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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die neueren Wanderungen.
teils passiv gehalten, teils nur durch Erwerb von Kolonien und Handelsstationen und
ihre erste Einrichtung, durch internationale Verträge und Ähnliches die Wanderungen
ermöglicht, jedenfalls nicht in dem Maße wie früher im Altertum, in der Völker-
wanderung, zur Zeit der deutschen Kolonisation der Slavenlande, systematisch einheitlich
diesen ganzen Prozeß geleitet. Die älteren Wanderungen und Kolonisationen waren
Volks- und Staatssache, die modernen sind überwiegend Sache der Individuen. --

Die neueren Wanderungen können geschieden werden in periodische und dauernde,
in innere und äußere. Die periodischen Wanderungen, welche die Wanderer stets wieder
zur alten Heimat zurückbringen, haben früher bei Nomaden und Jägern wohl noch
umfassender stattgefunden als heute. Aber auch jetzt sind sie in gebirgigen Ländern
vielfach für die Viehernährung nötig; sie finden dann in umfassendem Maße von Seiten
land- und forstwirtschaftlicher, auch gewerblicher Arbeiter statt; Hausierer und Kauf-
leute, Schiffer und Matrosen sind einen großen Teil des Jahres in Bewegung. An
all' diese periodischen Wanderungen knüpft sich häufig die dauernde Loslösung. Die
außerordentliche Ausdehnung des heutigen Reiseverkehrs, des Suchens von Stellen in
der Ferne, im Auslande hat eine große Zahl von Menschen geschaffen, die viele Jahre
nicht sicher wissen, ob sie dauernd an ihren neuen Wohnorten bleiben oder in die
Heimat zurückkehren werden.

Der Unterschied zwischen den Wanderungen nach dem Auslande und im Inlande
ist zunächst ein rein formaler, vom jeweiligen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht
bedingter. Je kleiner die Staatsgebiete sind, desto häufiger ist schon die Übersiedelung
an einen Ort von 1--10 Meilen Entfernung Auswanderung, nicht Binnenwanderung.
Überall an den Grenzen der Staaten, wo lebendiger Austausch der Kräfte stattfindet,
ist auch die definitive Übersiedlung wirtschaftlich kein so erheblicher Wanderschritt, wie
wenn der rheinische Bauernsohn in Posen sich ansiedelt. Die vorübergehenden und
dauernden Binnenwanderungen sind durch die heutige Niederlassungsfreiheit, die ins
Ausland durch die neueren internationalen Verträge außerordentlich erleichtert worden.
Die Rechtssysteme in Bezug auf die Entlassung aus den heimatlichen Rechtsverhältnissen
sind heute noch sehr verschieden; England hält auch die draußen Wohnenden rechtlich
anders fest als Deutschland. Der Wanderprozeß selbst aber wird dadurch nicht viel
beeinflußt.

Die Ziele der Wanderung sind teils im Inlande liegend, teils sind es andere
kultivierte Länder unserer Zone, teils unbesiedelte fremde Länder und Kolonien. Der
große Strom unserer inneren Wanderungen geht vom Lande nach den Mittelpunkten
der Industrie und des Handels; teilweise findet aber auch eine Bewegung nach bisher
weniger besiedelten ländlichen Gebieten des Inlandes statt; man spricht da von innerer
Kolonisation, wo noch Platz zu Neuansiedlungen, zur Bildung kleinerer Güter, zu
Anlagen auf bisher unwirtlichem, nun melioriertem Boden vorhanden ist. Reiche, die,
wie Nordamerika und Rußland, sich neuerdings noch in unmittelbarer Nähe großartig
ausdehnen konnten, haben auch noch eine große innere Kolonisation, welche wirtschaftlich
die Folgen der eigentlichen Auswanderung anderer Staaten übertrifft und den großen
Vorteil hat, die Neuansiedler als Staatsbürger und im geographischen Zusammenhang
mit der alten Heimat zu erhalten.

Die Staaten, welche sich nicht so ausdehnen und auch in der Ferne keine neuen
Besitzungen erwerben konnten, wie Deutschland, Italien, die skandinavischen Reiche, haben
ihre Auswanderer meist nach den Vereinigten Staaten oder in englische Kolonien
geschickt. Die Folge war fast stets, daß die Auswanderer und ihre Nachkommen bald die
Sprache und Nationalität verloren, auch wirtschaftlich von der alten Heimat sich lösten.
Solche Auswanderung hat entfernt nicht den Vorteil fürs abgebende Land wie die in
eigene Kolonien.

Unter Kolonien im weiteren Sinne versteht man vom Mutterlande getrennte, von
ihm in irgend welcher Rechtsform abhängige Gebiete, hauptsächlich solche, welche, in
erheblicher Entfernung, auf niedriger wirtschaftlicher Kulturstufe stehen, durch ihre Ab-
hängigkeit vom Mutterlande diesem als wirtschaftliche Glieder dienen. Volkswirtschaftlich

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Die neueren Wanderungen.
teils paſſiv gehalten, teils nur durch Erwerb von Kolonien und Handelsſtationen und
ihre erſte Einrichtung, durch internationale Verträge und Ähnliches die Wanderungen
ermöglicht, jedenfalls nicht in dem Maße wie früher im Altertum, in der Völker-
wanderung, zur Zeit der deutſchen Koloniſation der Slavenlande, ſyſtematiſch einheitlich
dieſen ganzen Prozeß geleitet. Die älteren Wanderungen und Koloniſationen waren
Volks- und Staatsſache, die modernen ſind überwiegend Sache der Individuen. —

Die neueren Wanderungen können geſchieden werden in periodiſche und dauernde,
in innere und äußere. Die periodiſchen Wanderungen, welche die Wanderer ſtets wieder
zur alten Heimat zurückbringen, haben früher bei Nomaden und Jägern wohl noch
umfaſſender ſtattgefunden als heute. Aber auch jetzt ſind ſie in gebirgigen Ländern
vielfach für die Viehernährung nötig; ſie finden dann in umfaſſendem Maße von Seiten
land- und forſtwirtſchaftlicher, auch gewerblicher Arbeiter ſtatt; Hauſierer und Kauf-
leute, Schiffer und Matroſen ſind einen großen Teil des Jahres in Bewegung. An
all’ dieſe periodiſchen Wanderungen knüpft ſich häufig die dauernde Loslöſung. Die
außerordentliche Ausdehnung des heutigen Reiſeverkehrs, des Suchens von Stellen in
der Ferne, im Auslande hat eine große Zahl von Menſchen geſchaffen, die viele Jahre
nicht ſicher wiſſen, ob ſie dauernd an ihren neuen Wohnorten bleiben oder in die
Heimat zurückkehren werden.

Der Unterſchied zwiſchen den Wanderungen nach dem Auslande und im Inlande
iſt zunächſt ein rein formaler, vom jeweiligen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht
bedingter. Je kleiner die Staatsgebiete ſind, deſto häufiger iſt ſchon die Überſiedelung
an einen Ort von 1—10 Meilen Entfernung Auswanderung, nicht Binnenwanderung.
Überall an den Grenzen der Staaten, wo lebendiger Austauſch der Kräfte ſtattfindet,
iſt auch die definitive Überſiedlung wirtſchaftlich kein ſo erheblicher Wanderſchritt, wie
wenn der rheiniſche Bauernſohn in Poſen ſich anſiedelt. Die vorübergehenden und
dauernden Binnenwanderungen ſind durch die heutige Niederlaſſungsfreiheit, die ins
Ausland durch die neueren internationalen Verträge außerordentlich erleichtert worden.
Die Rechtsſyſteme in Bezug auf die Entlaſſung aus den heimatlichen Rechtsverhältniſſen
ſind heute noch ſehr verſchieden; England hält auch die draußen Wohnenden rechtlich
anders feſt als Deutſchland. Der Wanderprozeß ſelbſt aber wird dadurch nicht viel
beeinflußt.

Die Ziele der Wanderung ſind teils im Inlande liegend, teils ſind es andere
kultivierte Länder unſerer Zone, teils unbeſiedelte fremde Länder und Kolonien. Der
große Strom unſerer inneren Wanderungen geht vom Lande nach den Mittelpunkten
der Induſtrie und des Handels; teilweiſe findet aber auch eine Bewegung nach bisher
weniger beſiedelten ländlichen Gebieten des Inlandes ſtatt; man ſpricht da von innerer
Koloniſation, wo noch Platz zu Neuanſiedlungen, zur Bildung kleinerer Güter, zu
Anlagen auf bisher unwirtlichem, nun melioriertem Boden vorhanden iſt. Reiche, die,
wie Nordamerika und Rußland, ſich neuerdings noch in unmittelbarer Nähe großartig
ausdehnen konnten, haben auch noch eine große innere Koloniſation, welche wirtſchaftlich
die Folgen der eigentlichen Auswanderung anderer Staaten übertrifft und den großen
Vorteil hat, die Neuanſiedler als Staatsbürger und im geographiſchen Zuſammenhang
mit der alten Heimat zu erhalten.

Die Staaten, welche ſich nicht ſo ausdehnen und auch in der Ferne keine neuen
Beſitzungen erwerben konnten, wie Deutſchland, Italien, die ſkandinaviſchen Reiche, haben
ihre Auswanderer meiſt nach den Vereinigten Staaten oder in engliſche Kolonien
geſchickt. Die Folge war faſt ſtets, daß die Auswanderer und ihre Nachkommen bald die
Sprache und Nationalität verloren, auch wirtſchaftlich von der alten Heimat ſich löſten.
Solche Auswanderung hat entfernt nicht den Vorteil fürs abgebende Land wie die in
eigene Kolonien.

Unter Kolonien im weiteren Sinne verſteht man vom Mutterlande getrennte, von
ihm in irgend welcher Rechtsform abhängige Gebiete, hauptſächlich ſolche, welche, in
erheblicher Entfernung, auf niedriger wirtſchaftlicher Kulturſtufe ſtehen, durch ihre Ab-
hängigkeit vom Mutterlande dieſem als wirtſchaftliche Glieder dienen. Volkswirtſchaftlich

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[179/0195] Die neueren Wanderungen. teils paſſiv gehalten, teils nur durch Erwerb von Kolonien und Handelsſtationen und ihre erſte Einrichtung, durch internationale Verträge und Ähnliches die Wanderungen ermöglicht, jedenfalls nicht in dem Maße wie früher im Altertum, in der Völker- wanderung, zur Zeit der deutſchen Koloniſation der Slavenlande, ſyſtematiſch einheitlich dieſen ganzen Prozeß geleitet. Die älteren Wanderungen und Koloniſationen waren Volks- und Staatsſache, die modernen ſind überwiegend Sache der Individuen. — Die neueren Wanderungen können geſchieden werden in periodiſche und dauernde, in innere und äußere. Die periodiſchen Wanderungen, welche die Wanderer ſtets wieder zur alten Heimat zurückbringen, haben früher bei Nomaden und Jägern wohl noch umfaſſender ſtattgefunden als heute. Aber auch jetzt ſind ſie in gebirgigen Ländern vielfach für die Viehernährung nötig; ſie finden dann in umfaſſendem Maße von Seiten land- und forſtwirtſchaftlicher, auch gewerblicher Arbeiter ſtatt; Hauſierer und Kauf- leute, Schiffer und Matroſen ſind einen großen Teil des Jahres in Bewegung. An all’ dieſe periodiſchen Wanderungen knüpft ſich häufig die dauernde Loslöſung. Die außerordentliche Ausdehnung des heutigen Reiſeverkehrs, des Suchens von Stellen in der Ferne, im Auslande hat eine große Zahl von Menſchen geſchaffen, die viele Jahre nicht ſicher wiſſen, ob ſie dauernd an ihren neuen Wohnorten bleiben oder in die Heimat zurückkehren werden. Der Unterſchied zwiſchen den Wanderungen nach dem Auslande und im Inlande iſt zunächſt ein rein formaler, vom jeweiligen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht bedingter. Je kleiner die Staatsgebiete ſind, deſto häufiger iſt ſchon die Überſiedelung an einen Ort von 1—10 Meilen Entfernung Auswanderung, nicht Binnenwanderung. Überall an den Grenzen der Staaten, wo lebendiger Austauſch der Kräfte ſtattfindet, iſt auch die definitive Überſiedlung wirtſchaftlich kein ſo erheblicher Wanderſchritt, wie wenn der rheiniſche Bauernſohn in Poſen ſich anſiedelt. Die vorübergehenden und dauernden Binnenwanderungen ſind durch die heutige Niederlaſſungsfreiheit, die ins Ausland durch die neueren internationalen Verträge außerordentlich erleichtert worden. Die Rechtsſyſteme in Bezug auf die Entlaſſung aus den heimatlichen Rechtsverhältniſſen ſind heute noch ſehr verſchieden; England hält auch die draußen Wohnenden rechtlich anders feſt als Deutſchland. Der Wanderprozeß ſelbſt aber wird dadurch nicht viel beeinflußt. Die Ziele der Wanderung ſind teils im Inlande liegend, teils ſind es andere kultivierte Länder unſerer Zone, teils unbeſiedelte fremde Länder und Kolonien. Der große Strom unſerer inneren Wanderungen geht vom Lande nach den Mittelpunkten der Induſtrie und des Handels; teilweiſe findet aber auch eine Bewegung nach bisher weniger beſiedelten ländlichen Gebieten des Inlandes ſtatt; man ſpricht da von innerer Koloniſation, wo noch Platz zu Neuanſiedlungen, zur Bildung kleinerer Güter, zu Anlagen auf bisher unwirtlichem, nun melioriertem Boden vorhanden iſt. Reiche, die, wie Nordamerika und Rußland, ſich neuerdings noch in unmittelbarer Nähe großartig ausdehnen konnten, haben auch noch eine große innere Koloniſation, welche wirtſchaftlich die Folgen der eigentlichen Auswanderung anderer Staaten übertrifft und den großen Vorteil hat, die Neuanſiedler als Staatsbürger und im geographiſchen Zuſammenhang mit der alten Heimat zu erhalten. Die Staaten, welche ſich nicht ſo ausdehnen und auch in der Ferne keine neuen Beſitzungen erwerben konnten, wie Deutſchland, Italien, die ſkandinaviſchen Reiche, haben ihre Auswanderer meiſt nach den Vereinigten Staaten oder in engliſche Kolonien geſchickt. Die Folge war faſt ſtets, daß die Auswanderer und ihre Nachkommen bald die Sprache und Nationalität verloren, auch wirtſchaftlich von der alten Heimat ſich löſten. Solche Auswanderung hat entfernt nicht den Vorteil fürs abgebende Land wie die in eigene Kolonien. Unter Kolonien im weiteren Sinne verſteht man vom Mutterlande getrennte, von ihm in irgend welcher Rechtsform abhängige Gebiete, hauptſächlich ſolche, welche, in erheblicher Entfernung, auf niedriger wirtſchaftlicher Kulturſtufe ſtehen, durch ihre Ab- hängigkeit vom Mutterlande dieſem als wirtſchaftliche Glieder dienen. Volkswirtſchaftlich 12*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/195>, abgerufen am 19.03.2024.