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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die wirtschaftliche Funktion und Einordnung der Kleinfamilie in die Volkswirtschaft.
in Anspruch nehmen; das ist der Fall, wo schon die Kinder verdienen sollen, wo Frau
und Mann von morgens 6 Uhr bis spät abends in der oft weit entlegenen Fabrik
thätig sein müssen.

Wir kommen specieller auf diese Gefahren und auf die socialistischen Pläne, welche
im Anschluß an diese Tendenzen überhaupt die Familienwirtschaft aus unserer gesell-
schaftlichen Verfassung hinausweisen wollen, im folgenden Paragraphen. Hier sei nur
noch ein allgemeines Wort über das schwierige Problem beigefügt, die Anforderungen
der Familienwirtschaft und der arbeitsteiligen Thätigkeit ihrer Glieder in die rechte zeit-
liche und räumliche Verbindung überhaupt zu bringen. Das Problem existierte im
patriarchalischen Haushalt, wo Wohnung und Produktionsstätte zusammenfiel, eigentlich
noch gar nicht. Da war es leicht, anzuordnen, daß jeder zur rechten Zeit bei jeder
Arbeit, jedem Zusammenwirken, auf dem Ackerfelde, beim Kirchgange, beim Essen, beim
Schlafen war; die Familienglieder sahen sich stets, kontrollierten sich stets, lebten sich
ganz ineinander ein. Die moderne Familie und ihre Wohnung ist heute gleichsam
nicht mehr ein selbständiges Ganzes, sondern ein untergeordneter Teil einer Stadt, eines
Dorfes, eines Bergwerkes, einer Großunternehmung; die Familie wohnt für sich, oft
mit einigen Dutzend anderen Familien, oft mit allen möglichen Werkstätten und
Läden, die sie nicht angehen, in einem und demselben großen Hause; sie wohnt meist
an anderer Stelle, oft sehr weit entfernt von den Berufsplätzen, wo ihre Glieder arbeiten.
Sie sendet dieselben in die Schule, in die Fabrik, ins Bureau, auf die Acker- und
Waldarbeit. Alle diese verschiedenen Thätigkeiten liegen örtlich zerstreut, oft weit aus-
einander; jede hat für sich eine eigenartige Zeiteinteilung, kümmert sich um die der
Familienwirtschaft und der anderen Organe nicht. Jedes derselben verfolgt einseitig
seine Zwecke; und doch ist das zu verwendende Personenmaterial allen gemeinsam; es
ist oft unmöglich, daß es zugleich allen den widersprechenden Aufgaben ohne Konflikte
und Reibungen nachkomme. Der Unternehmung wird oftmals Nacht- und Sonntags-
arbeit frommen, die Familie wird dadurch geschädigt. Die ganze räumliche Anordnung
der Wohnungen, der Arbeitsstätten, der Schulen etc., die ganze Zeiteinteilung, die
gesamten Geschäfts- und sonstigen Ordnungen, die sich die einzelnen Organisationen
geben, müssen eigentlich ineinander gepaßt sein, ein harmonisches Ganze ausmachen, wenn
die Gesellschaft gedeihen, die Unternehmungen und die Familien nicht geschädigt werden
sollen. Die Bautechnik, Verkehrs- und Wohnungsverfassung unserer großen Städte und
Fabrikorte ist dem freilich unendlich schwierigen Problem trotz der zahlreichsten Anläufe
noch entfernt nicht ganz gerecht geworden, alle Werkstätten, alle Schulen, alle Woh-
nungen so zu legen, ihre Lebensordnungen so zu gestalten, daß die Mitglieder derselben
Familie sich so oft als nötig zusammenfinden können, daß die Unerwachsenen stets unter der
rechten Kontrolle stehen. Die rechten Kompromisse zwischen den Erziehungs-, Produktions-
und Familieninteressen, die neuen Ordnungen des gemeinsamen Zusammenwirkens können
erst in langen Kämpfen und Erfahrungen gewonnen werden. Nur sittlich und intellektuell
höher stehende Menschen sind den schwieriger gewordenen Aufgaben überhaupt gewachsen.
Daher die allgemeinen Klagen über ungesunde, unglückliche Familienverhältnisse, die im
Altertume wie in der Neuzeit überall sich erheben, wo der große Scheidungsprozeß
zwischen der Familienwirtschaft und den anderen neuen Organen einsetzte. Einer der
beredtesten Ankläger unserer Zeit in dieser Richtung ist Le Play. Aber wenn er die
mangelnde Stabilität des heutigen Familienlebens beklagt, wenn er schildert, daß
die Kinder heute meist nicht werden, was die Eltern waren, deren Geschäfte nicht
fortsetzen, wenn er die Schäden berechnet, die solches Abbrechen und Neugründen der
Familienwirtschaft habe, so hat er mit seinen Klagen über die Auflösung der alten
sittlichen Zusammenhänge gewiß nicht Unrecht, aber er vergißt, daß die heutige
kleine Familie nicht mehr ein so stabiles, so allseitiges Produktionsorgan sein kann,
wenn man unsere heutige Technik und Volkswirtschaft überhaupt zuläßt, daß Schule,
Vereinsleben und anderes teilweise dem Individuum ersetzen, was die Familie nicht
mehr bieten kann, daß das tyrannische Joch der älteren Hausgenossenschaft nicht bloß
Liebe erzeugte, daß die Auflösung sympathischer Bande zwischen entfernteren Familien-

Die wirtſchaftliche Funktion und Einordnung der Kleinfamilie in die Volkswirtſchaft.
in Anſpruch nehmen; das iſt der Fall, wo ſchon die Kinder verdienen ſollen, wo Frau
und Mann von morgens 6 Uhr bis ſpät abends in der oft weit entlegenen Fabrik
thätig ſein müſſen.

Wir kommen ſpecieller auf dieſe Gefahren und auf die ſocialiſtiſchen Pläne, welche
im Anſchluß an dieſe Tendenzen überhaupt die Familienwirtſchaft aus unſerer geſell-
ſchaftlichen Verfaſſung hinausweiſen wollen, im folgenden Paragraphen. Hier ſei nur
noch ein allgemeines Wort über das ſchwierige Problem beigefügt, die Anforderungen
der Familienwirtſchaft und der arbeitsteiligen Thätigkeit ihrer Glieder in die rechte zeit-
liche und räumliche Verbindung überhaupt zu bringen. Das Problem exiſtierte im
patriarchaliſchen Haushalt, wo Wohnung und Produktionsſtätte zuſammenfiel, eigentlich
noch gar nicht. Da war es leicht, anzuordnen, daß jeder zur rechten Zeit bei jeder
Arbeit, jedem Zuſammenwirken, auf dem Ackerfelde, beim Kirchgange, beim Eſſen, beim
Schlafen war; die Familienglieder ſahen ſich ſtets, kontrollierten ſich ſtets, lebten ſich
ganz ineinander ein. Die moderne Familie und ihre Wohnung iſt heute gleichſam
nicht mehr ein ſelbſtändiges Ganzes, ſondern ein untergeordneter Teil einer Stadt, eines
Dorfes, eines Bergwerkes, einer Großunternehmung; die Familie wohnt für ſich, oft
mit einigen Dutzend anderen Familien, oft mit allen möglichen Werkſtätten und
Läden, die ſie nicht angehen, in einem und demſelben großen Hauſe; ſie wohnt meiſt
an anderer Stelle, oft ſehr weit entfernt von den Berufsplätzen, wo ihre Glieder arbeiten.
Sie ſendet dieſelben in die Schule, in die Fabrik, ins Bureau, auf die Acker- und
Waldarbeit. Alle dieſe verſchiedenen Thätigkeiten liegen örtlich zerſtreut, oft weit aus-
einander; jede hat für ſich eine eigenartige Zeiteinteilung, kümmert ſich um die der
Familienwirtſchaft und der anderen Organe nicht. Jedes derſelben verfolgt einſeitig
ſeine Zwecke; und doch iſt das zu verwendende Perſonenmaterial allen gemeinſam; es
iſt oft unmöglich, daß es zugleich allen den widerſprechenden Aufgaben ohne Konflikte
und Reibungen nachkomme. Der Unternehmung wird oftmals Nacht- und Sonntags-
arbeit frommen, die Familie wird dadurch geſchädigt. Die ganze räumliche Anordnung
der Wohnungen, der Arbeitsſtätten, der Schulen ꝛc., die ganze Zeiteinteilung, die
geſamten Geſchäfts- und ſonſtigen Ordnungen, die ſich die einzelnen Organiſationen
geben, müſſen eigentlich ineinander gepaßt ſein, ein harmoniſches Ganze ausmachen, wenn
die Geſellſchaft gedeihen, die Unternehmungen und die Familien nicht geſchädigt werden
ſollen. Die Bautechnik, Verkehrs- und Wohnungsverfaſſung unſerer großen Städte und
Fabrikorte iſt dem freilich unendlich ſchwierigen Problem trotz der zahlreichſten Anläufe
noch entfernt nicht ganz gerecht geworden, alle Werkſtätten, alle Schulen, alle Woh-
nungen ſo zu legen, ihre Lebensordnungen ſo zu geſtalten, daß die Mitglieder derſelben
Familie ſich ſo oft als nötig zuſammenfinden können, daß die Unerwachſenen ſtets unter der
rechten Kontrolle ſtehen. Die rechten Kompromiſſe zwiſchen den Erziehungs-, Produktions-
und Familienintereſſen, die neuen Ordnungen des gemeinſamen Zuſammenwirkens können
erſt in langen Kämpfen und Erfahrungen gewonnen werden. Nur ſittlich und intellektuell
höher ſtehende Menſchen ſind den ſchwieriger gewordenen Aufgaben überhaupt gewachſen.
Daher die allgemeinen Klagen über ungeſunde, unglückliche Familienverhältniſſe, die im
Altertume wie in der Neuzeit überall ſich erheben, wo der große Scheidungsprozeß
zwiſchen der Familienwirtſchaft und den anderen neuen Organen einſetzte. Einer der
beredteſten Ankläger unſerer Zeit in dieſer Richtung iſt Le Play. Aber wenn er die
mangelnde Stabilität des heutigen Familienlebens beklagt, wenn er ſchildert, daß
die Kinder heute meiſt nicht werden, was die Eltern waren, deren Geſchäfte nicht
fortſetzen, wenn er die Schäden berechnet, die ſolches Abbrechen und Neugründen der
Familienwirtſchaft habe, ſo hat er mit ſeinen Klagen über die Auflöſung der alten
ſittlichen Zuſammenhänge gewiß nicht Unrecht, aber er vergißt, daß die heutige
kleine Familie nicht mehr ein ſo ſtabiles, ſo allſeitiges Produktionsorgan ſein kann,
wenn man unſere heutige Technik und Volkswirtſchaft überhaupt zuläßt, daß Schule,
Vereinsleben und anderes teilweiſe dem Individuum erſetzen, was die Familie nicht
mehr bieten kann, daß das tyranniſche Joch der älteren Hausgenoſſenſchaft nicht bloß
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[247/0263] Die wirtſchaftliche Funktion und Einordnung der Kleinfamilie in die Volkswirtſchaft. in Anſpruch nehmen; das iſt der Fall, wo ſchon die Kinder verdienen ſollen, wo Frau und Mann von morgens 6 Uhr bis ſpät abends in der oft weit entlegenen Fabrik thätig ſein müſſen. Wir kommen ſpecieller auf dieſe Gefahren und auf die ſocialiſtiſchen Pläne, welche im Anſchluß an dieſe Tendenzen überhaupt die Familienwirtſchaft aus unſerer geſell- ſchaftlichen Verfaſſung hinausweiſen wollen, im folgenden Paragraphen. Hier ſei nur noch ein allgemeines Wort über das ſchwierige Problem beigefügt, die Anforderungen der Familienwirtſchaft und der arbeitsteiligen Thätigkeit ihrer Glieder in die rechte zeit- liche und räumliche Verbindung überhaupt zu bringen. Das Problem exiſtierte im patriarchaliſchen Haushalt, wo Wohnung und Produktionsſtätte zuſammenfiel, eigentlich noch gar nicht. Da war es leicht, anzuordnen, daß jeder zur rechten Zeit bei jeder Arbeit, jedem Zuſammenwirken, auf dem Ackerfelde, beim Kirchgange, beim Eſſen, beim Schlafen war; die Familienglieder ſahen ſich ſtets, kontrollierten ſich ſtets, lebten ſich ganz ineinander ein. Die moderne Familie und ihre Wohnung iſt heute gleichſam nicht mehr ein ſelbſtändiges Ganzes, ſondern ein untergeordneter Teil einer Stadt, eines Dorfes, eines Bergwerkes, einer Großunternehmung; die Familie wohnt für ſich, oft mit einigen Dutzend anderen Familien, oft mit allen möglichen Werkſtätten und Läden, die ſie nicht angehen, in einem und demſelben großen Hauſe; ſie wohnt meiſt an anderer Stelle, oft ſehr weit entfernt von den Berufsplätzen, wo ihre Glieder arbeiten. Sie ſendet dieſelben in die Schule, in die Fabrik, ins Bureau, auf die Acker- und Waldarbeit. Alle dieſe verſchiedenen Thätigkeiten liegen örtlich zerſtreut, oft weit aus- einander; jede hat für ſich eine eigenartige Zeiteinteilung, kümmert ſich um die der Familienwirtſchaft und der anderen Organe nicht. Jedes derſelben verfolgt einſeitig ſeine Zwecke; und doch iſt das zu verwendende Perſonenmaterial allen gemeinſam; es iſt oft unmöglich, daß es zugleich allen den widerſprechenden Aufgaben ohne Konflikte und Reibungen nachkomme. Der Unternehmung wird oftmals Nacht- und Sonntags- arbeit frommen, die Familie wird dadurch geſchädigt. Die ganze räumliche Anordnung der Wohnungen, der Arbeitsſtätten, der Schulen ꝛc., die ganze Zeiteinteilung, die geſamten Geſchäfts- und ſonſtigen Ordnungen, die ſich die einzelnen Organiſationen geben, müſſen eigentlich ineinander gepaßt ſein, ein harmoniſches Ganze ausmachen, wenn die Geſellſchaft gedeihen, die Unternehmungen und die Familien nicht geſchädigt werden ſollen. Die Bautechnik, Verkehrs- und Wohnungsverfaſſung unſerer großen Städte und Fabrikorte iſt dem freilich unendlich ſchwierigen Problem trotz der zahlreichſten Anläufe noch entfernt nicht ganz gerecht geworden, alle Werkſtätten, alle Schulen, alle Woh- nungen ſo zu legen, ihre Lebensordnungen ſo zu geſtalten, daß die Mitglieder derſelben Familie ſich ſo oft als nötig zuſammenfinden können, daß die Unerwachſenen ſtets unter der rechten Kontrolle ſtehen. Die rechten Kompromiſſe zwiſchen den Erziehungs-, Produktions- und Familienintereſſen, die neuen Ordnungen des gemeinſamen Zuſammenwirkens können erſt in langen Kämpfen und Erfahrungen gewonnen werden. Nur ſittlich und intellektuell höher ſtehende Menſchen ſind den ſchwieriger gewordenen Aufgaben überhaupt gewachſen. Daher die allgemeinen Klagen über ungeſunde, unglückliche Familienverhältniſſe, die im Altertume wie in der Neuzeit überall ſich erheben, wo der große Scheidungsprozeß zwiſchen der Familienwirtſchaft und den anderen neuen Organen einſetzte. Einer der beredteſten Ankläger unſerer Zeit in dieſer Richtung iſt Le Play. Aber wenn er die mangelnde Stabilität des heutigen Familienlebens beklagt, wenn er ſchildert, daß die Kinder heute meiſt nicht werden, was die Eltern waren, deren Geſchäfte nicht fortſetzen, wenn er die Schäden berechnet, die ſolches Abbrechen und Neugründen der Familienwirtſchaft habe, ſo hat er mit ſeinen Klagen über die Auflöſung der alten ſittlichen Zuſammenhänge gewiß nicht Unrecht, aber er vergißt, daß die heutige kleine Familie nicht mehr ein ſo ſtabiles, ſo allſeitiges Produktionsorgan ſein kann, wenn man unſere heutige Technik und Volkswirtſchaft überhaupt zuläßt, daß Schule, Vereinsleben und anderes teilweiſe dem Individuum erſetzen, was die Familie nicht mehr bieten kann, daß das tyranniſche Joch der älteren Hausgenoſſenſchaft nicht bloß Liebe erzeugte, daß die Auflöſung ſympathiſcher Bande zwiſchen entfernteren Familien-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/263>, abgerufen am 23.04.2024.