Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Ursache kann doch wohl nur die sein, daß die Höhe der Technik nicht allein die
Kraft der Völker bestimmt, ja daß große technische Fortschritte zwar zunächst die Ver-
teidigungs- und Angriffsfähigkeit sowie den Wohlstand fördern, die äußern Mittel für
alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich sehr viel höhere, oft nicht sofort oder über-
haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politisch-moralische und sociale Aufgaben
stellen. Die führenden Kreise degenerieren leicht durch Habsucht und Genußsucht, die
geführten nehmen am Fortschritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten
Druck; die Harmonie der Gesellschaft und das innere Gleichgewicht der Individuen
leidet; erst die höhern moralischen und geistigen, dann auch die socialen und politischen
Eigenschaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik
nötig wären, fehlen; die Fortschritte auf dem Gebiete der höheren, der sittlichen Zweck-
mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Institutionen im Innern und nach außen
werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerstören die Staaten und ihren
Wohlstand trotz hoher Technik.

So wird es begreiflich, daß der ersten großen Blütezeit asiatischer Technik eine
Epoche des überwiegenden technischen Stillstandes von etwa 2500 Jahren folgte, in
welcher die Griechen und Römer, die Araber und die abendländischen Indogermanen
langsam die asiatisch-ägyptische Technik sich aneigneten, ohne zunächst schöpferisch die
Mittel und Methoden derselben wesentlich zu fördern. Und doch haben sie in anderem
Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Rassen-, ihrer anderen geistig-moralischen
Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und bessere sociale und
volkswirtschaftliche Institutionen geschaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem
einzelnen und noch mehr ihre Voraussetzungen, die Förderung der Naturerkenntnis
und die Steigerung und Verbreitung der technischen Fertigkeiten so weiter gebildet,
daß vom 14. und 15. Jahrhundert an schon ein gewisser Aufschwung und vom
Ende des 18. eine neue große schöpferische Epoche des technischen Fortschrittes ein-
treten konnte.

Ein gewisser Rückgang oder Stillstand der Technik war schon mit den großen
Kriegen und Eroberungen, ihren Zerstörungen, mit den großen Wanderungen und
Völkerverschiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue
griechische, hellenistische, römische, arabische und abendländische Kulturwelt sich konsolidieren
konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtausend brauchten die jugendlichen Völker, bis
sie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum seßhaften Ackerbau, zur städti-
schen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie
haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer
Lehrmeister diese Fortschritte vielfach in sehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre
asiatischen Vorgänger. Andererseits hat der Volkscharakter und das Christentum, haben
die großen mitteleuropäischen agrarischen Flächen die technisch-geldwirtschaftliche Ent-
wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vorderasiaten, den Griechen und Römern
verlangsamt. Jedenfalls ist die Thatsache lehrreich, daß die sämtlichen hier zusammen-
gefaßten Kulturreiche die Erben der vorderasiatischen Technik waren, daß sie auf der
einen Seite in gewissen großen Zügen eine unter sich und mit ihren Vorgängern
übereinstimmende Technik haben und auf der andern Seite eine so verschiedene Kultur
und so verschiedene sociale und volkswirtschaftliche Institutionen erzeugten.

Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb-
lichen Künste, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die
Verkehrstechnik und den Schiffsbau. In ihren rasch ausgebildeten kleinen Republiken
schufen sie eine Blüte der Kunst, der Wissenschaft, der freien Verfassungsform,
die weit über den Leistungen des Orients stand und für alle Folgezeit die Muster-
bilder der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens wurden. In den großen helle-
nistischen Reichen, die Alexander teils schuf teils vorbereitete, verschmolz griechische
und asiatische Kultur; erhebliche technische und wissenschaftliche Fortschritte knüpften
sich daran an, aber doch keine eigentliche Neugestaltung des technisch-wirtschaftlichen
Lebens.

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Urſache kann doch wohl nur die ſein, daß die Höhe der Technik nicht allein die
Kraft der Völker beſtimmt, ja daß große techniſche Fortſchritte zwar zunächſt die Ver-
teidigungs- und Angriffsfähigkeit ſowie den Wohlſtand fördern, die äußern Mittel für
alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich ſehr viel höhere, oft nicht ſofort oder über-
haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politiſch-moraliſche und ſociale Aufgaben
ſtellen. Die führenden Kreiſe degenerieren leicht durch Habſucht und Genußſucht, die
geführten nehmen am Fortſchritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten
Druck; die Harmonie der Geſellſchaft und das innere Gleichgewicht der Individuen
leidet; erſt die höhern moraliſchen und geiſtigen, dann auch die ſocialen und politiſchen
Eigenſchaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik
nötig wären, fehlen; die Fortſchritte auf dem Gebiete der höheren, der ſittlichen Zweck-
mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Inſtitutionen im Innern und nach außen
werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerſtören die Staaten und ihren
Wohlſtand trotz hoher Technik.

So wird es begreiflich, daß der erſten großen Blütezeit aſiatiſcher Technik eine
Epoche des überwiegenden techniſchen Stillſtandes von etwa 2500 Jahren folgte, in
welcher die Griechen und Römer, die Araber und die abendländiſchen Indogermanen
langſam die aſiatiſch-ägyptiſche Technik ſich aneigneten, ohne zunächſt ſchöpferiſch die
Mittel und Methoden derſelben weſentlich zu fördern. Und doch haben ſie in anderem
Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Raſſen-, ihrer anderen geiſtig-moraliſchen
Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und beſſere ſociale und
volkswirtſchaftliche Inſtitutionen geſchaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem
einzelnen und noch mehr ihre Vorausſetzungen, die Förderung der Naturerkenntnis
und die Steigerung und Verbreitung der techniſchen Fertigkeiten ſo weiter gebildet,
daß vom 14. und 15. Jahrhundert an ſchon ein gewiſſer Aufſchwung und vom
Ende des 18. eine neue große ſchöpferiſche Epoche des techniſchen Fortſchrittes ein-
treten konnte.

Ein gewiſſer Rückgang oder Stillſtand der Technik war ſchon mit den großen
Kriegen und Eroberungen, ihren Zerſtörungen, mit den großen Wanderungen und
Völkerverſchiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue
griechiſche, helleniſtiſche, römiſche, arabiſche und abendländiſche Kulturwelt ſich konſolidieren
konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtauſend brauchten die jugendlichen Völker, bis
ſie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum ſeßhaften Ackerbau, zur ſtädti-
ſchen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie
haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer
Lehrmeiſter dieſe Fortſchritte vielfach in ſehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre
aſiatiſchen Vorgänger. Andererſeits hat der Volkscharakter und das Chriſtentum, haben
die großen mitteleuropäiſchen agrariſchen Flächen die techniſch-geldwirtſchaftliche Ent-
wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vorderaſiaten, den Griechen und Römern
verlangſamt. Jedenfalls iſt die Thatſache lehrreich, daß die ſämtlichen hier zuſammen-
gefaßten Kulturreiche die Erben der vorderaſiatiſchen Technik waren, daß ſie auf der
einen Seite in gewiſſen großen Zügen eine unter ſich und mit ihren Vorgängern
übereinſtimmende Technik haben und auf der andern Seite eine ſo verſchiedene Kultur
und ſo verſchiedene ſociale und volkswirtſchaftliche Inſtitutionen erzeugten.

Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb-
lichen Künſte, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die
Verkehrstechnik und den Schiffsbau. In ihren raſch ausgebildeten kleinen Republiken
ſchufen ſie eine Blüte der Kunſt, der Wiſſenſchaft, der freien Verfaſſungsform,
die weit über den Leiſtungen des Orients ſtand und für alle Folgezeit die Muſter-
bilder der Kultur und des geſellſchaftlichen Lebens wurden. In den großen helle-
niſtiſchen Reichen, die Alexander teils ſchuf teils vorbereitete, verſchmolz griechiſche
und aſiatiſche Kultur; erhebliche techniſche und wiſſenſchaftliche Fortſchritte knüpften
ſich daran an, aber doch keine eigentliche Neugeſtaltung des techniſch-wirtſchaftlichen
Lebens.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0222" n="206"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/>
Die Ur&#x017F;ache kann doch wohl nur die &#x017F;ein, daß die Höhe der Technik nicht allein die<lb/>
Kraft der Völker be&#x017F;timmt, ja daß große techni&#x017F;che Fort&#x017F;chritte zwar zunäch&#x017F;t die Ver-<lb/>
teidigungs- und Angriffsfähigkeit &#x017F;owie den Wohl&#x017F;tand fördern, die äußern Mittel für<lb/>
alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich &#x017F;ehr viel höhere, oft nicht &#x017F;ofort oder über-<lb/>
haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politi&#x017F;ch-morali&#x017F;che und &#x017F;ociale Aufgaben<lb/>
&#x017F;tellen. Die führenden Krei&#x017F;e degenerieren leicht durch Hab&#x017F;ucht und Genuß&#x017F;ucht, die<lb/>
geführten nehmen am Fort&#x017F;chritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten<lb/>
Druck; die Harmonie der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und das innere Gleichgewicht der Individuen<lb/>
leidet; er&#x017F;t die höhern morali&#x017F;chen und gei&#x017F;tigen, dann auch die &#x017F;ocialen und politi&#x017F;chen<lb/>
Eigen&#x017F;chaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik<lb/>
nötig wären, fehlen; die Fort&#x017F;chritte auf dem Gebiete der höheren, der &#x017F;ittlichen Zweck-<lb/>
mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten In&#x017F;titutionen im Innern und nach außen<lb/>
werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zer&#x017F;tören die Staaten und ihren<lb/>
Wohl&#x017F;tand trotz hoher Technik.</p><lb/>
          <p>So wird es begreiflich, daß der er&#x017F;ten großen Blütezeit a&#x017F;iati&#x017F;cher Technik eine<lb/>
Epoche des überwiegenden techni&#x017F;chen Still&#x017F;tandes von etwa 2500 Jahren folgte, in<lb/>
welcher die Griechen und Römer, die Araber und die abendländi&#x017F;chen Indogermanen<lb/>
lang&#x017F;am die a&#x017F;iati&#x017F;ch-ägypti&#x017F;che Technik &#x017F;ich aneigneten, ohne zunäch&#x017F;t &#x017F;chöpferi&#x017F;ch die<lb/>
Mittel und Methoden der&#x017F;elben we&#x017F;entlich zu fördern. Und doch haben &#x017F;ie in anderem<lb/>
Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Ra&#x017F;&#x017F;en-, ihrer anderen gei&#x017F;tig-morali&#x017F;chen<lb/>
Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und be&#x017F;&#x017F;ere &#x017F;ociale und<lb/>
volkswirt&#x017F;chaftliche In&#x017F;titutionen ge&#x017F;chaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem<lb/>
einzelnen und noch mehr ihre Voraus&#x017F;etzungen, die Förderung der Naturerkenntnis<lb/>
und die Steigerung und Verbreitung der techni&#x017F;chen Fertigkeiten &#x017F;o weiter gebildet,<lb/>
daß vom 14. und 15. Jahrhundert an &#x017F;chon ein gewi&#x017F;&#x017F;er Auf&#x017F;chwung und vom<lb/>
Ende des 18. eine neue große &#x017F;chöpferi&#x017F;che Epoche des techni&#x017F;chen Fort&#x017F;chrittes ein-<lb/>
treten konnte.</p><lb/>
          <p>Ein gewi&#x017F;&#x017F;er Rückgang oder Still&#x017F;tand der Technik war &#x017F;chon mit den großen<lb/>
Kriegen und Eroberungen, ihren Zer&#x017F;törungen, mit den großen Wanderungen und<lb/>
Völkerver&#x017F;chiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue<lb/>
griechi&#x017F;che, helleni&#x017F;ti&#x017F;che, römi&#x017F;che, arabi&#x017F;che und abendländi&#x017F;che Kulturwelt &#x017F;ich kon&#x017F;olidieren<lb/>
konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtau&#x017F;end brauchten die jugendlichen Völker, bis<lb/>
&#x017F;ie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum &#x017F;eßhaften Ackerbau, zur &#x017F;tädti-<lb/>
&#x017F;chen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie<lb/>
haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer<lb/>
Lehrmei&#x017F;ter die&#x017F;e Fort&#x017F;chritte vielfach in &#x017F;ehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre<lb/>
a&#x017F;iati&#x017F;chen Vorgänger. Anderer&#x017F;eits hat der Volkscharakter und das Chri&#x017F;tentum, haben<lb/>
die großen mitteleuropäi&#x017F;chen agrari&#x017F;chen Flächen die techni&#x017F;ch-geldwirt&#x017F;chaftliche Ent-<lb/>
wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vordera&#x017F;iaten, den Griechen und Römern<lb/>
verlang&#x017F;amt. Jedenfalls i&#x017F;t die That&#x017F;ache lehrreich, daß die &#x017F;ämtlichen hier zu&#x017F;ammen-<lb/>
gefaßten Kulturreiche die Erben der vordera&#x017F;iati&#x017F;chen Technik waren, daß &#x017F;ie auf der<lb/>
einen Seite in gewi&#x017F;&#x017F;en großen Zügen eine unter &#x017F;ich und mit ihren Vorgängern<lb/>
überein&#x017F;timmende Technik haben und auf der andern Seite eine &#x017F;o ver&#x017F;chiedene Kultur<lb/>
und &#x017F;o ver&#x017F;chiedene &#x017F;ociale und volkswirt&#x017F;chaftliche In&#x017F;titutionen erzeugten.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#g">Griechen</hi> empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb-<lb/>
lichen Kün&#x017F;te, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die<lb/>
Verkehrstechnik und den Schiffsbau. In ihren ra&#x017F;ch ausgebildeten kleinen Republiken<lb/>
&#x017F;chufen &#x017F;ie eine Blüte der Kun&#x017F;t, der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, der freien Verfa&#x017F;&#x017F;ungsform,<lb/>
die weit über den Lei&#x017F;tungen des Orients &#x017F;tand und für alle Folgezeit die Mu&#x017F;ter-<lb/>
bilder der Kultur und des ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Lebens wurden. In den großen helle-<lb/>
ni&#x017F;ti&#x017F;chen Reichen, die Alexander teils &#x017F;chuf teils vorbereitete, ver&#x017F;chmolz griechi&#x017F;che<lb/>
und a&#x017F;iati&#x017F;che Kultur; erhebliche techni&#x017F;che und wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Fort&#x017F;chritte knüpften<lb/>
&#x017F;ich daran an, aber doch keine eigentliche Neuge&#x017F;taltung des techni&#x017F;ch-wirt&#x017F;chaftlichen<lb/>
Lebens.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0222] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Die Urſache kann doch wohl nur die ſein, daß die Höhe der Technik nicht allein die Kraft der Völker beſtimmt, ja daß große techniſche Fortſchritte zwar zunächſt die Ver- teidigungs- und Angriffsfähigkeit ſowie den Wohlſtand fördern, die äußern Mittel für alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich ſehr viel höhere, oft nicht ſofort oder über- haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politiſch-moraliſche und ſociale Aufgaben ſtellen. Die führenden Kreiſe degenerieren leicht durch Habſucht und Genußſucht, die geführten nehmen am Fortſchritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten Druck; die Harmonie der Geſellſchaft und das innere Gleichgewicht der Individuen leidet; erſt die höhern moraliſchen und geiſtigen, dann auch die ſocialen und politiſchen Eigenſchaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik nötig wären, fehlen; die Fortſchritte auf dem Gebiete der höheren, der ſittlichen Zweck- mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Inſtitutionen im Innern und nach außen werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerſtören die Staaten und ihren Wohlſtand trotz hoher Technik. So wird es begreiflich, daß der erſten großen Blütezeit aſiatiſcher Technik eine Epoche des überwiegenden techniſchen Stillſtandes von etwa 2500 Jahren folgte, in welcher die Griechen und Römer, die Araber und die abendländiſchen Indogermanen langſam die aſiatiſch-ägyptiſche Technik ſich aneigneten, ohne zunächſt ſchöpferiſch die Mittel und Methoden derſelben weſentlich zu fördern. Und doch haben ſie in anderem Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Raſſen-, ihrer anderen geiſtig-moraliſchen Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und beſſere ſociale und volkswirtſchaftliche Inſtitutionen geſchaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem einzelnen und noch mehr ihre Vorausſetzungen, die Förderung der Naturerkenntnis und die Steigerung und Verbreitung der techniſchen Fertigkeiten ſo weiter gebildet, daß vom 14. und 15. Jahrhundert an ſchon ein gewiſſer Aufſchwung und vom Ende des 18. eine neue große ſchöpferiſche Epoche des techniſchen Fortſchrittes ein- treten konnte. Ein gewiſſer Rückgang oder Stillſtand der Technik war ſchon mit den großen Kriegen und Eroberungen, ihren Zerſtörungen, mit den großen Wanderungen und Völkerverſchiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue griechiſche, helleniſtiſche, römiſche, arabiſche und abendländiſche Kulturwelt ſich konſolidieren konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtauſend brauchten die jugendlichen Völker, bis ſie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum ſeßhaften Ackerbau, zur ſtädti- ſchen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer Lehrmeiſter dieſe Fortſchritte vielfach in ſehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre aſiatiſchen Vorgänger. Andererſeits hat der Volkscharakter und das Chriſtentum, haben die großen mitteleuropäiſchen agrariſchen Flächen die techniſch-geldwirtſchaftliche Ent- wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vorderaſiaten, den Griechen und Römern verlangſamt. Jedenfalls iſt die Thatſache lehrreich, daß die ſämtlichen hier zuſammen- gefaßten Kulturreiche die Erben der vorderaſiatiſchen Technik waren, daß ſie auf der einen Seite in gewiſſen großen Zügen eine unter ſich und mit ihren Vorgängern übereinſtimmende Technik haben und auf der andern Seite eine ſo verſchiedene Kultur und ſo verſchiedene ſociale und volkswirtſchaftliche Inſtitutionen erzeugten. Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb- lichen Künſte, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die Verkehrstechnik und den Schiffsbau. In ihren raſch ausgebildeten kleinen Republiken ſchufen ſie eine Blüte der Kunſt, der Wiſſenſchaft, der freien Verfaſſungsform, die weit über den Leiſtungen des Orients ſtand und für alle Folgezeit die Muſter- bilder der Kultur und des geſellſchaftlichen Lebens wurden. In den großen helle- niſtiſchen Reichen, die Alexander teils ſchuf teils vorbereitete, verſchmolz griechiſche und aſiatiſche Kultur; erhebliche techniſche und wiſſenſchaftliche Fortſchritte knüpften ſich daran an, aber doch keine eigentliche Neugeſtaltung des techniſch-wirtſchaftlichen Lebens.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/222
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/222>, abgerufen am 19.04.2024.