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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Kolonien. Größe und Politik der Auswanderung.
wenn man die zurechnet, deren beide Eltern Deutsche waren. Auch einzelne europäische
Länder haben noch in unserem Jahrhundert eine erhebliche Zuwanderung: Frankreich
z. B. 1850--90 1,5 Mill.; es leben heute dort über 1 Mill. Fremde, 30 %0 der
Bevölkerung, in der Schweiz 80 %0, in Belgien 27 %0. Daß die großen Binnen-
wanderungen der Vereinigten Staaten nach dem Westen, Rußlands nach dem Osten
eine ähnliche wirtschaftliche Bedeutung haben, erwähnten wir schon.

Die Ursachen der Wanderungen des 18. und 19. Jahrhunderts sind die mannig-
fachsten: religiöser und politischer Druck, nationale Mißstimmung (z. B. in Irland),
die jeweilige sehr verschiedene Aus- und Einwanderungspolitik in der Heimat und
Kolonialgebieten und die geschäftliche Organisation und rechtliche Ordnung der Aus-
wanderung, des Beförderungswesens, der Neuansiedlung wirkten mit; aber das Ent-
scheidende war doch stets die relative Übervölkerung in der Heimat, die wachsende
Schwierigkeit, für eine zunehmende Bevölkerung bei der vorhandenen Technik, Besitz-
verteilung und volkswirtschaftlichen Verfassung so leicht wie bisher eine Familie zu
gründen, für zahlreiche Kinder zu sorgen. Solche Schwierigkeit konnte bei dichter wie
bei sparsamer Bevölkerung, in industriellen wie in agrikolen Gegenden vorliegen. Die
deutschen Auswanderer von 1750--1850 waren hauptsächlich süddeutsche Zwergbauern
und Handwerker mit ihren Söhnen, 1850--90 Tagelöhner und Bauern des Ostens,
die keinen oder nicht genug Grundbesitz fanden. Es waren nirgends die ganz armen
und die ganz wohlhabenden Elemente, sondern tüchtige, energische, nicht ganz besitzlose
Leute. Was die ca. 6 Mill. deutscher Auswanderer des 19. Jahrhunderts an Er-
ziehungskosten, die sie der Nation nicht vergütet haben, und an barem Kapital mit-
nahmen, kann man sehr mäßig auf 6--8 Milliarden Mark veranschlagen.

Die Beurteilung dieses großen Wanderprozesses und die dem entsprechende Politik
war natürlich nach Zeit und Land sehr verschieden. Wo und so lange die Menschen
mangelten, wie im vorigen Jahrhundert in Preußen, in diesem lange in den Vereinigten
Staaten und anderen Kolonien, hat man die Einwanderung begünstigt, sie und die
Ansiedlung teilweise mit staatlichen Mitteln unterstützt. Wo man den Abzug fürchtete,
hat man die Auswanderung durch Verwaltung und Recht bis tief in unser Jahrhundert
erschwert; die Auswanderungsfreiheit als allgemeines Menschenrecht ist sehr jungen
Datums (1820--50). Die Betrügung und Mißhandlung der Auswanderer durch
Agenten und Schiffsunternehmer, durch Wirte und Geschäftsleute zu Hause und in der
Fremde hat zu so unerhörten Mißbräuchen geführt, daß Aus- und Einwanderungsstaaten --
freilich recht langsam und schüchtern, um das einträgliche Geschäft nicht zu verderben --
von 1803 bis zur Gegenwart zu einer schützenden und kontrollierenden Gesetzgebung
kamen. Zu einer Erschwerung der Einwanderung unliebsamer Elemente (Chinesen,
Sträflingen, Mittellosen etc.) griffen seit 25 Jahren die Vereinigten Staaten, Kanada
und Australien. Das Wichtigste aber war in jedem Lande mit erheblicher Aus- oder
Einwanderung, ob die Staatsgewalt sie in systematischen Zusammenhang mit der ganzen
Wirtschafts-, Handels- und Machtpolitik brachte oder sie im Sinne der Manchesterlehre
sich ganz selbst überließ als etwas, was den Staat nichts angehe. Die großen und
selbstbewußten Staaten, wie England, Rußland, die Vereinigten Staaten, konnten sich,
auch wenn im übrigen solche Theorien überwogen, nie ganz auf diesen Nachtwächter-
standpunkt stellen. Sie haben in unserem Jahrhundert wieder mit Energie begonnen,
diesen Wanderprozeß in ihrem nationalen Macht-, in ihrem Kolonial- und Handels-
interesse zu leiten. Deutschland, unfähig, seine Söhne in eigene Kolonien zu bringen
und sie in dauernder Verbindung mit dem Mutterlande zu erhalten, hat bis vor kurzem
all' das versäumt, höchstens da und dort verarmte Auswanderer wegschaffen helfen. Die
Arbeitgeber und Grundbesitzer haben sich auf kurzsichtiges Jammern beschränkt, daß ihnen
die Arbeitskräfte weggehen, die internationalen Schwärmer und Manchesterleute haben
sich über den Verlust an Menschen und Kapital, über die Thatsache, daß Deutschland
die Kinder- und Schulstube für die übrige Welt sei, damit getröstet, daß es vielleicht
in Deutschland noch schlimmer aussähe, der Lohn noch gedrückter wäre, wenn die 6 Mill.
Auswanderer und ihre Kinder noch zu Hause wären. Erst neuestens ist eine größere

Kolonien. Größe und Politik der Auswanderung.
wenn man die zurechnet, deren beide Eltern Deutſche waren. Auch einzelne europäiſche
Länder haben noch in unſerem Jahrhundert eine erhebliche Zuwanderung: Frankreich
z. B. 1850—90 1,5 Mill.; es leben heute dort über 1 Mill. Fremde, 30 ‰ der
Bevölkerung, in der Schweiz 80 ‰, in Belgien 27 ‰. Daß die großen Binnen-
wanderungen der Vereinigten Staaten nach dem Weſten, Rußlands nach dem Oſten
eine ähnliche wirtſchaftliche Bedeutung haben, erwähnten wir ſchon.

Die Urſachen der Wanderungen des 18. und 19. Jahrhunderts ſind die mannig-
fachſten: religiöſer und politiſcher Druck, nationale Mißſtimmung (z. B. in Irland),
die jeweilige ſehr verſchiedene Aus- und Einwanderungspolitik in der Heimat und
Kolonialgebieten und die geſchäftliche Organiſation und rechtliche Ordnung der Aus-
wanderung, des Beförderungsweſens, der Neuanſiedlung wirkten mit; aber das Ent-
ſcheidende war doch ſtets die relative Übervölkerung in der Heimat, die wachſende
Schwierigkeit, für eine zunehmende Bevölkerung bei der vorhandenen Technik, Beſitz-
verteilung und volkswirtſchaftlichen Verfaſſung ſo leicht wie bisher eine Familie zu
gründen, für zahlreiche Kinder zu ſorgen. Solche Schwierigkeit konnte bei dichter wie
bei ſparſamer Bevölkerung, in induſtriellen wie in agrikolen Gegenden vorliegen. Die
deutſchen Auswanderer von 1750—1850 waren hauptſächlich ſüddeutſche Zwergbauern
und Handwerker mit ihren Söhnen, 1850—90 Tagelöhner und Bauern des Oſtens,
die keinen oder nicht genug Grundbeſitz fanden. Es waren nirgends die ganz armen
und die ganz wohlhabenden Elemente, ſondern tüchtige, energiſche, nicht ganz beſitzloſe
Leute. Was die ca. 6 Mill. deutſcher Auswanderer des 19. Jahrhunderts an Er-
ziehungskoſten, die ſie der Nation nicht vergütet haben, und an barem Kapital mit-
nahmen, kann man ſehr mäßig auf 6—8 Milliarden Mark veranſchlagen.

Die Beurteilung dieſes großen Wanderprozeſſes und die dem entſprechende Politik
war natürlich nach Zeit und Land ſehr verſchieden. Wo und ſo lange die Menſchen
mangelten, wie im vorigen Jahrhundert in Preußen, in dieſem lange in den Vereinigten
Staaten und anderen Kolonien, hat man die Einwanderung begünſtigt, ſie und die
Anſiedlung teilweiſe mit ſtaatlichen Mitteln unterſtützt. Wo man den Abzug fürchtete,
hat man die Auswanderung durch Verwaltung und Recht bis tief in unſer Jahrhundert
erſchwert; die Auswanderungsfreiheit als allgemeines Menſchenrecht iſt ſehr jungen
Datums (1820—50). Die Betrügung und Mißhandlung der Auswanderer durch
Agenten und Schiffsunternehmer, durch Wirte und Geſchäftsleute zu Hauſe und in der
Fremde hat zu ſo unerhörten Mißbräuchen geführt, daß Aus- und Einwanderungsſtaaten —
freilich recht langſam und ſchüchtern, um das einträgliche Geſchäft nicht zu verderben —
von 1803 bis zur Gegenwart zu einer ſchützenden und kontrollierenden Geſetzgebung
kamen. Zu einer Erſchwerung der Einwanderung unliebſamer Elemente (Chineſen,
Sträflingen, Mittelloſen ꝛc.) griffen ſeit 25 Jahren die Vereinigten Staaten, Kanada
und Auſtralien. Das Wichtigſte aber war in jedem Lande mit erheblicher Aus- oder
Einwanderung, ob die Staatsgewalt ſie in ſyſtematiſchen Zuſammenhang mit der ganzen
Wirtſchafts-, Handels- und Machtpolitik brachte oder ſie im Sinne der Mancheſterlehre
ſich ganz ſelbſt überließ als etwas, was den Staat nichts angehe. Die großen und
ſelbſtbewußten Staaten, wie England, Rußland, die Vereinigten Staaten, konnten ſich,
auch wenn im übrigen ſolche Theorien überwogen, nie ganz auf dieſen Nachtwächter-
ſtandpunkt ſtellen. Sie haben in unſerem Jahrhundert wieder mit Energie begonnen,
dieſen Wanderprozeß in ihrem nationalen Macht-, in ihrem Kolonial- und Handels-
intereſſe zu leiten. Deutſchland, unfähig, ſeine Söhne in eigene Kolonien zu bringen
und ſie in dauernder Verbindung mit dem Mutterlande zu erhalten, hat bis vor kurzem
all’ das verſäumt, höchſtens da und dort verarmte Auswanderer wegſchaffen helfen. Die
Arbeitgeber und Grundbeſitzer haben ſich auf kurzſichtiges Jammern beſchränkt, daß ihnen
die Arbeitskräfte weggehen, die internationalen Schwärmer und Mancheſterleute haben
ſich über den Verluſt an Menſchen und Kapital, über die Thatſache, daß Deutſchland
die Kinder- und Schulſtube für die übrige Welt ſei, damit getröſtet, daß es vielleicht
in Deutſchland noch ſchlimmer ausſähe, der Lohn noch gedrückter wäre, wenn die 6 Mill.
Auswanderer und ihre Kinder noch zu Hauſe wären. Erſt neueſtens iſt eine größere

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[181/0197] Kolonien. Größe und Politik der Auswanderung. wenn man die zurechnet, deren beide Eltern Deutſche waren. Auch einzelne europäiſche Länder haben noch in unſerem Jahrhundert eine erhebliche Zuwanderung: Frankreich z. B. 1850—90 1,5 Mill.; es leben heute dort über 1 Mill. Fremde, 30 ‰ der Bevölkerung, in der Schweiz 80 ‰, in Belgien 27 ‰. Daß die großen Binnen- wanderungen der Vereinigten Staaten nach dem Weſten, Rußlands nach dem Oſten eine ähnliche wirtſchaftliche Bedeutung haben, erwähnten wir ſchon. Die Urſachen der Wanderungen des 18. und 19. Jahrhunderts ſind die mannig- fachſten: religiöſer und politiſcher Druck, nationale Mißſtimmung (z. B. in Irland), die jeweilige ſehr verſchiedene Aus- und Einwanderungspolitik in der Heimat und Kolonialgebieten und die geſchäftliche Organiſation und rechtliche Ordnung der Aus- wanderung, des Beförderungsweſens, der Neuanſiedlung wirkten mit; aber das Ent- ſcheidende war doch ſtets die relative Übervölkerung in der Heimat, die wachſende Schwierigkeit, für eine zunehmende Bevölkerung bei der vorhandenen Technik, Beſitz- verteilung und volkswirtſchaftlichen Verfaſſung ſo leicht wie bisher eine Familie zu gründen, für zahlreiche Kinder zu ſorgen. Solche Schwierigkeit konnte bei dichter wie bei ſparſamer Bevölkerung, in induſtriellen wie in agrikolen Gegenden vorliegen. Die deutſchen Auswanderer von 1750—1850 waren hauptſächlich ſüddeutſche Zwergbauern und Handwerker mit ihren Söhnen, 1850—90 Tagelöhner und Bauern des Oſtens, die keinen oder nicht genug Grundbeſitz fanden. Es waren nirgends die ganz armen und die ganz wohlhabenden Elemente, ſondern tüchtige, energiſche, nicht ganz beſitzloſe Leute. Was die ca. 6 Mill. deutſcher Auswanderer des 19. Jahrhunderts an Er- ziehungskoſten, die ſie der Nation nicht vergütet haben, und an barem Kapital mit- nahmen, kann man ſehr mäßig auf 6—8 Milliarden Mark veranſchlagen. Die Beurteilung dieſes großen Wanderprozeſſes und die dem entſprechende Politik war natürlich nach Zeit und Land ſehr verſchieden. Wo und ſo lange die Menſchen mangelten, wie im vorigen Jahrhundert in Preußen, in dieſem lange in den Vereinigten Staaten und anderen Kolonien, hat man die Einwanderung begünſtigt, ſie und die Anſiedlung teilweiſe mit ſtaatlichen Mitteln unterſtützt. Wo man den Abzug fürchtete, hat man die Auswanderung durch Verwaltung und Recht bis tief in unſer Jahrhundert erſchwert; die Auswanderungsfreiheit als allgemeines Menſchenrecht iſt ſehr jungen Datums (1820—50). Die Betrügung und Mißhandlung der Auswanderer durch Agenten und Schiffsunternehmer, durch Wirte und Geſchäftsleute zu Hauſe und in der Fremde hat zu ſo unerhörten Mißbräuchen geführt, daß Aus- und Einwanderungsſtaaten — freilich recht langſam und ſchüchtern, um das einträgliche Geſchäft nicht zu verderben — von 1803 bis zur Gegenwart zu einer ſchützenden und kontrollierenden Geſetzgebung kamen. Zu einer Erſchwerung der Einwanderung unliebſamer Elemente (Chineſen, Sträflingen, Mittelloſen ꝛc.) griffen ſeit 25 Jahren die Vereinigten Staaten, Kanada und Auſtralien. Das Wichtigſte aber war in jedem Lande mit erheblicher Aus- oder Einwanderung, ob die Staatsgewalt ſie in ſyſtematiſchen Zuſammenhang mit der ganzen Wirtſchafts-, Handels- und Machtpolitik brachte oder ſie im Sinne der Mancheſterlehre ſich ganz ſelbſt überließ als etwas, was den Staat nichts angehe. Die großen und ſelbſtbewußten Staaten, wie England, Rußland, die Vereinigten Staaten, konnten ſich, auch wenn im übrigen ſolche Theorien überwogen, nie ganz auf dieſen Nachtwächter- ſtandpunkt ſtellen. Sie haben in unſerem Jahrhundert wieder mit Energie begonnen, dieſen Wanderprozeß in ihrem nationalen Macht-, in ihrem Kolonial- und Handels- intereſſe zu leiten. Deutſchland, unfähig, ſeine Söhne in eigene Kolonien zu bringen und ſie in dauernder Verbindung mit dem Mutterlande zu erhalten, hat bis vor kurzem all’ das verſäumt, höchſtens da und dort verarmte Auswanderer wegſchaffen helfen. Die Arbeitgeber und Grundbeſitzer haben ſich auf kurzſichtiges Jammern beſchränkt, daß ihnen die Arbeitskräfte weggehen, die internationalen Schwärmer und Mancheſterleute haben ſich über den Verluſt an Menſchen und Kapital, über die Thatſache, daß Deutſchland die Kinder- und Schulſtube für die übrige Welt ſei, damit getröſtet, daß es vielleicht in Deutſchland noch ſchlimmer ausſähe, der Lohn noch gedrückter wäre, wenn die 6 Mill. Auswanderer und ihre Kinder noch zu Hauſe wären. Erſt neueſtens iſt eine größere

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/197>, abgerufen am 19.03.2024.