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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.

Wenn so die Thätigkeit von Mann und Frau in gewissem Sinne weiter als je
auseinandergeht, so ergänzen sich beide doch besser als früher; beide Teile erreichen so
die Vollendung ihrer specifischen Eigentümlichkeiten, leisten mehr und erzeugen durch-
schnittlich mehr Glück für sich und die anderen. Die Arbeit des Mannes in Staat
und Volkswirtschaft mag dabei als die bedeutungsvollere erscheinen; sie ist doch für
jeden einzelnen Mitarbeiter ein arbeitsteiliges Stückwerk, dessen Resultate das Individuum
oft gar nicht, oft erst spät übersieht. Die Arbeit der Frauen im Hause umschließt einen
kleineren, aber einen vollendeten, harmonischen Kreis; die Gattin, die dem Manne das
Mahl bereitet, ihm abends die Stirne glättet, die Kinder vorführt, wird dienend zur
Glück spendenden Herrscherin ihres Hauses; sie sieht jeden Tag und jede Stunde die
Früchte ihres Thuns vor sich und weiß, daß in ihrem kleinen Reiche Anfang und Ende
alles menschlichen Strebens liege. Die Kindererziehung der patriarchalischen Familie
verliert ihre Härte, ihre egoistischen Zwecke; muß jetzt die Mutter sie mehr allein über-
nehmen, so tritt ihr dafür die Schule helfend zur Seite, und im Bunde mit ihr kann
sie erreichen, was früher nie möglich war. Ihre socialen Pflichten außer dem Hause,
in Vereinen, in der Armenpflege, in der Erziehung und Beeinflussung der Kinder der
unteren Klassen kann die Frau heute leichter als früher erfüllen, weil sie zu Hause ent-
lastet ist. Die hohen Aufgaben und Genüsse der Kunst und der Geselligkeit haben heute
vielfach außerhalb des Hauses Organisationen erzeugt, welche mit der Familie zusammen
wirken müssen. Ich nenne das Theater- und Konzertwesen, die Vereine für Geselligkeit
und alles Derartige. Aber die Beziehungen dieser Kreise und Organe zur Familie sind
nicht schwer zu ordnen. Und daneben umschließt doch die heutige Häuslichkeit die beste
und höchste Art Geselligkeit, den höchsten Musik- und Litteraturgenuß. Die antike Welt
und das Mittelalter kannten in der Hauptsache nur öffentliche Feste, das Tanzvergnügen
im Stadt- oder Zunfthause, den täglichen Wirtshausbesuch der Männer, während nun
doch das Haus der Mittelpunkt der Geselligkeit der Gebildeten wurde.

So zeigt die moderne Familienwirtschaft neben ihren Schwierigkeiten doch auch
große Fortschritte. Sind sie freilich noch lange nicht überall eingetreten, so sind sie
doch bei den höheren Kulturvölkern in den höheren und mittleren, teilweise auch schon
in den unteren Klassen erkennbar. Das Wesentliche ist, daß die Familie aus einem
Herrschaftsverhältnis mehr und mehr eine sittliche Genossenschaft, daß sie aus einem
Produktions- und Geschäftsinstitut mehr und mehr zu einem Institut der sittlichen
Lebensgemeinschaft wurde, daß sie durch die Beschränkung ihrer wirtschaftlichen die
edleren, idealen Zwecke mehr verfolgen, ein inhaltreicheres Gefäß für die Erzeugung
sympathischer Gefühle werden konnte.

92. Gegenwart und Zukunft der Familie. Frauenfrage. Wenn
ich glaube, wahrscheinlich gemacht zu haben, daß die eben erwähnten Lichtseiten mehr im
Wesen der modernen Familienwirtschaft begründet, die Schattenseiten mehr überwindbare
Begleiterscheinungen des Überganges seien, so läßt sich hiefür ein ganz strenger Beweis
nicht führen. Die Zukunft zu schätzen, bleibt problematisch. Jedenfalls wird derjenige ein
abweichendes Urteil hierüber wie über die ganze neuere Familienentwickelung haben, der
annimmt, sie werde und müsse überhaupt in der Form verschwinden, in welcher sie heute noch
als wirtschaftlicher Sonderhaushalt, basiert auf freiem sympathischem Austausch, existiert.

Diese Annahme geht davon aus, daß die Familienwirtschaft in den heutigen
Groß- und Weltstaaten mit ihrem leichten Verkehr, mit ihren Bildungsanstalten, ihrer
Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Ehefreiheit, ihrer zunehmenden Arbeitsteilung, ihrer
kommunalen Armenpflege und staatlichen Versicherung wachsenden Einschränkungen von
zwei Seiten ausgesetzt sei: der vordringende Individualismus wolle die einzelne Person
immer mehr auf sich selbst stellen, die zunehmenden gesellschaftlichen Einrichtungen
nähmen thatsächlich der Familie eine Funktion nach der anderen, bis nichts mehr bleibe.

Und es ist wahr, die selbständige Organisation der Produktion hat dem Familien-
haushalte nicht bloß jene alten Aufgaben des Spinnens und Webens, des Nähens und
Waschens, des Backens und Schlachtens entzogen; gesellschaftliche Einrichtungen geben
uns auch schon Gas, Elektricität, Wasser, vielleicht auch bald Wärme, sie geben uns

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.

Wenn ſo die Thätigkeit von Mann und Frau in gewiſſem Sinne weiter als je
auseinandergeht, ſo ergänzen ſich beide doch beſſer als früher; beide Teile erreichen ſo
die Vollendung ihrer ſpecifiſchen Eigentümlichkeiten, leiſten mehr und erzeugen durch-
ſchnittlich mehr Glück für ſich und die anderen. Die Arbeit des Mannes in Staat
und Volkswirtſchaft mag dabei als die bedeutungsvollere erſcheinen; ſie iſt doch für
jeden einzelnen Mitarbeiter ein arbeitsteiliges Stückwerk, deſſen Reſultate das Individuum
oft gar nicht, oft erſt ſpät überſieht. Die Arbeit der Frauen im Hauſe umſchließt einen
kleineren, aber einen vollendeten, harmoniſchen Kreis; die Gattin, die dem Manne das
Mahl bereitet, ihm abends die Stirne glättet, die Kinder vorführt, wird dienend zur
Glück ſpendenden Herrſcherin ihres Hauſes; ſie ſieht jeden Tag und jede Stunde die
Früchte ihres Thuns vor ſich und weiß, daß in ihrem kleinen Reiche Anfang und Ende
alles menſchlichen Strebens liege. Die Kindererziehung der patriarchaliſchen Familie
verliert ihre Härte, ihre egoiſtiſchen Zwecke; muß jetzt die Mutter ſie mehr allein über-
nehmen, ſo tritt ihr dafür die Schule helfend zur Seite, und im Bunde mit ihr kann
ſie erreichen, was früher nie möglich war. Ihre ſocialen Pflichten außer dem Hauſe,
in Vereinen, in der Armenpflege, in der Erziehung und Beeinfluſſung der Kinder der
unteren Klaſſen kann die Frau heute leichter als früher erfüllen, weil ſie zu Hauſe ent-
laſtet iſt. Die hohen Aufgaben und Genüſſe der Kunſt und der Geſelligkeit haben heute
vielfach außerhalb des Hauſes Organiſationen erzeugt, welche mit der Familie zuſammen
wirken müſſen. Ich nenne das Theater- und Konzertweſen, die Vereine für Geſelligkeit
und alles Derartige. Aber die Beziehungen dieſer Kreiſe und Organe zur Familie ſind
nicht ſchwer zu ordnen. Und daneben umſchließt doch die heutige Häuslichkeit die beſte
und höchſte Art Geſelligkeit, den höchſten Muſik- und Litteraturgenuß. Die antike Welt
und das Mittelalter kannten in der Hauptſache nur öffentliche Feſte, das Tanzvergnügen
im Stadt- oder Zunfthauſe, den täglichen Wirtshausbeſuch der Männer, während nun
doch das Haus der Mittelpunkt der Geſelligkeit der Gebildeten wurde.

So zeigt die moderne Familienwirtſchaft neben ihren Schwierigkeiten doch auch
große Fortſchritte. Sind ſie freilich noch lange nicht überall eingetreten, ſo ſind ſie
doch bei den höheren Kulturvölkern in den höheren und mittleren, teilweiſe auch ſchon
in den unteren Klaſſen erkennbar. Das Weſentliche iſt, daß die Familie aus einem
Herrſchaftsverhältnis mehr und mehr eine ſittliche Genoſſenſchaft, daß ſie aus einem
Produktions- und Geſchäftsinſtitut mehr und mehr zu einem Inſtitut der ſittlichen
Lebensgemeinſchaft wurde, daß ſie durch die Beſchränkung ihrer wirtſchaftlichen die
edleren, idealen Zwecke mehr verfolgen, ein inhaltreicheres Gefäß für die Erzeugung
ſympathiſcher Gefühle werden konnte.

92. Gegenwart und Zukunft der Familie. Frauenfrage. Wenn
ich glaube, wahrſcheinlich gemacht zu haben, daß die eben erwähnten Lichtſeiten mehr im
Weſen der modernen Familienwirtſchaft begründet, die Schattenſeiten mehr überwindbare
Begleiterſcheinungen des Überganges ſeien, ſo läßt ſich hiefür ein ganz ſtrenger Beweis
nicht führen. Die Zukunft zu ſchätzen, bleibt problematiſch. Jedenfalls wird derjenige ein
abweichendes Urteil hierüber wie über die ganze neuere Familienentwickelung haben, der
annimmt, ſie werde und müſſe überhaupt in der Form verſchwinden, in welcher ſie heute noch
als wirtſchaftlicher Sonderhaushalt, baſiert auf freiem ſympathiſchem Austauſch, exiſtiert.

Dieſe Annahme geht davon aus, daß die Familienwirtſchaft in den heutigen
Groß- und Weltſtaaten mit ihrem leichten Verkehr, mit ihren Bildungsanſtalten, ihrer
Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Ehefreiheit, ihrer zunehmenden Arbeitsteilung, ihrer
kommunalen Armenpflege und ſtaatlichen Verſicherung wachſenden Einſchränkungen von
zwei Seiten ausgeſetzt ſei: der vordringende Individualismus wolle die einzelne Perſon
immer mehr auf ſich ſelbſt ſtellen, die zunehmenden geſellſchaftlichen Einrichtungen
nähmen thatſächlich der Familie eine Funktion nach der anderen, bis nichts mehr bleibe.

Und es iſt wahr, die ſelbſtändige Organiſation der Produktion hat dem Familien-
haushalte nicht bloß jene alten Aufgaben des Spinnens und Webens, des Nähens und
Waſchens, des Backens und Schlachtens entzogen; geſellſchaftliche Einrichtungen geben
uns auch ſchon Gas, Elektricität, Waſſer, vielleicht auch bald Wärme, ſie geben uns

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[250/0266] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Wenn ſo die Thätigkeit von Mann und Frau in gewiſſem Sinne weiter als je auseinandergeht, ſo ergänzen ſich beide doch beſſer als früher; beide Teile erreichen ſo die Vollendung ihrer ſpecifiſchen Eigentümlichkeiten, leiſten mehr und erzeugen durch- ſchnittlich mehr Glück für ſich und die anderen. Die Arbeit des Mannes in Staat und Volkswirtſchaft mag dabei als die bedeutungsvollere erſcheinen; ſie iſt doch für jeden einzelnen Mitarbeiter ein arbeitsteiliges Stückwerk, deſſen Reſultate das Individuum oft gar nicht, oft erſt ſpät überſieht. Die Arbeit der Frauen im Hauſe umſchließt einen kleineren, aber einen vollendeten, harmoniſchen Kreis; die Gattin, die dem Manne das Mahl bereitet, ihm abends die Stirne glättet, die Kinder vorführt, wird dienend zur Glück ſpendenden Herrſcherin ihres Hauſes; ſie ſieht jeden Tag und jede Stunde die Früchte ihres Thuns vor ſich und weiß, daß in ihrem kleinen Reiche Anfang und Ende alles menſchlichen Strebens liege. Die Kindererziehung der patriarchaliſchen Familie verliert ihre Härte, ihre egoiſtiſchen Zwecke; muß jetzt die Mutter ſie mehr allein über- nehmen, ſo tritt ihr dafür die Schule helfend zur Seite, und im Bunde mit ihr kann ſie erreichen, was früher nie möglich war. Ihre ſocialen Pflichten außer dem Hauſe, in Vereinen, in der Armenpflege, in der Erziehung und Beeinfluſſung der Kinder der unteren Klaſſen kann die Frau heute leichter als früher erfüllen, weil ſie zu Hauſe ent- laſtet iſt. Die hohen Aufgaben und Genüſſe der Kunſt und der Geſelligkeit haben heute vielfach außerhalb des Hauſes Organiſationen erzeugt, welche mit der Familie zuſammen wirken müſſen. Ich nenne das Theater- und Konzertweſen, die Vereine für Geſelligkeit und alles Derartige. Aber die Beziehungen dieſer Kreiſe und Organe zur Familie ſind nicht ſchwer zu ordnen. Und daneben umſchließt doch die heutige Häuslichkeit die beſte und höchſte Art Geſelligkeit, den höchſten Muſik- und Litteraturgenuß. Die antike Welt und das Mittelalter kannten in der Hauptſache nur öffentliche Feſte, das Tanzvergnügen im Stadt- oder Zunfthauſe, den täglichen Wirtshausbeſuch der Männer, während nun doch das Haus der Mittelpunkt der Geſelligkeit der Gebildeten wurde. So zeigt die moderne Familienwirtſchaft neben ihren Schwierigkeiten doch auch große Fortſchritte. Sind ſie freilich noch lange nicht überall eingetreten, ſo ſind ſie doch bei den höheren Kulturvölkern in den höheren und mittleren, teilweiſe auch ſchon in den unteren Klaſſen erkennbar. Das Weſentliche iſt, daß die Familie aus einem Herrſchaftsverhältnis mehr und mehr eine ſittliche Genoſſenſchaft, daß ſie aus einem Produktions- und Geſchäftsinſtitut mehr und mehr zu einem Inſtitut der ſittlichen Lebensgemeinſchaft wurde, daß ſie durch die Beſchränkung ihrer wirtſchaftlichen die edleren, idealen Zwecke mehr verfolgen, ein inhaltreicheres Gefäß für die Erzeugung ſympathiſcher Gefühle werden konnte. 92. Gegenwart und Zukunft der Familie. Frauenfrage. Wenn ich glaube, wahrſcheinlich gemacht zu haben, daß die eben erwähnten Lichtſeiten mehr im Weſen der modernen Familienwirtſchaft begründet, die Schattenſeiten mehr überwindbare Begleiterſcheinungen des Überganges ſeien, ſo läßt ſich hiefür ein ganz ſtrenger Beweis nicht führen. Die Zukunft zu ſchätzen, bleibt problematiſch. Jedenfalls wird derjenige ein abweichendes Urteil hierüber wie über die ganze neuere Familienentwickelung haben, der annimmt, ſie werde und müſſe überhaupt in der Form verſchwinden, in welcher ſie heute noch als wirtſchaftlicher Sonderhaushalt, baſiert auf freiem ſympathiſchem Austauſch, exiſtiert. Dieſe Annahme geht davon aus, daß die Familienwirtſchaft in den heutigen Groß- und Weltſtaaten mit ihrem leichten Verkehr, mit ihren Bildungsanſtalten, ihrer Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Ehefreiheit, ihrer zunehmenden Arbeitsteilung, ihrer kommunalen Armenpflege und ſtaatlichen Verſicherung wachſenden Einſchränkungen von zwei Seiten ausgeſetzt ſei: der vordringende Individualismus wolle die einzelne Perſon immer mehr auf ſich ſelbſt ſtellen, die zunehmenden geſellſchaftlichen Einrichtungen nähmen thatſächlich der Familie eine Funktion nach der anderen, bis nichts mehr bleibe. Und es iſt wahr, die ſelbſtändige Organiſation der Produktion hat dem Familien- haushalte nicht bloß jene alten Aufgaben des Spinnens und Webens, des Nähens und Waſchens, des Backens und Schlachtens entzogen; geſellſchaftliche Einrichtungen geben uns auch ſchon Gas, Elektricität, Waſſer, vielleicht auch bald Wärme, ſie geben uns

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/266>, abgerufen am 19.04.2024.