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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Zunahme der Bevölkerung.
Aber immer erlebten wir in den letzten 150--200 Jahren zeitweise solche Zunahmen.
Von 1748--1800 haben die rasch wachsenden preußischen Provinzen, allerdings unter
Zuhülfenahme einer erheblichen Einwanderung, jährlich 12--15 %0 zugenommen; die
meisten anderen Staaten blieben damals noch weit dahinter zurück. Heute haben doch
mehrere diesen Satz eingeholt. Die jährliche deutsche Zuwachsrate pro 1000 Seelen war
in fünfjährigen Epochen von 1816--95: 14,3, 13,4, 9,8, 9,4, 11,6, 9,6, 5,7, 4,0, 8,8,
9,9, 5,8, 9,1, 11,4, 7,0, 10,7, 11,2; ganz Europa hat 1800--1895 eine solche von 8,05;
man wird von unseren heutigen Kulturstaaten in ihrer großen Mehrheit sagen können,
7 %0 jährliche Zunahme sei ihre mittlere Zuwachsrate, 10 und mehr eine starke, 1--5
eine mäßige oder kleine. Zu den Ländern letzterer Art gehören Frankreich, Spanien,
neuerdings auch die Schweiz und Schweden, zu den stark wachsenden Deutschland,
Großbritannien, Dänemark, Niederlande, Rußland. In den meisten europäischen Staaten
hat die Zunahme in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwas nachgelassen, nach-
dem sie vielfach von 1850--70 noch wesentlich gestiegen war. Ein starker Wechsel des
Zuwachses von Jahr zu Jahr und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat fast nirgends
gefehlt; in Württemberg beobachten wir 1813--80 in fünfjährigen Epochen Wechsel
von 3 bis 13 %0.

Wenn die höchste in Kolonien beobachtete natürliche jährliche Zuwachsrate 20 bis
28 %0 war, die heutige in den alten, großen, friedlichen Kulturstaaten zwischen 1 und
15 schwankt, wenn die stärkere Zu- und Abnahme auf Wanderungen zurückgeht, wenn
in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden ebenso oft ein Stillstand oder gar eine
Abnahme, wie eine mäßige natürliche Zunahme von 2--20 %0 vorhanden war, so
werden wir überhaupt nicht, wie früher meist geschah, von einer natürlichen normalen
Zuwachsrate von 10--30 %0 reden können. Wir werden die Zunahme der Bevölkerung
stets als ein kompliziertes, schwankendes Ergebnis der natürlichen und psychologischen
Triebe einerseits, der gesellschaftlichen Sitten und Einrichtungen, sowie der wirtschaftlichen
Zustände und Bedingungen andererseits betrachten und nur das zugeben, daß bei ideal
vollendeter Gesellschaftsverfassung und besonders in wirtschaftlich glücklichen Zeiten und
Gebieten die geschlechtlichen Triebe, die Freuden des ehelichen Lebens und das Eltern-
glück eine Zunahme von 10--30, ja unter besonderen Umständen auch von noch mehr
pro Mille erzeugen können und öfters erzeugt haben, und daß jede wirtschaftliche und
gesellschaftliche Verbesserung Tendenzen einer stärkeren Zunahme hervorruft.

Doch wollen wir hier auf das Bevölkerungsproblem noch nicht eingehen, sondern
vorher noch sehen, was die neuerdings ausgebildete historische Bevölkerungsstatistik über
das Gesamtresultat der Bewegung uns lehrt. Die Wissenschaft kann auf diese Resultate
um so stolzer sein, als vor nicht gar langer Zeit alle Annahmen hierüber gänzlich falsch
waren; die antike Bevölkerung wurde früher bis zum 10fachen überschätzt.

Wir fragen: wie groß waren früher und heute die socialen Gemeinschaften, die
wir als Stämme, Völker, Völkerbünde, Reiche bezeichnen; und wir erinnern uns dabei,
daß die historische Entwickelung nicht etwa in gerader Linie die kleinen Stämme zu
großen Reichen ausbilden konnte; Jahrtausende und Jahrhunderte lang waren Sitte
und Gewohnheit, Rechts- und Gesellschaftsverfassung wie sämtliche Lebensbedingungen
so, daß nur kleine Gemeinwesen existieren konnten, daß ihr Anwachsen zu Spaltungen,
zu Eroberungszügen, zu Kämpfen aller Art führte, die erst in langsamen Versuchen zu
Völkerbünden, größeren Staaten und Weltreichen führen konnten.

Die Völkerkunde belehrt uns, daß noch heute die niederen Rassen, z. B. auch
die meisten Neger, in Stämmen von 1000--3000 Personen leben, daß aber allerdings
daneben die verschiedenartigsten Verbindungen solcher Stämme zu Völkerschaften und
Bünden vorkommen. Als das glänzendste Resultat solch' bündisch-völkerrechtlicher Ent-
wickelung der nordamerikanischen Indianer weist Morgan den Zusammenschluß von
5--6 Stämmen zu einem Bunde von 15000, ja vielleicht 20000 Seelen nach. Wenn
für die germanischen Völkerschaften zu Cäsars und Tacitus' Zeit jetzt H. Delbrück eine
durchschnittliche Größe von 25000 Seelen annehmen zu können glaubt, so scheint mir
das eher zu viel als zu wenig. Die gezählten 80000 Vandalen, welche 484 von

Die Zunahme der Bevölkerung.
Aber immer erlebten wir in den letzten 150—200 Jahren zeitweiſe ſolche Zunahmen.
Von 1748—1800 haben die raſch wachſenden preußiſchen Provinzen, allerdings unter
Zuhülfenahme einer erheblichen Einwanderung, jährlich 12—15 ‰ zugenommen; die
meiſten anderen Staaten blieben damals noch weit dahinter zurück. Heute haben doch
mehrere dieſen Satz eingeholt. Die jährliche deutſche Zuwachsrate pro 1000 Seelen war
in fünfjährigen Epochen von 1816—95: 14,3, 13,4, 9,8, 9,4, 11,6, 9,6, 5,7, 4,0, 8,8,
9,9, 5,8, 9,1, 11,4, 7,0, 10,7, 11,2; ganz Europa hat 1800—1895 eine ſolche von 8,05;
man wird von unſeren heutigen Kulturſtaaten in ihrer großen Mehrheit ſagen können,
7 ‰ jährliche Zunahme ſei ihre mittlere Zuwachsrate, 10 und mehr eine ſtarke, 1—5
eine mäßige oder kleine. Zu den Ländern letzterer Art gehören Frankreich, Spanien,
neuerdings auch die Schweiz und Schweden, zu den ſtark wachſenden Deutſchland,
Großbritannien, Dänemark, Niederlande, Rußland. In den meiſten europäiſchen Staaten
hat die Zunahme in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwas nachgelaſſen, nach-
dem ſie vielfach von 1850—70 noch weſentlich geſtiegen war. Ein ſtarker Wechſel des
Zuwachſes von Jahr zu Jahr und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat faſt nirgends
gefehlt; in Württemberg beobachten wir 1813—80 in fünfjährigen Epochen Wechſel
von 3 bis 13 ‰.

Wenn die höchſte in Kolonien beobachtete natürliche jährliche Zuwachsrate 20 bis
28 ‰ war, die heutige in den alten, großen, friedlichen Kulturſtaaten zwiſchen 1 und
15 ſchwankt, wenn die ſtärkere Zu- und Abnahme auf Wanderungen zurückgeht, wenn
in früheren Jahrhunderten und Jahrtauſenden ebenſo oft ein Stillſtand oder gar eine
Abnahme, wie eine mäßige natürliche Zunahme von 2—20 ‰ vorhanden war, ſo
werden wir überhaupt nicht, wie früher meiſt geſchah, von einer natürlichen normalen
Zuwachsrate von 10—30 ‰ reden können. Wir werden die Zunahme der Bevölkerung
ſtets als ein kompliziertes, ſchwankendes Ergebnis der natürlichen und pſychologiſchen
Triebe einerſeits, der geſellſchaftlichen Sitten und Einrichtungen, ſowie der wirtſchaftlichen
Zuſtände und Bedingungen andererſeits betrachten und nur das zugeben, daß bei ideal
vollendeter Geſellſchaftsverfaſſung und beſonders in wirtſchaftlich glücklichen Zeiten und
Gebieten die geſchlechtlichen Triebe, die Freuden des ehelichen Lebens und das Eltern-
glück eine Zunahme von 10—30, ja unter beſonderen Umſtänden auch von noch mehr
pro Mille erzeugen können und öfters erzeugt haben, und daß jede wirtſchaftliche und
geſellſchaftliche Verbeſſerung Tendenzen einer ſtärkeren Zunahme hervorruft.

Doch wollen wir hier auf das Bevölkerungsproblem noch nicht eingehen, ſondern
vorher noch ſehen, was die neuerdings ausgebildete hiſtoriſche Bevölkerungsſtatiſtik über
das Geſamtreſultat der Bewegung uns lehrt. Die Wiſſenſchaft kann auf dieſe Reſultate
um ſo ſtolzer ſein, als vor nicht gar langer Zeit alle Annahmen hierüber gänzlich falſch
waren; die antike Bevölkerung wurde früher bis zum 10fachen überſchätzt.

Wir fragen: wie groß waren früher und heute die ſocialen Gemeinſchaften, die
wir als Stämme, Völker, Völkerbünde, Reiche bezeichnen; und wir erinnern uns dabei,
daß die hiſtoriſche Entwickelung nicht etwa in gerader Linie die kleinen Stämme zu
großen Reichen ausbilden konnte; Jahrtauſende und Jahrhunderte lang waren Sitte
und Gewohnheit, Rechts- und Geſellſchaftsverfaſſung wie ſämtliche Lebensbedingungen
ſo, daß nur kleine Gemeinweſen exiſtieren konnten, daß ihr Anwachſen zu Spaltungen,
zu Eroberungszügen, zu Kämpfen aller Art führte, die erſt in langſamen Verſuchen zu
Völkerbünden, größeren Staaten und Weltreichen führen konnten.

Die Völkerkunde belehrt uns, daß noch heute die niederen Raſſen, z. B. auch
die meiſten Neger, in Stämmen von 1000—3000 Perſonen leben, daß aber allerdings
daneben die verſchiedenartigſten Verbindungen ſolcher Stämme zu Völkerſchaften und
Bünden vorkommen. Als das glänzendſte Reſultat ſolch’ bündiſch-völkerrechtlicher Ent-
wickelung der nordamerikaniſchen Indianer weiſt Morgan den Zuſammenſchluß von
5—6 Stämmen zu einem Bunde von 15000, ja vielleicht 20000 Seelen nach. Wenn
für die germaniſchen Völkerſchaften zu Cäſars und Tacitus’ Zeit jetzt H. Delbrück eine
durchſchnittliche Größe von 25000 Seelen annehmen zu können glaubt, ſo ſcheint mir
das eher zu viel als zu wenig. Die gezählten 80000 Vandalen, welche 484 von

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[169/0185] Die Zunahme der Bevölkerung. Aber immer erlebten wir in den letzten 150—200 Jahren zeitweiſe ſolche Zunahmen. Von 1748—1800 haben die raſch wachſenden preußiſchen Provinzen, allerdings unter Zuhülfenahme einer erheblichen Einwanderung, jährlich 12—15 ‰ zugenommen; die meiſten anderen Staaten blieben damals noch weit dahinter zurück. Heute haben doch mehrere dieſen Satz eingeholt. Die jährliche deutſche Zuwachsrate pro 1000 Seelen war in fünfjährigen Epochen von 1816—95: 14,3, 13,4, 9,8, 9,4, 11,6, 9,6, 5,7, 4,0, 8,8, 9,9, 5,8, 9,1, 11,4, 7,0, 10,7, 11,2; ganz Europa hat 1800—1895 eine ſolche von 8,05; man wird von unſeren heutigen Kulturſtaaten in ihrer großen Mehrheit ſagen können, 7 ‰ jährliche Zunahme ſei ihre mittlere Zuwachsrate, 10 und mehr eine ſtarke, 1—5 eine mäßige oder kleine. Zu den Ländern letzterer Art gehören Frankreich, Spanien, neuerdings auch die Schweiz und Schweden, zu den ſtark wachſenden Deutſchland, Großbritannien, Dänemark, Niederlande, Rußland. In den meiſten europäiſchen Staaten hat die Zunahme in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwas nachgelaſſen, nach- dem ſie vielfach von 1850—70 noch weſentlich geſtiegen war. Ein ſtarker Wechſel des Zuwachſes von Jahr zu Jahr und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat faſt nirgends gefehlt; in Württemberg beobachten wir 1813—80 in fünfjährigen Epochen Wechſel von 3 bis 13 ‰. Wenn die höchſte in Kolonien beobachtete natürliche jährliche Zuwachsrate 20 bis 28 ‰ war, die heutige in den alten, großen, friedlichen Kulturſtaaten zwiſchen 1 und 15 ſchwankt, wenn die ſtärkere Zu- und Abnahme auf Wanderungen zurückgeht, wenn in früheren Jahrhunderten und Jahrtauſenden ebenſo oft ein Stillſtand oder gar eine Abnahme, wie eine mäßige natürliche Zunahme von 2—20 ‰ vorhanden war, ſo werden wir überhaupt nicht, wie früher meiſt geſchah, von einer natürlichen normalen Zuwachsrate von 10—30 ‰ reden können. Wir werden die Zunahme der Bevölkerung ſtets als ein kompliziertes, ſchwankendes Ergebnis der natürlichen und pſychologiſchen Triebe einerſeits, der geſellſchaftlichen Sitten und Einrichtungen, ſowie der wirtſchaftlichen Zuſtände und Bedingungen andererſeits betrachten und nur das zugeben, daß bei ideal vollendeter Geſellſchaftsverfaſſung und beſonders in wirtſchaftlich glücklichen Zeiten und Gebieten die geſchlechtlichen Triebe, die Freuden des ehelichen Lebens und das Eltern- glück eine Zunahme von 10—30, ja unter beſonderen Umſtänden auch von noch mehr pro Mille erzeugen können und öfters erzeugt haben, und daß jede wirtſchaftliche und geſellſchaftliche Verbeſſerung Tendenzen einer ſtärkeren Zunahme hervorruft. Doch wollen wir hier auf das Bevölkerungsproblem noch nicht eingehen, ſondern vorher noch ſehen, was die neuerdings ausgebildete hiſtoriſche Bevölkerungsſtatiſtik über das Geſamtreſultat der Bewegung uns lehrt. Die Wiſſenſchaft kann auf dieſe Reſultate um ſo ſtolzer ſein, als vor nicht gar langer Zeit alle Annahmen hierüber gänzlich falſch waren; die antike Bevölkerung wurde früher bis zum 10fachen überſchätzt. Wir fragen: wie groß waren früher und heute die ſocialen Gemeinſchaften, die wir als Stämme, Völker, Völkerbünde, Reiche bezeichnen; und wir erinnern uns dabei, daß die hiſtoriſche Entwickelung nicht etwa in gerader Linie die kleinen Stämme zu großen Reichen ausbilden konnte; Jahrtauſende und Jahrhunderte lang waren Sitte und Gewohnheit, Rechts- und Geſellſchaftsverfaſſung wie ſämtliche Lebensbedingungen ſo, daß nur kleine Gemeinweſen exiſtieren konnten, daß ihr Anwachſen zu Spaltungen, zu Eroberungszügen, zu Kämpfen aller Art führte, die erſt in langſamen Verſuchen zu Völkerbünden, größeren Staaten und Weltreichen führen konnten. Die Völkerkunde belehrt uns, daß noch heute die niederen Raſſen, z. B. auch die meiſten Neger, in Stämmen von 1000—3000 Perſonen leben, daß aber allerdings daneben die verſchiedenartigſten Verbindungen ſolcher Stämme zu Völkerſchaften und Bünden vorkommen. Als das glänzendſte Reſultat ſolch’ bündiſch-völkerrechtlicher Ent- wickelung der nordamerikaniſchen Indianer weiſt Morgan den Zuſammenſchluß von 5—6 Stämmen zu einem Bunde von 15000, ja vielleicht 20000 Seelen nach. Wenn für die germaniſchen Völkerſchaften zu Cäſars und Tacitus’ Zeit jetzt H. Delbrück eine durchſchnittliche Größe von 25000 Seelen annehmen zu können glaubt, ſo ſcheint mir das eher zu viel als zu wenig. Die gezählten 80000 Vandalen, welche 484 von

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/185>, abgerufen am 24.04.2024.