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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
Winter, je nach Regen und Überschwemmung hin und her wandern; aber gar leicht
sind sie genötigt, darüber hinaus zu greifen; die gestiegene Menschen- oder Viehzahl,
die Erschöpfung des Bodens, die Viehraub- und Beutezüge treiben sie zur Überschreitung
ihrer Gebiete. Auf den Zügen bilden sie eine kriegerische Wanderverfassung aus. Und
auch ihre Teile, die Geschlechter und Genossenschaften, lösen sich des Schutzes und des
gemeinsamen Weidebetriebes wegen nie etwa so auf, wie es der erschöpfte Boden an
sich als wahrscheinlich erscheinen ließe. Die arabischen Stämme zerstreuen sich und ihre
Herden in dürrer Zeit so weit als möglich, aber vier Zelte bleiben mindestens zusammen.
Das den einzelnen Familien oder Individuen gehörige Vieh wird stets in größern Herden
geweidet; das Jungvieh wird weiter weg getrieben, das Melkvieh in der Nähe der Zelte
und Hütten gelassen, die der Bewachung bedürfen. Auch die Kelten und Germanen lebten,
wie Meitzen wahrscheinlich macht, zur Zeit ihrer überwiegenden Viehzucht in Viehweide-
genossenschaften von 16 bis 100 Familien zu solchen Zwecken. So erwachsen gewisse
Bande des Stammes und der Genossenschaft über der patriarchalisch ausgebildeten
Familie, wenigstens bei den stark wandernden und kämpfenden Nomaden.

Im Herdenbesitz ist ein wertvolles Kapital entstanden, das durch Zufall, Beute,
Handel und gute Pflege sich sehr vermehren läßt, das andererseits durch tausend Gefahren
bedroht ist. Alle Nomadenstämme kennen schon den Gegensatz von reich und arm; alle
neigen zu Handel und Verkehr, haben Rechentalent und Spekulationssinn, haben Freie
und Knechte, wenn auch beide nicht durch sehr verschiedene Lebensweise getrennt sind.

Die Wirtschaftsweise giebt meist gute Ernährung, immer scharfe Sinne, persönlichen
Mut, Entschlossenheit, körperliche Abhärtung; die seit undenklichen Zeiten vorhandene
Gleichförmigkeit des Lebens erzeugt eine gewisse Würde und Ruhe; ja die großen,
gleichmäßigen Eindrücke der Natur können religiös-fatalistischen Sinn fördern. Doch ist
es ganz falsch, alle höheren Religionen den Nomaden zuzuschreiben. Wohl ist Muhamed
ein halb kaufmännischer Hirte gewesen, der den Ackerbau verachtete und behauptete, mit
dem Pflugschar komme die Schande ins Haus; und der Jahve der Juden am Sinai war
ein kriegerischer Hirtengott. Aber die indische Religion, der Gott der jüdischen Propheten,
das Christentum sind in Ackerbauländern mit ihrer höheren Kultur entstanden. Die
psychologisch-sittlichen Züge des Nomaden entsprechen seiner Lebensweise; er verachtet
den Dieb und verherrlicht den Räuber; er ist gastfrei und grausam, gerecht gegen den
Stammesgenossen, treulos, gewaltthätig und listig gegen Fremde; er ist ein Frauen-
räuber, mißhandelt leicht die Frau, hat aber oft die patriarchalische Familienverfassung
ausbilden helfen; er ist hochmütig auf seinen Besitz, aber er behandelt seinen Knecht meist
nicht schlecht. Selbständigkeit des Charakters verbindet sich oft mit gesellschaftlicher Zucht
und Unterordnung. Alle Viehhaltung hat mehr die männlichen und kriegerischen Eigen-
schaften, Hack- und Ackerbau die weiblichen und friedlichen der Stämme befördert. Es
sind den Nomaden Stammesbündnisse, völkerrechtliche Verträge, Eroberungen und große
Staatsbildungen, ja die Bildung von Weltreichen -- freilich mehr vorübergehend --
in der Regel früher und besser als den Hack- und Ackerbauern gelungen. Diese zerfallen
vor der Ausbildung komplizierter staatlicher Verfassungen leicht in zahlreiche kleine
lokale sociale Körper.

Doch darf nicht übersehen werden, daß auch überwiegende Ackerbauern oft kühne
Krieger und Staatsbildner waren. Noch mehr freilich haben die indogermanischen Völker,
welche wir nicht als Nomaden, höchstens als Halbnomaden bezeichnen dürfen, wo sie
sich wegen Übervölkerung spalteten und Teile ihrer Stämme erobernd vorwärtsdrängten,
eine kräftige kriegerische Verfassung ausgebildet.

80. Der Ackerbau, den wir den niederen Formen des Bodenbaues, haupt-
sächlich dem Hackbau, dem halbnomadischen und nomadischen wechselnden Anbau einiger
Ackerstellen mit Sommerfrüchten entgegensetzen, begreift also, nach unserer obigen Aus-
führung über seine Entstehung, den im ganzen seßhaften Anbau von Gramineen und
anderen Früchten, der mit Haken und Pflug ausgeführt wird, mit Viehzucht verbunden
ist. Es versteht sich, daß auch er verschiedene Stadien der Entwickelung durchläuft,
vom Anbau einiger Prozente des Bodens bis zu 50, 80 und 100 Prozent, von der

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Winter, je nach Regen und Überſchwemmung hin und her wandern; aber gar leicht
ſind ſie genötigt, darüber hinaus zu greifen; die geſtiegene Menſchen- oder Viehzahl,
die Erſchöpfung des Bodens, die Viehraub- und Beutezüge treiben ſie zur Überſchreitung
ihrer Gebiete. Auf den Zügen bilden ſie eine kriegeriſche Wanderverfaſſung aus. Und
auch ihre Teile, die Geſchlechter und Genoſſenſchaften, löſen ſich des Schutzes und des
gemeinſamen Weidebetriebes wegen nie etwa ſo auf, wie es der erſchöpfte Boden an
ſich als wahrſcheinlich erſcheinen ließe. Die arabiſchen Stämme zerſtreuen ſich und ihre
Herden in dürrer Zeit ſo weit als möglich, aber vier Zelte bleiben mindeſtens zuſammen.
Das den einzelnen Familien oder Individuen gehörige Vieh wird ſtets in größern Herden
geweidet; das Jungvieh wird weiter weg getrieben, das Melkvieh in der Nähe der Zelte
und Hütten gelaſſen, die der Bewachung bedürfen. Auch die Kelten und Germanen lebten,
wie Meitzen wahrſcheinlich macht, zur Zeit ihrer überwiegenden Viehzucht in Viehweide-
genoſſenſchaften von 16 bis 100 Familien zu ſolchen Zwecken. So erwachſen gewiſſe
Bande des Stammes und der Genoſſenſchaft über der patriarchaliſch ausgebildeten
Familie, wenigſtens bei den ſtark wandernden und kämpfenden Nomaden.

Im Herdenbeſitz iſt ein wertvolles Kapital entſtanden, das durch Zufall, Beute,
Handel und gute Pflege ſich ſehr vermehren läßt, das andererſeits durch tauſend Gefahren
bedroht iſt. Alle Nomadenſtämme kennen ſchon den Gegenſatz von reich und arm; alle
neigen zu Handel und Verkehr, haben Rechentalent und Spekulationsſinn, haben Freie
und Knechte, wenn auch beide nicht durch ſehr verſchiedene Lebensweiſe getrennt ſind.

Die Wirtſchaftsweiſe giebt meiſt gute Ernährung, immer ſcharfe Sinne, perſönlichen
Mut, Entſchloſſenheit, körperliche Abhärtung; die ſeit undenklichen Zeiten vorhandene
Gleichförmigkeit des Lebens erzeugt eine gewiſſe Würde und Ruhe; ja die großen,
gleichmäßigen Eindrücke der Natur können religiös-fataliſtiſchen Sinn fördern. Doch iſt
es ganz falſch, alle höheren Religionen den Nomaden zuzuſchreiben. Wohl iſt Muhamed
ein halb kaufmänniſcher Hirte geweſen, der den Ackerbau verachtete und behauptete, mit
dem Pflugſchar komme die Schande ins Haus; und der Jahve der Juden am Sinai war
ein kriegeriſcher Hirtengott. Aber die indiſche Religion, der Gott der jüdiſchen Propheten,
das Chriſtentum ſind in Ackerbauländern mit ihrer höheren Kultur entſtanden. Die
pſychologiſch-ſittlichen Züge des Nomaden entſprechen ſeiner Lebensweiſe; er verachtet
den Dieb und verherrlicht den Räuber; er iſt gaſtfrei und grauſam, gerecht gegen den
Stammesgenoſſen, treulos, gewaltthätig und liſtig gegen Fremde; er iſt ein Frauen-
räuber, mißhandelt leicht die Frau, hat aber oft die patriarchaliſche Familienverfaſſung
ausbilden helfen; er iſt hochmütig auf ſeinen Beſitz, aber er behandelt ſeinen Knecht meiſt
nicht ſchlecht. Selbſtändigkeit des Charakters verbindet ſich oft mit geſellſchaftlicher Zucht
und Unterordnung. Alle Viehhaltung hat mehr die männlichen und kriegeriſchen Eigen-
ſchaften, Hack- und Ackerbau die weiblichen und friedlichen der Stämme befördert. Es
ſind den Nomaden Stammesbündniſſe, völkerrechtliche Verträge, Eroberungen und große
Staatsbildungen, ja die Bildung von Weltreichen — freilich mehr vorübergehend —
in der Regel früher und beſſer als den Hack- und Ackerbauern gelungen. Dieſe zerfallen
vor der Ausbildung komplizierter ſtaatlicher Verfaſſungen leicht in zahlreiche kleine
lokale ſociale Körper.

Doch darf nicht überſehen werden, daß auch überwiegende Ackerbauern oft kühne
Krieger und Staatsbildner waren. Noch mehr freilich haben die indogermaniſchen Völker,
welche wir nicht als Nomaden, höchſtens als Halbnomaden bezeichnen dürfen, wo ſie
ſich wegen Übervölkerung ſpalteten und Teile ihrer Stämme erobernd vorwärtsdrängten,
eine kräftige kriegeriſche Verfaſſung ausgebildet.

80. Der Ackerbau, den wir den niederen Formen des Bodenbaues, haupt-
ſächlich dem Hackbau, dem halbnomadiſchen und nomadiſchen wechſelnden Anbau einiger
Ackerſtellen mit Sommerfrüchten entgegenſetzen, begreift alſo, nach unſerer obigen Aus-
führung über ſeine Entſtehung, den im ganzen ſeßhaften Anbau von Gramineen und
anderen Früchten, der mit Haken und Pflug ausgeführt wird, mit Viehzucht verbunden
iſt. Es verſteht ſich, daß auch er verſchiedene Stadien der Entwickelung durchläuft,
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[198/0214] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Winter, je nach Regen und Überſchwemmung hin und her wandern; aber gar leicht ſind ſie genötigt, darüber hinaus zu greifen; die geſtiegene Menſchen- oder Viehzahl, die Erſchöpfung des Bodens, die Viehraub- und Beutezüge treiben ſie zur Überſchreitung ihrer Gebiete. Auf den Zügen bilden ſie eine kriegeriſche Wanderverfaſſung aus. Und auch ihre Teile, die Geſchlechter und Genoſſenſchaften, löſen ſich des Schutzes und des gemeinſamen Weidebetriebes wegen nie etwa ſo auf, wie es der erſchöpfte Boden an ſich als wahrſcheinlich erſcheinen ließe. Die arabiſchen Stämme zerſtreuen ſich und ihre Herden in dürrer Zeit ſo weit als möglich, aber vier Zelte bleiben mindeſtens zuſammen. Das den einzelnen Familien oder Individuen gehörige Vieh wird ſtets in größern Herden geweidet; das Jungvieh wird weiter weg getrieben, das Melkvieh in der Nähe der Zelte und Hütten gelaſſen, die der Bewachung bedürfen. Auch die Kelten und Germanen lebten, wie Meitzen wahrſcheinlich macht, zur Zeit ihrer überwiegenden Viehzucht in Viehweide- genoſſenſchaften von 16 bis 100 Familien zu ſolchen Zwecken. So erwachſen gewiſſe Bande des Stammes und der Genoſſenſchaft über der patriarchaliſch ausgebildeten Familie, wenigſtens bei den ſtark wandernden und kämpfenden Nomaden. Im Herdenbeſitz iſt ein wertvolles Kapital entſtanden, das durch Zufall, Beute, Handel und gute Pflege ſich ſehr vermehren läßt, das andererſeits durch tauſend Gefahren bedroht iſt. Alle Nomadenſtämme kennen ſchon den Gegenſatz von reich und arm; alle neigen zu Handel und Verkehr, haben Rechentalent und Spekulationsſinn, haben Freie und Knechte, wenn auch beide nicht durch ſehr verſchiedene Lebensweiſe getrennt ſind. Die Wirtſchaftsweiſe giebt meiſt gute Ernährung, immer ſcharfe Sinne, perſönlichen Mut, Entſchloſſenheit, körperliche Abhärtung; die ſeit undenklichen Zeiten vorhandene Gleichförmigkeit des Lebens erzeugt eine gewiſſe Würde und Ruhe; ja die großen, gleichmäßigen Eindrücke der Natur können religiös-fataliſtiſchen Sinn fördern. Doch iſt es ganz falſch, alle höheren Religionen den Nomaden zuzuſchreiben. Wohl iſt Muhamed ein halb kaufmänniſcher Hirte geweſen, der den Ackerbau verachtete und behauptete, mit dem Pflugſchar komme die Schande ins Haus; und der Jahve der Juden am Sinai war ein kriegeriſcher Hirtengott. Aber die indiſche Religion, der Gott der jüdiſchen Propheten, das Chriſtentum ſind in Ackerbauländern mit ihrer höheren Kultur entſtanden. Die pſychologiſch-ſittlichen Züge des Nomaden entſprechen ſeiner Lebensweiſe; er verachtet den Dieb und verherrlicht den Räuber; er iſt gaſtfrei und grauſam, gerecht gegen den Stammesgenoſſen, treulos, gewaltthätig und liſtig gegen Fremde; er iſt ein Frauen- räuber, mißhandelt leicht die Frau, hat aber oft die patriarchaliſche Familienverfaſſung ausbilden helfen; er iſt hochmütig auf ſeinen Beſitz, aber er behandelt ſeinen Knecht meiſt nicht ſchlecht. Selbſtändigkeit des Charakters verbindet ſich oft mit geſellſchaftlicher Zucht und Unterordnung. Alle Viehhaltung hat mehr die männlichen und kriegeriſchen Eigen- ſchaften, Hack- und Ackerbau die weiblichen und friedlichen der Stämme befördert. Es ſind den Nomaden Stammesbündniſſe, völkerrechtliche Verträge, Eroberungen und große Staatsbildungen, ja die Bildung von Weltreichen — freilich mehr vorübergehend — in der Regel früher und beſſer als den Hack- und Ackerbauern gelungen. Dieſe zerfallen vor der Ausbildung komplizierter ſtaatlicher Verfaſſungen leicht in zahlreiche kleine lokale ſociale Körper. Doch darf nicht überſehen werden, daß auch überwiegende Ackerbauern oft kühne Krieger und Staatsbildner waren. Noch mehr freilich haben die indogermaniſchen Völker, welche wir nicht als Nomaden, höchſtens als Halbnomaden bezeichnen dürfen, wo ſie ſich wegen Übervölkerung ſpalteten und Teile ihrer Stämme erobernd vorwärtsdrängten, eine kräftige kriegeriſche Verfaſſung ausgebildet. 80. Der Ackerbau, den wir den niederen Formen des Bodenbaues, haupt- ſächlich dem Hackbau, dem halbnomadiſchen und nomadiſchen wechſelnden Anbau einiger Ackerſtellen mit Sommerfrüchten entgegenſetzen, begreift alſo, nach unſerer obigen Aus- führung über ſeine Entſtehung, den im ganzen ſeßhaften Anbau von Gramineen und anderen Früchten, der mit Haken und Pflug ausgeführt wird, mit Viehzucht verbunden iſt. Es verſteht ſich, daß auch er verſchiedene Stadien der Entwickelung durchläuft, vom Anbau einiger Prozente des Bodens bis zu 50, 80 und 100 Prozent, von der

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/214>, abgerufen am 20.04.2024.