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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Litteratur und Begriffe der Verwandtschaftsgruppen.
und Rechtsgeschichte der einzelnen Völker haben uns einen Baustein nach dem anderen
dazu gereicht. Für die Nationalökonomie forderte Robert v. Mohl eine Einfügung der
Familienwirtschaft in ihr System; Stein, Schäffle und andere machten Versuche dieser
Art; die Socialpolitik bemächtigte sich mit Riehl, Le Play, J. St. Mill der Frauen-
und Familien-, später der Wohnungsfrage. Die Kunstgeschichte und Archäologie machten
aus der Geschichte der Architektur und Wohnweise eine ganz eigene Disciplin. Die
philologisch-historischen Studien (Bachofen) und die Ethnologie und Sociologie ent-
deckten das Mutterrecht und kamen zu einem keimenden Verständnis desselben und der
Gentilverfassung. Lewis H. Morgan hat zwar durch doktrinäre demokratische Ideale
und falsch generalisierende Konstruktionen mannigfach gefehlt, aber seine Untersuchungen
über die älteste Familienverfassung bilden doch den Wendepunkt in der neueren wissen-
schaftlichen Entwickelung dieser Fragen, während neben ihm H. S. Maine als der Be-
gründer der wissenschaftlichen Geschichte der patriarchalischen Familienverfassung dasteht.
Starke, Westermarck und andere haben die Übertreibungen von Morgan nachgewiesen,
aber im übrigen mehr Einzelheiten als die großen Fragen gefördert. Dargun, Grosse
und Cunow scheinen viel mehr als die eben Genannten das Dunkel in der Urgeschichte
der Familie einigermaßen geklärt zu haben.

Die wissenschaftlichen Kämpfe auf diesem Gebiete sind noch nicht abgeschlossen.
Ebensowenig steht für die spätere Zeit der patriarchalischen und modernen Familie schon
alles so fest, wie es wünschenswert wäre. Aber das kann uns nicht abhalten, zu ver-
suchen, den Entwickelungsgang der Familie und Familienwirtschaft kurz so zu zeichnen,
wie er sich uns eben nach dem Stande unseres heutigen Wissens darstellt. Wir erkennen
wenigstens im großen und ganzen heute, wie die Formen der Familie sich entwickelt
haben, und wie sie mit dem Gang der Technik und des ganzen volkswirtschaftlichen Lebens
zusammenhängen; wie sie die Hauptphasen des Familienrechtes bestimmten und selbst von
Religion, Sitte und geistigem Leben beeinflußt und gestaltet wurden. Vieles einzelne
und Abweichende müssen wir beiseite lassen; nur das Wichtigste, volkswirtschaftlich und
gesellschaftlich Bedeutsamste darf uns beschäftigen.

Verständigen wir uns vorher noch über einige Begriffe und Namen. Wir wollen unter
einer Horde eine kleine Zahl von 20--100 Personen (Männer und Frauen, Kinder,
junge und alte Leute) verstehen, die, gemeinsamen Blutes, in engster örtlicher Verbindung
als geschlossene Einheit leben. Wo mehrere solcher Gruppen miteinander blutsverwandt,
in nächster Nachbarschaft weilen, untereinander sich begatten, ein geschlossenes Ganze aus-
machen, da sprechen wir von einem Stamm, dessen Teile wir nun Sippen oder
Gentes nennen. Der Stamm kann durch Verbindung von Horden, wie durch eigenes
Anwachsen und Scheidung in Sippen entstehen. Die Stämme gehen von einigen
hundert bis zu einigen tausend Seelen; haben sie schon eine kriegerische und politische,
kräftige Spitze, so können sie neben den Blutsgenossen auch Blutsfremde, unterworfene
Elemente mit umfassen; sie werden so nach und nach zu Völkern. In der Regel sind
die später als Völker bezeichneten Einheiten durch Stammesbündnisse oder kriegerische
Zusammenschweißung entstanden. -- Die geschlechtliche Verbindung von Mann und Frau
innerhalb der Horde oder des Stammes, welche über die Fortpflanzungsthätigkeit hinaus
bis nach Geburt des Sprößlings dauert, nennt Westermarck bereits Ehe. Wir werden
besser thun, diesen Begriff nur auf geschlechtliche Verbindungen derselben Personen, welche
in der Regel länger dauern, durch gesellschaftliche Sitte und Satzung anerkannt und
geheiligt sind, meist mehr als einem Kinde das Leben geben, die Kinder gemeinsam
erziehen wollen, anzuwenden. Unter Sippen oder Gentes verstehen wir Teile eines
Stammes, meist von 50--500 Personen aller Altersklassen und beiderlei Geschlechtes,
die ihre Abstammung auf eine gemeinsame Stammmutter (Muttersippen) oder einen
gemeinsamen Stammvater (Vatersippen) zurückführen, meist innerhalb der Sippe sich
nicht geschlechtlich verbinden. Regel ist, daß jedes Stammesmitglied einer, aber auch nur
einer Sippe angehört. Die Sippen können die verschiedenste Ausbildung haben; sie
verfolgen teilweise nur den Zweck, gewisse Geschlechtsverbindungen zu hindern; bei höherer
Ausbildung sind sie zu Kult-, Rechts- und Schutz-, zu Wirtschafts- und Hausgenossen-

Litteratur und Begriffe der Verwandtſchaftsgruppen.
und Rechtsgeſchichte der einzelnen Völker haben uns einen Bauſtein nach dem anderen
dazu gereicht. Für die Nationalökonomie forderte Robert v. Mohl eine Einfügung der
Familienwirtſchaft in ihr Syſtem; Stein, Schäffle und andere machten Verſuche dieſer
Art; die Socialpolitik bemächtigte ſich mit Riehl, Le Play, J. St. Mill der Frauen-
und Familien-, ſpäter der Wohnungsfrage. Die Kunſtgeſchichte und Archäologie machten
aus der Geſchichte der Architektur und Wohnweiſe eine ganz eigene Disciplin. Die
philologiſch-hiſtoriſchen Studien (Bachofen) und die Ethnologie und Sociologie ent-
deckten das Mutterrecht und kamen zu einem keimenden Verſtändnis desſelben und der
Gentilverfaſſung. Lewis H. Morgan hat zwar durch doktrinäre demokratiſche Ideale
und falſch generaliſierende Konſtruktionen mannigfach gefehlt, aber ſeine Unterſuchungen
über die älteſte Familienverfaſſung bilden doch den Wendepunkt in der neueren wiſſen-
ſchaftlichen Entwickelung dieſer Fragen, während neben ihm H. S. Maine als der Be-
gründer der wiſſenſchaftlichen Geſchichte der patriarchaliſchen Familienverfaſſung daſteht.
Starke, Weſtermarck und andere haben die Übertreibungen von Morgan nachgewieſen,
aber im übrigen mehr Einzelheiten als die großen Fragen gefördert. Dargun, Groſſe
und Cunow ſcheinen viel mehr als die eben Genannten das Dunkel in der Urgeſchichte
der Familie einigermaßen geklärt zu haben.

Die wiſſenſchaftlichen Kämpfe auf dieſem Gebiete ſind noch nicht abgeſchloſſen.
Ebenſowenig ſteht für die ſpätere Zeit der patriarchaliſchen und modernen Familie ſchon
alles ſo feſt, wie es wünſchenswert wäre. Aber das kann uns nicht abhalten, zu ver-
ſuchen, den Entwickelungsgang der Familie und Familienwirtſchaft kurz ſo zu zeichnen,
wie er ſich uns eben nach dem Stande unſeres heutigen Wiſſens darſtellt. Wir erkennen
wenigſtens im großen und ganzen heute, wie die Formen der Familie ſich entwickelt
haben, und wie ſie mit dem Gang der Technik und des ganzen volkswirtſchaftlichen Lebens
zuſammenhängen; wie ſie die Hauptphaſen des Familienrechtes beſtimmten und ſelbſt von
Religion, Sitte und geiſtigem Leben beeinflußt und geſtaltet wurden. Vieles einzelne
und Abweichende müſſen wir beiſeite laſſen; nur das Wichtigſte, volkswirtſchaftlich und
geſellſchaftlich Bedeutſamſte darf uns beſchäftigen.

Verſtändigen wir uns vorher noch über einige Begriffe und Namen. Wir wollen unter
einer Horde eine kleine Zahl von 20—100 Perſonen (Männer und Frauen, Kinder,
junge und alte Leute) verſtehen, die, gemeinſamen Blutes, in engſter örtlicher Verbindung
als geſchloſſene Einheit leben. Wo mehrere ſolcher Gruppen miteinander blutsverwandt,
in nächſter Nachbarſchaft weilen, untereinander ſich begatten, ein geſchloſſenes Ganze aus-
machen, da ſprechen wir von einem Stamm, deſſen Teile wir nun Sippen oder
Gentes nennen. Der Stamm kann durch Verbindung von Horden, wie durch eigenes
Anwachſen und Scheidung in Sippen entſtehen. Die Stämme gehen von einigen
hundert bis zu einigen tauſend Seelen; haben ſie ſchon eine kriegeriſche und politiſche,
kräftige Spitze, ſo können ſie neben den Blutsgenoſſen auch Blutsfremde, unterworfene
Elemente mit umfaſſen; ſie werden ſo nach und nach zu Völkern. In der Regel ſind
die ſpäter als Völker bezeichneten Einheiten durch Stammesbündniſſe oder kriegeriſche
Zuſammenſchweißung entſtanden. — Die geſchlechtliche Verbindung von Mann und Frau
innerhalb der Horde oder des Stammes, welche über die Fortpflanzungsthätigkeit hinaus
bis nach Geburt des Sprößlings dauert, nennt Weſtermarck bereits Ehe. Wir werden
beſſer thun, dieſen Begriff nur auf geſchlechtliche Verbindungen derſelben Perſonen, welche
in der Regel länger dauern, durch geſellſchaftliche Sitte und Satzung anerkannt und
geheiligt ſind, meiſt mehr als einem Kinde das Leben geben, die Kinder gemeinſam
erziehen wollen, anzuwenden. Unter Sippen oder Gentes verſtehen wir Teile eines
Stammes, meiſt von 50—500 Perſonen aller Altersklaſſen und beiderlei Geſchlechtes,
die ihre Abſtammung auf eine gemeinſame Stammmutter (Mutterſippen) oder einen
gemeinſamen Stammvater (Vaterſippen) zurückführen, meiſt innerhalb der Sippe ſich
nicht geſchlechtlich verbinden. Regel iſt, daß jedes Stammesmitglied einer, aber auch nur
einer Sippe angehört. Die Sippen können die verſchiedenſte Ausbildung haben; ſie
verfolgen teilweiſe nur den Zweck, gewiſſe Geſchlechtsverbindungen zu hindern; bei höherer
Ausbildung ſind ſie zu Kult-, Rechts- und Schutz-, zu Wirtſchafts- und Hausgenoſſen-

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[231/0247] Litteratur und Begriffe der Verwandtſchaftsgruppen. und Rechtsgeſchichte der einzelnen Völker haben uns einen Bauſtein nach dem anderen dazu gereicht. Für die Nationalökonomie forderte Robert v. Mohl eine Einfügung der Familienwirtſchaft in ihr Syſtem; Stein, Schäffle und andere machten Verſuche dieſer Art; die Socialpolitik bemächtigte ſich mit Riehl, Le Play, J. St. Mill der Frauen- und Familien-, ſpäter der Wohnungsfrage. Die Kunſtgeſchichte und Archäologie machten aus der Geſchichte der Architektur und Wohnweiſe eine ganz eigene Disciplin. Die philologiſch-hiſtoriſchen Studien (Bachofen) und die Ethnologie und Sociologie ent- deckten das Mutterrecht und kamen zu einem keimenden Verſtändnis desſelben und der Gentilverfaſſung. Lewis H. Morgan hat zwar durch doktrinäre demokratiſche Ideale und falſch generaliſierende Konſtruktionen mannigfach gefehlt, aber ſeine Unterſuchungen über die älteſte Familienverfaſſung bilden doch den Wendepunkt in der neueren wiſſen- ſchaftlichen Entwickelung dieſer Fragen, während neben ihm H. S. Maine als der Be- gründer der wiſſenſchaftlichen Geſchichte der patriarchaliſchen Familienverfaſſung daſteht. Starke, Weſtermarck und andere haben die Übertreibungen von Morgan nachgewieſen, aber im übrigen mehr Einzelheiten als die großen Fragen gefördert. Dargun, Groſſe und Cunow ſcheinen viel mehr als die eben Genannten das Dunkel in der Urgeſchichte der Familie einigermaßen geklärt zu haben. Die wiſſenſchaftlichen Kämpfe auf dieſem Gebiete ſind noch nicht abgeſchloſſen. Ebenſowenig ſteht für die ſpätere Zeit der patriarchaliſchen und modernen Familie ſchon alles ſo feſt, wie es wünſchenswert wäre. Aber das kann uns nicht abhalten, zu ver- ſuchen, den Entwickelungsgang der Familie und Familienwirtſchaft kurz ſo zu zeichnen, wie er ſich uns eben nach dem Stande unſeres heutigen Wiſſens darſtellt. Wir erkennen wenigſtens im großen und ganzen heute, wie die Formen der Familie ſich entwickelt haben, und wie ſie mit dem Gang der Technik und des ganzen volkswirtſchaftlichen Lebens zuſammenhängen; wie ſie die Hauptphaſen des Familienrechtes beſtimmten und ſelbſt von Religion, Sitte und geiſtigem Leben beeinflußt und geſtaltet wurden. Vieles einzelne und Abweichende müſſen wir beiſeite laſſen; nur das Wichtigſte, volkswirtſchaftlich und geſellſchaftlich Bedeutſamſte darf uns beſchäftigen. Verſtändigen wir uns vorher noch über einige Begriffe und Namen. Wir wollen unter einer Horde eine kleine Zahl von 20—100 Perſonen (Männer und Frauen, Kinder, junge und alte Leute) verſtehen, die, gemeinſamen Blutes, in engſter örtlicher Verbindung als geſchloſſene Einheit leben. Wo mehrere ſolcher Gruppen miteinander blutsverwandt, in nächſter Nachbarſchaft weilen, untereinander ſich begatten, ein geſchloſſenes Ganze aus- machen, da ſprechen wir von einem Stamm, deſſen Teile wir nun Sippen oder Gentes nennen. Der Stamm kann durch Verbindung von Horden, wie durch eigenes Anwachſen und Scheidung in Sippen entſtehen. Die Stämme gehen von einigen hundert bis zu einigen tauſend Seelen; haben ſie ſchon eine kriegeriſche und politiſche, kräftige Spitze, ſo können ſie neben den Blutsgenoſſen auch Blutsfremde, unterworfene Elemente mit umfaſſen; ſie werden ſo nach und nach zu Völkern. In der Regel ſind die ſpäter als Völker bezeichneten Einheiten durch Stammesbündniſſe oder kriegeriſche Zuſammenſchweißung entſtanden. — Die geſchlechtliche Verbindung von Mann und Frau innerhalb der Horde oder des Stammes, welche über die Fortpflanzungsthätigkeit hinaus bis nach Geburt des Sprößlings dauert, nennt Weſtermarck bereits Ehe. Wir werden beſſer thun, dieſen Begriff nur auf geſchlechtliche Verbindungen derſelben Perſonen, welche in der Regel länger dauern, durch geſellſchaftliche Sitte und Satzung anerkannt und geheiligt ſind, meiſt mehr als einem Kinde das Leben geben, die Kinder gemeinſam erziehen wollen, anzuwenden. Unter Sippen oder Gentes verſtehen wir Teile eines Stammes, meiſt von 50—500 Perſonen aller Altersklaſſen und beiderlei Geſchlechtes, die ihre Abſtammung auf eine gemeinſame Stammmutter (Mutterſippen) oder einen gemeinſamen Stammvater (Vaterſippen) zurückführen, meiſt innerhalb der Sippe ſich nicht geſchlechtlich verbinden. Regel iſt, daß jedes Stammesmitglied einer, aber auch nur einer Sippe angehört. Die Sippen können die verſchiedenſte Ausbildung haben; ſie verfolgen teilweiſe nur den Zweck, gewiſſe Geſchlechtsverbindungen zu hindern; bei höherer Ausbildung ſind ſie zu Kult-, Rechts- und Schutz-, zu Wirtſchafts- und Hausgenoſſen-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/247>, abgerufen am 18.04.2024.