitsteilung dem Ideale eines gleichmäßig
ausgebildeten, körperlich und geistig vollendeten Menschen näher gestanden oder würde ihm
heute ohne sie näher kommen. Es ist ohne sie ein Barbar, der ißt, trinkt und faulenzt;
wir wissen heute, daß alle Wilden dem tierischen Zustande viel näher kommen als die
gewöhnlichen Tagelöhner der Kulturstaaten. Das Ideal einer harmonischen Ausbildung,
das wir in Gegensatz stellen zur Arbeitsteilung, ist eine nur in Gedanken zu voll-
ziehende Summierung dessen, was durch specialisierte Ausbildung der Kräfte in den
verschiedensten Lebensberufen Hohes und Bedeutsames erreicht wurde. Es ist unmöglich,
es auf eine Person zu häufen. Wohl aber ist es die sekundäre historische Folge der
vorübergehend einseitigen Arbeitsteilung, daß spätere Zeitalter gewisse Stücke des so
erzielten technischen und geistigen Fortschrittes, wie z. B. das Lesen und Schreiben, die
militärische Ausbildung, das Buchführen des Händlers, das ästhetische Gefühl des
Künstlers in Form der Jugenderziehung oder in anderer Weise zu einem Teilinhalt
jedes Menschenlebens zu machen suchen.

Die Arbeitsteilung schreitet, wie alles Menschliche, durch tastende Versuche, durch
einseitige Gestaltungen und Ordnungen vorwärts. Die harten Interessenkämpfe drücken
auch ihr erst zeitweise einen häßlichen Stempel auf; ganze Gesellschaftsgruppen sind durch
sie, durch eine zu einseitige körperliche oder geistige Arbeit ohne Gegengewicht verkümmert
oder verkrüppelt worden. Ihre bisherige Gestaltung in manchen Fabriken ist unzweifel-
haft gegenüber der älteren Gestaltung, wie sie im Bauernhaus und in der Handwerks-
stätte sich fixiert hatte, für menschliche Erziehung und Gesittung ein Rückschritt. Aber
diese Gestaltung ist auch der wesentlichsten Umgestaltung fähig, ebenso wie früher gewisse
Extreme der Arbeitsteilung wieder umgebildet oder gar ganz rückgängig gemacht wurden,
z. B. die Sklaverei. Es ist selbstverständlich, daß jede zu einseitige Ausbildung und
Thätigkeit einer einzelnen körperlichen oder geistigen Funktion die Gesundheit des ganzen
Menschen bedroht, und daß so zuletzt auch die Specialkraft gelähmt werden kann.
Aber deshalb ist nicht jede Arbeitsteilung falsch, sondern nur gewisse extreme Gestaltungen
derselben; ihre maßvolle mit Gegengewichten und Schranken umgebene Durchführung,
ist das der beschränkten individuellen Menschenkraft adäquate; sie ist das Mittel, das
Individuelle und Wertvolle im Menschen auszubilden. Deshalb sagt Hegel mit Recht,
wer einen speciellen Beruf ergreift, ergiebt sich nicht dem Niedrigen, sondern wird erst
ein rechter Mensch. Und Goethe läßt mit Recht den titanischen Faust als Dämme
bauenden Landwirt, den ästhetisierenden Wilhelm Meister als Wundarzt enden und
glücklich werden.

Es kommt bei jedem Schritte der Arbeitsteilung darauf an, wie er die Motive und
Zielpunkte menschlicher Thätigkeit umgestalte und durch Veränderung des ganzen Lebens
und seines Inhaltes auf die Individuen zurückwirke, wie die unveräußerlichen Eigenzwecke
jedes Menschen und die arbeitsteiligen Funktionen sich vertragen, wie der Verlust auf der
Seite der allgemeinen Ausbildung und vielseitigen Thätigkeit ausgeglichen werde durch
die Thatsache, daß die einseitige Specialarbeit den Menschen doch in den Dienst der
Gesellschaft stelle, ihm neben harter Arbeit doch auch höhere Zwecke setze oder
wenigstens ihn einfüge in ein System gesellschaftlichen Zusammenhanges und sittlicher
Solidarität. Die Abrechnung zwischen diesen beiden Konten kann dabei immer wieder
zeitweise zu Ungunsten des Individuums ausfallen; d. h. der gesellschaftliche Fortschritt
und die Arbeitsteilung ist nicht möglich, ohne daß immer wieder zeitweise ihr einzelne
Individuen und Klassen geopfert werden.

Und daher wird stets von neuem der Antrieb entspringen, die gesellschaftlichen
Ordnungen so weit zu bessern und zu korrigieren, daß die Zahl dieser Opfer abnehme.
Aber es heißt, sich auf den individualistischen statt auf den gesellschaftlichen Standpunkt
stellen, wenn die socialistische Theorie alle Arbeitsteilung aufheben, jeden Menschen für
alle Berufe erziehen und ihn dann stunden-, tage-, monats- oder jahreweise allen
zuteilen will. Damit wird die menschliche Natur und ihre Ausbildungsfähigkeit
gänzlich verkannt; es wird die Vererbung der menschlichen Fähigkeiten übersehen; es

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
triebenen Geſtaltungen der Arbeitsteilung. Aber ſie irren hiſtoriſch und praktiſch, wenn
ſie glauben, das Individuum hätte vor der Arbeitsteilung dem Ideale eines gleichmäßig
ausgebildeten, körperlich und geiſtig vollendeten Menſchen näher geſtanden oder würde ihm
heute ohne ſie näher kommen. Es iſt ohne ſie ein Barbar, der ißt, trinkt und faulenzt;
wir wiſſen heute, daß alle Wilden dem tieriſchen Zuſtande viel näher kommen als die
gewöhnlichen Tagelöhner der Kulturſtaaten. Das Ideal einer harmoniſchen Ausbildung,
das wir in Gegenſatz ſtellen zur Arbeitsteilung, iſt eine nur in Gedanken zu voll-
ziehende Summierung deſſen, was durch ſpecialiſierte Ausbildung der Kräfte in den
verſchiedenſten Lebensberufen Hohes und Bedeutſames erreicht wurde. Es iſt unmöglich,
es auf eine Perſon zu häufen. Wohl aber iſt es die ſekundäre hiſtoriſche Folge der
vorübergehend einſeitigen Arbeitsteilung, daß ſpätere Zeitalter gewiſſe Stücke des ſo
erzielten techniſchen und geiſtigen Fortſchrittes, wie z. B. das Leſen und Schreiben, die
militäriſche Ausbildung, das Buchführen des Händlers, das äſthetiſche Gefühl des
Künſtlers in Form der Jugenderziehung oder in anderer Weiſe zu einem Teilinhalt
jedes Menſchenlebens zu machen ſuchen.

Die Arbeitsteilung ſchreitet, wie alles Menſchliche, durch taſtende Verſuche, durch
einſeitige Geſtaltungen und Ordnungen vorwärts. Die harten Intereſſenkämpfe drücken
auch ihr erſt zeitweiſe einen häßlichen Stempel auf; ganze Geſellſchaftsgruppen ſind durch
ſie, durch eine zu einſeitige körperliche oder geiſtige Arbeit ohne Gegengewicht verkümmert
oder verkrüppelt worden. Ihre bisherige Geſtaltung in manchen Fabriken iſt unzweifel-
haft gegenüber der älteren Geſtaltung, wie ſie im Bauernhaus und in der Handwerks-
ſtätte ſich fixiert hatte, für menſchliche Erziehung und Geſittung ein Rückſchritt. Aber
dieſe Geſtaltung iſt auch der weſentlichſten Umgeſtaltung fähig, ebenſo wie früher gewiſſe
Extreme der Arbeitsteilung wieder umgebildet oder gar ganz rückgängig gemacht wurden,
z. B. die Sklaverei. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß jede zu einſeitige Ausbildung und
Thätigkeit einer einzelnen körperlichen oder geiſtigen Funktion die Geſundheit des ganzen
Menſchen bedroht, und daß ſo zuletzt auch die Specialkraft gelähmt werden kann.
Aber deshalb iſt nicht jede Arbeitsteilung falſch, ſondern nur gewiſſe extreme Geſtaltungen
derſelben; ihre maßvolle mit Gegengewichten und Schranken umgebene Durchführung,
iſt das der beſchränkten individuellen Menſchenkraft adäquate; ſie iſt das Mittel, das
Individuelle und Wertvolle im Menſchen auszubilden. Deshalb ſagt Hegel mit Recht,
wer einen ſpeciellen Beruf ergreift, ergiebt ſich nicht dem Niedrigen, ſondern wird erſt
ein rechter Menſch. Und Goethe läßt mit Recht den titaniſchen Fauſt als Dämme
bauenden Landwirt, den äſthetiſierenden Wilhelm Meiſter als Wundarzt enden und
glücklich werden.

Es kommt bei jedem Schritte der Arbeitsteilung darauf an, wie er die Motive und
Zielpunkte menſchlicher Thätigkeit umgeſtalte und durch Veränderung des ganzen Lebens
und ſeines Inhaltes auf die Individuen zurückwirke, wie die unveräußerlichen Eigenzwecke
jedes Menſchen und die arbeitsteiligen Funktionen ſich vertragen, wie der Verluſt auf der
Seite der allgemeinen Ausbildung und vielſeitigen Thätigkeit ausgeglichen werde durch
die Thatſache, daß die einſeitige Specialarbeit den Menſchen doch in den Dienſt der
Geſellſchaft ſtelle, ihm neben harter Arbeit doch auch höhere Zwecke ſetze oder
wenigſtens ihn einfüge in ein Syſtem geſellſchaftlichen Zuſammenhanges und ſittlicher
Solidarität. Die Abrechnung zwiſchen dieſen beiden Konten kann dabei immer wieder
zeitweiſe zu Ungunſten des Individuums ausfallen; d. h. der geſellſchaftliche Fortſchritt
und die Arbeitsteilung iſt nicht möglich, ohne daß immer wieder zeitweiſe ihr einzelne
Individuen und Klaſſen geopfert werden.

Und daher wird ſtets von neuem der Antrieb entſpringen, die geſellſchaftlichen
Ordnungen ſo weit zu beſſern und zu korrigieren, daß die Zahl dieſer Opfer abnehme.
Aber es heißt, ſich auf den individualiſtiſchen ſtatt auf den geſellſchaftlichen Standpunkt
ſtellen, wenn die ſocialiſtiſche Theorie alle Arbeitsteilung aufheben, jeden Menſchen für
alle Berufe erziehen und ihn dann ſtunden-, tage-, monats- oder jahreweiſe allen
zuteilen will. Damit wird die menſchliche Natur und ihre Ausbildungsfähigkeit
gänzlich verkannt; es wird die Vererbung der menſchlichen Fähigkeiten überſehen; es

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[366/0382] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. triebenen Geſtaltungen der Arbeitsteilung. Aber ſie irren hiſtoriſch und praktiſch, wenn ſie glauben, das Individuum hätte vor der Arbeitsteilung dem Ideale eines gleichmäßig ausgebildeten, körperlich und geiſtig vollendeten Menſchen näher geſtanden oder würde ihm heute ohne ſie näher kommen. Es iſt ohne ſie ein Barbar, der ißt, trinkt und faulenzt; wir wiſſen heute, daß alle Wilden dem tieriſchen Zuſtande viel näher kommen als die gewöhnlichen Tagelöhner der Kulturſtaaten. Das Ideal einer harmoniſchen Ausbildung, das wir in Gegenſatz ſtellen zur Arbeitsteilung, iſt eine nur in Gedanken zu voll- ziehende Summierung deſſen, was durch ſpecialiſierte Ausbildung der Kräfte in den verſchiedenſten Lebensberufen Hohes und Bedeutſames erreicht wurde. Es iſt unmöglich, es auf eine Perſon zu häufen. Wohl aber iſt es die ſekundäre hiſtoriſche Folge der vorübergehend einſeitigen Arbeitsteilung, daß ſpätere Zeitalter gewiſſe Stücke des ſo erzielten techniſchen und geiſtigen Fortſchrittes, wie z. B. das Leſen und Schreiben, die militäriſche Ausbildung, das Buchführen des Händlers, das äſthetiſche Gefühl des Künſtlers in Form der Jugenderziehung oder in anderer Weiſe zu einem Teilinhalt jedes Menſchenlebens zu machen ſuchen. Die Arbeitsteilung ſchreitet, wie alles Menſchliche, durch taſtende Verſuche, durch einſeitige Geſtaltungen und Ordnungen vorwärts. Die harten Intereſſenkämpfe drücken auch ihr erſt zeitweiſe einen häßlichen Stempel auf; ganze Geſellſchaftsgruppen ſind durch ſie, durch eine zu einſeitige körperliche oder geiſtige Arbeit ohne Gegengewicht verkümmert oder verkrüppelt worden. Ihre bisherige Geſtaltung in manchen Fabriken iſt unzweifel- haft gegenüber der älteren Geſtaltung, wie ſie im Bauernhaus und in der Handwerks- ſtätte ſich fixiert hatte, für menſchliche Erziehung und Geſittung ein Rückſchritt. Aber dieſe Geſtaltung iſt auch der weſentlichſten Umgeſtaltung fähig, ebenſo wie früher gewiſſe Extreme der Arbeitsteilung wieder umgebildet oder gar ganz rückgängig gemacht wurden, z. B. die Sklaverei. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß jede zu einſeitige Ausbildung und Thätigkeit einer einzelnen körperlichen oder geiſtigen Funktion die Geſundheit des ganzen Menſchen bedroht, und daß ſo zuletzt auch die Specialkraft gelähmt werden kann. Aber deshalb iſt nicht jede Arbeitsteilung falſch, ſondern nur gewiſſe extreme Geſtaltungen derſelben; ihre maßvolle mit Gegengewichten und Schranken umgebene Durchführung, iſt das der beſchränkten individuellen Menſchenkraft adäquate; ſie iſt das Mittel, das Individuelle und Wertvolle im Menſchen auszubilden. Deshalb ſagt Hegel mit Recht, wer einen ſpeciellen Beruf ergreift, ergiebt ſich nicht dem Niedrigen, ſondern wird erſt ein rechter Menſch. Und Goethe läßt mit Recht den titaniſchen Fauſt als Dämme bauenden Landwirt, den äſthetiſierenden Wilhelm Meiſter als Wundarzt enden und glücklich werden. Es kommt bei jedem Schritte der Arbeitsteilung darauf an, wie er die Motive und Zielpunkte menſchlicher Thätigkeit umgeſtalte und durch Veränderung des ganzen Lebens und ſeines Inhaltes auf die Individuen zurückwirke, wie die unveräußerlichen Eigenzwecke jedes Menſchen und die arbeitsteiligen Funktionen ſich vertragen, wie der Verluſt auf der Seite der allgemeinen Ausbildung und vielſeitigen Thätigkeit ausgeglichen werde durch die Thatſache, daß die einſeitige Specialarbeit den Menſchen doch in den Dienſt der Geſellſchaft ſtelle, ihm neben harter Arbeit doch auch höhere Zwecke ſetze oder wenigſtens ihn einfüge in ein Syſtem geſellſchaftlichen Zuſammenhanges und ſittlicher Solidarität. Die Abrechnung zwiſchen dieſen beiden Konten kann dabei immer wieder zeitweiſe zu Ungunſten des Individuums ausfallen; d. h. der geſellſchaftliche Fortſchritt und die Arbeitsteilung iſt nicht möglich, ohne daß immer wieder zeitweiſe ihr einzelne Individuen und Klaſſen geopfert werden. Und daher wird ſtets von neuem der Antrieb entſpringen, die geſellſchaftlichen Ordnungen ſo weit zu beſſern und zu korrigieren, daß die Zahl dieſer Opfer abnehme. Aber es heißt, ſich auf den individualiſtiſchen ſtatt auf den geſellſchaftlichen Standpunkt ſtellen, wenn die ſocialiſtiſche Theorie alle Arbeitsteilung aufheben, jeden Menſchen für alle Berufe erziehen und ihn dann ſtunden-, tage-, monats- oder jahreweiſe allen zuteilen will. Damit wird die menſchliche Natur und ihre Ausbildungsfähigkeit gänzlich verkannt; es wird die Vererbung der menſchlichen Fähigkeiten überſehen; es

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/382>, abgerufen am 24.04.2024.