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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
schaften geworden. Überall im wesentlichen auf den Blutszusammenhang gegründet,
haben sie da, wo ihre feste Größe Bedingung der militärischen, wirtschaftlichen und
sonstigen Einrichtungen ist, oftmals durch Teilung, Zusammensetzung, Ergänzung eine
absichtliche und planmäßige Umbildung erfahren, womit die alte Kontroverse, ob die
Sippe auf Blut oder absichtlicher Einteilung beruhe, sich erledigt. Bei vielen Stämmen
bilden je zwei oder mehr Sippen Obergruppen, die man heute meist mit dem griechischen
Worte Phratrie bezeichnet.

Das oskische Wort famel bedeutet Knecht; die familia ist die auf Eigentum und
Herrschaft gegründete Verbindung eines Mannes mit einer Frau, den Kindern, Mägden
und Knechten, die als abhängige Arbeitskräfte dienen. Dieser römische Begriff, den die
Germanen nicht hatten -- sie kannten nur die Sippe und das Wort Ewa, Ehe, für
Bund überhaupt -- ging dann in die europäischen Sprachen über und wird in seiner,
der patriarchalischen und modernen Haus- und Familienwirtschaft entnommenen Be-
deutung jetzt auch rückwärts oft auf ältere Einrichtungen übertragen, die wesentlich andere
waren. Wir werden daher besser als Großfamilie nur die patriarchalische Familie
bezeichnen, nicht einen Verband von Sippengenossen und Muttergruppen, welche in
Langhäusern zusammen wohnen und in gewisser Beziehung zusammen wirtschaften. Unter
Muttergruppe verstehen wir die Verbindung und das Zusammenleben der Mutter
mit ihren Kindern, wie sie da vorkommt, wo der Vater nicht oder nicht ganz in dieser
örtlichen, häuslichen und wirtschaftlichen Gemeinschaft aufgeht. --

88. Die älteste Familienverfassung bis zum Mutterrecht. So
roh wir uns sicher die ältesten Menschen zu denken haben, so müssen wir sie uns doch
wohl vorstellen als durch die Blutsbande und ein gewisses Zusammenleben verbunden, als
kleine Horden, wo die Ernährung eine örtliche Verbindung von 20--100 Menschen gestattete,
als bloße Gruppen von Mann, Frau und Kindern, wo die Ernährung die Zerstreuung
nötig machte; aber mehrere benachbarte solcher Gruppen fanden sich dann doch sicher zu
gewissen Zwecken, z. B. zur Verteidigung zusammen, weil sie sich als Blutsgenossen
fühlten. Ohne herdenartige Eigenschaften, ohne gewisse Züge der Sympathie können wir
uns auch die rohesten Menschen nicht denken. Sie werden auch mehr als heute die
tiefst stehenden Stämme (z. B. die Feuerländer und die Buschmänner) in einem Klima,
auf einem Boden gelebt haben, die das Zusammenbleiben der Horden gestatteten.

Wo die Zerstreuung eine so weitgehende war, wie wir sie heute bei den eben
Genannten treffen, muß damals wie heute in der Regel Frau und Mann nebst den
unerwachsenen Kindern zusammen gelebt haben, zusammen gewandert sein, muß ein
Gewaltverhältnis des Mannes gegenüber Weib und Kindern stattgefunden, ein gewisses
Zusammenwirken, eine Art Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau Platz gegriffen
haben: der Schutz, die Jagd, der Fischfang war mehr Männer-, das Beerensammeln,
Schleppen der Habseligkeiten mehr Weibersache. Die furchtbare Not des Lebens drängte
damals wohl das Geschlechtsleben, das vielleicht noch an periodische Brunstzeit geknüpft,
das durch jahrelanges Säugen eingeschränkt war, wie alle zarteren Empfindungen mehr
zurück als später. Gewaltthätigkeit und Gleichgültigkeit war und ist heute noch vielfach
die Signatur solcher Gruppenverhältnisse. Eine Ehe im Sinne des späteren semitischen
oder indogermanischen Patriarchats ist nicht vorhanden; die Kinder verlassen die Eltern,
sobald sie sich ernähren können. Über die Ausschließlichkeit und Dauer der Geschlechts-
beziehungen zwischen demselben Mann und derselben Frau sind wir nicht unterrichtet.
Wir werden sie uns nicht nach heutigen Bildern zu denken haben.

Auch wo Horden von der erwähnten Größe zusammenlebten, werden wir nach den
Zuständen der heutigen niederen Jäger- und Fischerstämme annehmen können, daß in
ihnen die Verbindung von Mann und Frau eine ähnliche war: eine gewisse rohe Gewalt
des Mannes über Weib und Kind treffen wir da heute noch überwiegend; der Vater ist
meist als Erzeuger bekannt. Aber die Kinder sind früh selbständig. Das Gefühl der Zu-
gehörigkeit zur Horde ist stärker oder ebenso stark wie das zwischen Mann und Frau, Eltern
und Kindern; eine eigentliche Familienwirtschaft ist nicht vorhanden, wenn auch geschlechts-
reife Paare in gewisser Weise zusammenhalten. Die durch besondere Namen hervor-

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſchaften geworden. Überall im weſentlichen auf den Blutszuſammenhang gegründet,
haben ſie da, wo ihre feſte Größe Bedingung der militäriſchen, wirtſchaftlichen und
ſonſtigen Einrichtungen iſt, oftmals durch Teilung, Zuſammenſetzung, Ergänzung eine
abſichtliche und planmäßige Umbildung erfahren, womit die alte Kontroverſe, ob die
Sippe auf Blut oder abſichtlicher Einteilung beruhe, ſich erledigt. Bei vielen Stämmen
bilden je zwei oder mehr Sippen Obergruppen, die man heute meiſt mit dem griechiſchen
Worte Phratrie bezeichnet.

Das oskiſche Wort famel bedeutet Knecht; die familia iſt die auf Eigentum und
Herrſchaft gegründete Verbindung eines Mannes mit einer Frau, den Kindern, Mägden
und Knechten, die als abhängige Arbeitskräfte dienen. Dieſer römiſche Begriff, den die
Germanen nicht hatten — ſie kannten nur die Sippe und das Wort Ewa, Ehe, für
Bund überhaupt — ging dann in die europäiſchen Sprachen über und wird in ſeiner,
der patriarchaliſchen und modernen Haus- und Familienwirtſchaft entnommenen Be-
deutung jetzt auch rückwärts oft auf ältere Einrichtungen übertragen, die weſentlich andere
waren. Wir werden daher beſſer als Großfamilie nur die patriarchaliſche Familie
bezeichnen, nicht einen Verband von Sippengenoſſen und Muttergruppen, welche in
Langhäuſern zuſammen wohnen und in gewiſſer Beziehung zuſammen wirtſchaften. Unter
Muttergruppe verſtehen wir die Verbindung und das Zuſammenleben der Mutter
mit ihren Kindern, wie ſie da vorkommt, wo der Vater nicht oder nicht ganz in dieſer
örtlichen, häuslichen und wirtſchaftlichen Gemeinſchaft aufgeht. —

88. Die älteſte Familienverfaſſung bis zum Mutterrecht. So
roh wir uns ſicher die älteſten Menſchen zu denken haben, ſo müſſen wir ſie uns doch
wohl vorſtellen als durch die Blutsbande und ein gewiſſes Zuſammenleben verbunden, als
kleine Horden, wo die Ernährung eine örtliche Verbindung von 20—100 Menſchen geſtattete,
als bloße Gruppen von Mann, Frau und Kindern, wo die Ernährung die Zerſtreuung
nötig machte; aber mehrere benachbarte ſolcher Gruppen fanden ſich dann doch ſicher zu
gewiſſen Zwecken, z. B. zur Verteidigung zuſammen, weil ſie ſich als Blutsgenoſſen
fühlten. Ohne herdenartige Eigenſchaften, ohne gewiſſe Züge der Sympathie können wir
uns auch die roheſten Menſchen nicht denken. Sie werden auch mehr als heute die
tiefſt ſtehenden Stämme (z. B. die Feuerländer und die Buſchmänner) in einem Klima,
auf einem Boden gelebt haben, die das Zuſammenbleiben der Horden geſtatteten.

Wo die Zerſtreuung eine ſo weitgehende war, wie wir ſie heute bei den eben
Genannten treffen, muß damals wie heute in der Regel Frau und Mann nebſt den
unerwachſenen Kindern zuſammen gelebt haben, zuſammen gewandert ſein, muß ein
Gewaltverhältnis des Mannes gegenüber Weib und Kindern ſtattgefunden, ein gewiſſes
Zuſammenwirken, eine Art Arbeitsteilung zwiſchen Mann und Frau Platz gegriffen
haben: der Schutz, die Jagd, der Fiſchfang war mehr Männer-, das Beerenſammeln,
Schleppen der Habſeligkeiten mehr Weiberſache. Die furchtbare Not des Lebens drängte
damals wohl das Geſchlechtsleben, das vielleicht noch an periodiſche Brunſtzeit geknüpft,
das durch jahrelanges Säugen eingeſchränkt war, wie alle zarteren Empfindungen mehr
zurück als ſpäter. Gewaltthätigkeit und Gleichgültigkeit war und iſt heute noch vielfach
die Signatur ſolcher Gruppenverhältniſſe. Eine Ehe im Sinne des ſpäteren ſemitiſchen
oder indogermaniſchen Patriarchats iſt nicht vorhanden; die Kinder verlaſſen die Eltern,
ſobald ſie ſich ernähren können. Über die Ausſchließlichkeit und Dauer der Geſchlechts-
beziehungen zwiſchen demſelben Mann und derſelben Frau ſind wir nicht unterrichtet.
Wir werden ſie uns nicht nach heutigen Bildern zu denken haben.

Auch wo Horden von der erwähnten Größe zuſammenlebten, werden wir nach den
Zuſtänden der heutigen niederen Jäger- und Fiſcherſtämme annehmen können, daß in
ihnen die Verbindung von Mann und Frau eine ähnliche war: eine gewiſſe rohe Gewalt
des Mannes über Weib und Kind treffen wir da heute noch überwiegend; der Vater iſt
meiſt als Erzeuger bekannt. Aber die Kinder ſind früh ſelbſtändig. Das Gefühl der Zu-
gehörigkeit zur Horde iſt ſtärker oder ebenſo ſtark wie das zwiſchen Mann und Frau, Eltern
und Kindern; eine eigentliche Familienwirtſchaft iſt nicht vorhanden, wenn auch geſchlechts-
reife Paare in gewiſſer Weiſe zuſammenhalten. Die durch beſondere Namen hervor-

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[232/0248] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. ſchaften geworden. Überall im weſentlichen auf den Blutszuſammenhang gegründet, haben ſie da, wo ihre feſte Größe Bedingung der militäriſchen, wirtſchaftlichen und ſonſtigen Einrichtungen iſt, oftmals durch Teilung, Zuſammenſetzung, Ergänzung eine abſichtliche und planmäßige Umbildung erfahren, womit die alte Kontroverſe, ob die Sippe auf Blut oder abſichtlicher Einteilung beruhe, ſich erledigt. Bei vielen Stämmen bilden je zwei oder mehr Sippen Obergruppen, die man heute meiſt mit dem griechiſchen Worte Phratrie bezeichnet. Das oskiſche Wort famel bedeutet Knecht; die familia iſt die auf Eigentum und Herrſchaft gegründete Verbindung eines Mannes mit einer Frau, den Kindern, Mägden und Knechten, die als abhängige Arbeitskräfte dienen. Dieſer römiſche Begriff, den die Germanen nicht hatten — ſie kannten nur die Sippe und das Wort Ewa, Ehe, für Bund überhaupt — ging dann in die europäiſchen Sprachen über und wird in ſeiner, der patriarchaliſchen und modernen Haus- und Familienwirtſchaft entnommenen Be- deutung jetzt auch rückwärts oft auf ältere Einrichtungen übertragen, die weſentlich andere waren. Wir werden daher beſſer als Großfamilie nur die patriarchaliſche Familie bezeichnen, nicht einen Verband von Sippengenoſſen und Muttergruppen, welche in Langhäuſern zuſammen wohnen und in gewiſſer Beziehung zuſammen wirtſchaften. Unter Muttergruppe verſtehen wir die Verbindung und das Zuſammenleben der Mutter mit ihren Kindern, wie ſie da vorkommt, wo der Vater nicht oder nicht ganz in dieſer örtlichen, häuslichen und wirtſchaftlichen Gemeinſchaft aufgeht. — 88. Die älteſte Familienverfaſſung bis zum Mutterrecht. So roh wir uns ſicher die älteſten Menſchen zu denken haben, ſo müſſen wir ſie uns doch wohl vorſtellen als durch die Blutsbande und ein gewiſſes Zuſammenleben verbunden, als kleine Horden, wo die Ernährung eine örtliche Verbindung von 20—100 Menſchen geſtattete, als bloße Gruppen von Mann, Frau und Kindern, wo die Ernährung die Zerſtreuung nötig machte; aber mehrere benachbarte ſolcher Gruppen fanden ſich dann doch ſicher zu gewiſſen Zwecken, z. B. zur Verteidigung zuſammen, weil ſie ſich als Blutsgenoſſen fühlten. Ohne herdenartige Eigenſchaften, ohne gewiſſe Züge der Sympathie können wir uns auch die roheſten Menſchen nicht denken. Sie werden auch mehr als heute die tiefſt ſtehenden Stämme (z. B. die Feuerländer und die Buſchmänner) in einem Klima, auf einem Boden gelebt haben, die das Zuſammenbleiben der Horden geſtatteten. Wo die Zerſtreuung eine ſo weitgehende war, wie wir ſie heute bei den eben Genannten treffen, muß damals wie heute in der Regel Frau und Mann nebſt den unerwachſenen Kindern zuſammen gelebt haben, zuſammen gewandert ſein, muß ein Gewaltverhältnis des Mannes gegenüber Weib und Kindern ſtattgefunden, ein gewiſſes Zuſammenwirken, eine Art Arbeitsteilung zwiſchen Mann und Frau Platz gegriffen haben: der Schutz, die Jagd, der Fiſchfang war mehr Männer-, das Beerenſammeln, Schleppen der Habſeligkeiten mehr Weiberſache. Die furchtbare Not des Lebens drängte damals wohl das Geſchlechtsleben, das vielleicht noch an periodiſche Brunſtzeit geknüpft, das durch jahrelanges Säugen eingeſchränkt war, wie alle zarteren Empfindungen mehr zurück als ſpäter. Gewaltthätigkeit und Gleichgültigkeit war und iſt heute noch vielfach die Signatur ſolcher Gruppenverhältniſſe. Eine Ehe im Sinne des ſpäteren ſemitiſchen oder indogermaniſchen Patriarchats iſt nicht vorhanden; die Kinder verlaſſen die Eltern, ſobald ſie ſich ernähren können. Über die Ausſchließlichkeit und Dauer der Geſchlechts- beziehungen zwiſchen demſelben Mann und derſelben Frau ſind wir nicht unterrichtet. Wir werden ſie uns nicht nach heutigen Bildern zu denken haben. Auch wo Horden von der erwähnten Größe zuſammenlebten, werden wir nach den Zuſtänden der heutigen niederen Jäger- und Fiſcherſtämme annehmen können, daß in ihnen die Verbindung von Mann und Frau eine ähnliche war: eine gewiſſe rohe Gewalt des Mannes über Weib und Kind treffen wir da heute noch überwiegend; der Vater iſt meiſt als Erzeuger bekannt. Aber die Kinder ſind früh ſelbſtändig. Das Gefühl der Zu- gehörigkeit zur Horde iſt ſtärker oder ebenſo ſtark wie das zwiſchen Mann und Frau, Eltern und Kindern; eine eigentliche Familienwirtſchaft iſt nicht vorhanden, wenn auch geſchlechts- reife Paare in gewiſſer Weiſe zuſammenhalten. Die durch beſondere Namen hervor-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/248>, abgerufen am 18.04.2024.