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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
Machten also auch bei ihnen, wie bei den Kulturvölkern, die über 20jährigen 55 % der
Bevölkerung aus, so wären etwa 50 % verheiratet und verwitwet; es sind in Europa
viel weniger. Wo, wie im Norden, die Geschlechtsreife und das Heiratsalter später liegt,
und wo bei dichterer Bevölkerung die wirtschaftliche Begründung eines Hausstandes
schwieriger ist, wird eine zunehmende Zahl Erwachsener teils nie, teils erst später
zur Ehe schreiten. Von den über 50 jährigen sind heute in Brittisch Indien 1,9, in
Ungarn 3, in Deutschland 9, in England 10, in Österreich 13, in der Schweiz 17 %
unverheiratet. Die Zahl der Verheirateten und Verwitweten unter den über 15 Jahre
alten schwankt (1886--90) in den verschiedenen Staaten zwischen 56 (Belgien) und 76 %
(Ungarn); in England sind es 60, in Deutschland 61, in den Vereinigten Staaten 62,
in Frankreich 64 %. Zählt man bloß die Verheirateten ohne die Verwitweten, so sind
es 8--10 % weniger. Vergleicht man die Verheirateten allein mit der ganzen Be-
völkerung, so sind es 33--39 %, statt der oben genannten 50 %.

Die beobachteten zeitlichen und geographischen Schwankungen in der Prozentzahl
der Verheirateten zeigen uns, daß ihre Abnahme im ganzen eine notwendige Folge der
höheren Kultur, der dichteren Bevölkerung sei, daß im einzelnen aber Altersaufbau,
Wohlstand und wirtschaftlicher Fortschritt, Sitte und Wirtschaftseinrichtungen einen
großen Einfluß haben. Die Abnahme kann vorkommen, ohne daß sie als Druck, Ent-
behrung und Mißstand stark empfunden wird, auch ohne zu starken sexuellen Verirrungen,
zur Steigerung außerehelicher Geschlechtsbeziehungen und unehelicher Geburten zu führen.
Spätere Geschlechtsreife, das stärkere Erfassen höherer Lebenszwecke, das Zurücktreten des
sexuellen Lebens bei einzelnen Personen läßt es denkbar erscheinen, daß Ehelosigkeit oder
späteres Heiraten ohne zu großen Druck und Schaden von manchem ertragen wird.
Aber es ist ein kindisch-optimistischer Standpunkt, anzunehmen, das treffe allgemein zu;
vielmehr liegen hier die schwersten Konflikte des Menschenlebens verborgen; jede Abnahme
der Verheirateten vollzieht sich im ganzen doch in schwerem Kampfe und mit großen
sittlichen Gefahren. Wie stark aber die Abnahme in den europäischen Kulturstaaten sei, ob
sie in den letzten Generationen zugenommen habe, ist vor allem deswegen schwer zu sagen,
weil wir als Hülfsmittel der Messung meist nur die Vergleichung der Verheirateten mit
der Zahl der Lebenden haben, und letztere je nach dem Altersaufbau sich aus einer
verschiedenen Zahl Heiratsfähiger, Kinder und Greise zusammensetzen. Wenn in Deutsch-
land heute 34, in Frankreich 39 % der Lebenden verheiratet sind, so ist damit nicht
gesagt, daß dort 5 % weniger Erwachsene verheiratet seien; von den über 15 jährigen
waren in Deutschland 61,4, in Frankreich 64,6 % verheiratet oder verwitwet; aber auch
das entscheidet noch nicht, da die 15--22 jährigen in beiden Ländern auch eigentlich
noch nicht Heiratskandidaten und sie in Deutschland viel zahlreicher sind als die unter
15 jährigen, deren es in Deutschland 35, in Frankreich nur 26 % der Lebenden giebt.
Das Heiratsalter der Männer ist heute in Westeuropa 28--31, der Frauen 23 bis
28 Jahre, in Osteuropa ist es 25--26 und 21--22 Jahre. Daraus könnte man einen
Maßstab für die Verspätung der Ehen entnehmen.

Auch die Zahl der jährlichen Eheschließungen im Vergleich zur Bevölkerung ist
kein ganz richtiger Ausdruck der Heiratsmöglichkeit; man müßte die Zahl nur mit den
dem Alter nach Heiratsfähigen vergleichen. Wir haben aber größere Vergleichsreihen
nur in der Art, daß festgestellt ist, wie viele Ehen jährlich auf 1000 Einwohner fallen;
wir müssen davon absehen, daß unter diesen 1000 hier mehr Erwachsene, dort mehr
Kinder sind. Die mir bekannten, aus der Zeit von 1620--1894 stammenden Angaben
schwanken zwischen jährlich 5--15 Ehen auf 1000 Einwohner, meist aber nur zwischen
6 und 10; Rümelin berechnet 8,3 %0 jährlich als eine Art Normalzahl für unsere
Verhältnisse, so daß 6--7 eine geringe, 8,5--10 eine große Ehezahl bedeutete.
Die kleinen Schwankungen von Jahr zu Jahr hängen mit den Preisverhältnissen, den
Ernten, den Konjunkturen und wirtschaftlichen Hoffnungen und Stimmungen zusammen;
sie betragen heute meist nur 0,1 %0. Sie fallen erst ins Gewicht, wenn sie eine Reihe
von Jahren sich fortsetzen und sich bis zu 0,5--1,0 %0 steigern. In diesen großen
Änderungen treten die tiefgreifenden Verschiedenheiten der Länder und Zeiten in Bezug

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Machten alſo auch bei ihnen, wie bei den Kulturvölkern, die über 20jährigen 55 % der
Bevölkerung aus, ſo wären etwa 50 % verheiratet und verwitwet; es ſind in Europa
viel weniger. Wo, wie im Norden, die Geſchlechtsreife und das Heiratsalter ſpäter liegt,
und wo bei dichterer Bevölkerung die wirtſchaftliche Begründung eines Hausſtandes
ſchwieriger iſt, wird eine zunehmende Zahl Erwachſener teils nie, teils erſt ſpäter
zur Ehe ſchreiten. Von den über 50 jährigen ſind heute in Brittiſch Indien 1,9, in
Ungarn 3, in Deutſchland 9, in England 10, in Öſterreich 13, in der Schweiz 17 %
unverheiratet. Die Zahl der Verheirateten und Verwitweten unter den über 15 Jahre
alten ſchwankt (1886—90) in den verſchiedenen Staaten zwiſchen 56 (Belgien) und 76 %
(Ungarn); in England ſind es 60, in Deutſchland 61, in den Vereinigten Staaten 62,
in Frankreich 64 %. Zählt man bloß die Verheirateten ohne die Verwitweten, ſo ſind
es 8—10 % weniger. Vergleicht man die Verheirateten allein mit der ganzen Be-
völkerung, ſo ſind es 33—39 %, ſtatt der oben genannten 50 %.

Die beobachteten zeitlichen und geographiſchen Schwankungen in der Prozentzahl
der Verheirateten zeigen uns, daß ihre Abnahme im ganzen eine notwendige Folge der
höheren Kultur, der dichteren Bevölkerung ſei, daß im einzelnen aber Altersaufbau,
Wohlſtand und wirtſchaftlicher Fortſchritt, Sitte und Wirtſchaftseinrichtungen einen
großen Einfluß haben. Die Abnahme kann vorkommen, ohne daß ſie als Druck, Ent-
behrung und Mißſtand ſtark empfunden wird, auch ohne zu ſtarken ſexuellen Verirrungen,
zur Steigerung außerehelicher Geſchlechtsbeziehungen und unehelicher Geburten zu führen.
Spätere Geſchlechtsreife, das ſtärkere Erfaſſen höherer Lebenszwecke, das Zurücktreten des
ſexuellen Lebens bei einzelnen Perſonen läßt es denkbar erſcheinen, daß Eheloſigkeit oder
ſpäteres Heiraten ohne zu großen Druck und Schaden von manchem ertragen wird.
Aber es iſt ein kindiſch-optimiſtiſcher Standpunkt, anzunehmen, das treffe allgemein zu;
vielmehr liegen hier die ſchwerſten Konflikte des Menſchenlebens verborgen; jede Abnahme
der Verheirateten vollzieht ſich im ganzen doch in ſchwerem Kampfe und mit großen
ſittlichen Gefahren. Wie ſtark aber die Abnahme in den europäiſchen Kulturſtaaten ſei, ob
ſie in den letzten Generationen zugenommen habe, iſt vor allem deswegen ſchwer zu ſagen,
weil wir als Hülfsmittel der Meſſung meiſt nur die Vergleichung der Verheirateten mit
der Zahl der Lebenden haben, und letztere je nach dem Altersaufbau ſich aus einer
verſchiedenen Zahl Heiratsfähiger, Kinder und Greiſe zuſammenſetzen. Wenn in Deutſch-
land heute 34, in Frankreich 39 % der Lebenden verheiratet ſind, ſo iſt damit nicht
geſagt, daß dort 5 % weniger Erwachſene verheiratet ſeien; von den über 15 jährigen
waren in Deutſchland 61,4, in Frankreich 64,6 % verheiratet oder verwitwet; aber auch
das entſcheidet noch nicht, da die 15—22 jährigen in beiden Ländern auch eigentlich
noch nicht Heiratskandidaten und ſie in Deutſchland viel zahlreicher ſind als die unter
15 jährigen, deren es in Deutſchland 35, in Frankreich nur 26 % der Lebenden giebt.
Das Heiratsalter der Männer iſt heute in Weſteuropa 28—31, der Frauen 23 bis
28 Jahre, in Oſteuropa iſt es 25—26 und 21—22 Jahre. Daraus könnte man einen
Maßſtab für die Verſpätung der Ehen entnehmen.

Auch die Zahl der jährlichen Eheſchließungen im Vergleich zur Bevölkerung iſt
kein ganz richtiger Ausdruck der Heiratsmöglichkeit; man müßte die Zahl nur mit den
dem Alter nach Heiratsfähigen vergleichen. Wir haben aber größere Vergleichsreihen
nur in der Art, daß feſtgeſtellt iſt, wie viele Ehen jährlich auf 1000 Einwohner fallen;
wir müſſen davon abſehen, daß unter dieſen 1000 hier mehr Erwachſene, dort mehr
Kinder ſind. Die mir bekannten, aus der Zeit von 1620—1894 ſtammenden Angaben
ſchwanken zwiſchen jährlich 5—15 Ehen auf 1000 Einwohner, meiſt aber nur zwiſchen
6 und 10; Rümelin berechnet 8,3 ‰ jährlich als eine Art Normalzahl für unſere
Verhältniſſe, ſo daß 6—7 eine geringe, 8,5—10 eine große Ehezahl bedeutete.
Die kleinen Schwankungen von Jahr zu Jahr hängen mit den Preisverhältniſſen, den
Ernten, den Konjunkturen und wirtſchaftlichen Hoffnungen und Stimmungen zuſammen;
ſie betragen heute meiſt nur 0,1 ‰. Sie fallen erſt ins Gewicht, wenn ſie eine Reihe
von Jahren ſich fortſetzen und ſich bis zu 0,5—1,0 ‰ ſteigern. In dieſen großen
Änderungen treten die tiefgreifenden Verſchiedenheiten der Länder und Zeiten in Bezug

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[164/0180] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Machten alſo auch bei ihnen, wie bei den Kulturvölkern, die über 20jährigen 55 % der Bevölkerung aus, ſo wären etwa 50 % verheiratet und verwitwet; es ſind in Europa viel weniger. Wo, wie im Norden, die Geſchlechtsreife und das Heiratsalter ſpäter liegt, und wo bei dichterer Bevölkerung die wirtſchaftliche Begründung eines Hausſtandes ſchwieriger iſt, wird eine zunehmende Zahl Erwachſener teils nie, teils erſt ſpäter zur Ehe ſchreiten. Von den über 50 jährigen ſind heute in Brittiſch Indien 1,9, in Ungarn 3, in Deutſchland 9, in England 10, in Öſterreich 13, in der Schweiz 17 % unverheiratet. Die Zahl der Verheirateten und Verwitweten unter den über 15 Jahre alten ſchwankt (1886—90) in den verſchiedenen Staaten zwiſchen 56 (Belgien) und 76 % (Ungarn); in England ſind es 60, in Deutſchland 61, in den Vereinigten Staaten 62, in Frankreich 64 %. Zählt man bloß die Verheirateten ohne die Verwitweten, ſo ſind es 8—10 % weniger. Vergleicht man die Verheirateten allein mit der ganzen Be- völkerung, ſo ſind es 33—39 %, ſtatt der oben genannten 50 %. Die beobachteten zeitlichen und geographiſchen Schwankungen in der Prozentzahl der Verheirateten zeigen uns, daß ihre Abnahme im ganzen eine notwendige Folge der höheren Kultur, der dichteren Bevölkerung ſei, daß im einzelnen aber Altersaufbau, Wohlſtand und wirtſchaftlicher Fortſchritt, Sitte und Wirtſchaftseinrichtungen einen großen Einfluß haben. Die Abnahme kann vorkommen, ohne daß ſie als Druck, Ent- behrung und Mißſtand ſtark empfunden wird, auch ohne zu ſtarken ſexuellen Verirrungen, zur Steigerung außerehelicher Geſchlechtsbeziehungen und unehelicher Geburten zu führen. Spätere Geſchlechtsreife, das ſtärkere Erfaſſen höherer Lebenszwecke, das Zurücktreten des ſexuellen Lebens bei einzelnen Perſonen läßt es denkbar erſcheinen, daß Eheloſigkeit oder ſpäteres Heiraten ohne zu großen Druck und Schaden von manchem ertragen wird. Aber es iſt ein kindiſch-optimiſtiſcher Standpunkt, anzunehmen, das treffe allgemein zu; vielmehr liegen hier die ſchwerſten Konflikte des Menſchenlebens verborgen; jede Abnahme der Verheirateten vollzieht ſich im ganzen doch in ſchwerem Kampfe und mit großen ſittlichen Gefahren. Wie ſtark aber die Abnahme in den europäiſchen Kulturſtaaten ſei, ob ſie in den letzten Generationen zugenommen habe, iſt vor allem deswegen ſchwer zu ſagen, weil wir als Hülfsmittel der Meſſung meiſt nur die Vergleichung der Verheirateten mit der Zahl der Lebenden haben, und letztere je nach dem Altersaufbau ſich aus einer verſchiedenen Zahl Heiratsfähiger, Kinder und Greiſe zuſammenſetzen. Wenn in Deutſch- land heute 34, in Frankreich 39 % der Lebenden verheiratet ſind, ſo iſt damit nicht geſagt, daß dort 5 % weniger Erwachſene verheiratet ſeien; von den über 15 jährigen waren in Deutſchland 61,4, in Frankreich 64,6 % verheiratet oder verwitwet; aber auch das entſcheidet noch nicht, da die 15—22 jährigen in beiden Ländern auch eigentlich noch nicht Heiratskandidaten und ſie in Deutſchland viel zahlreicher ſind als die unter 15 jährigen, deren es in Deutſchland 35, in Frankreich nur 26 % der Lebenden giebt. Das Heiratsalter der Männer iſt heute in Weſteuropa 28—31, der Frauen 23 bis 28 Jahre, in Oſteuropa iſt es 25—26 und 21—22 Jahre. Daraus könnte man einen Maßſtab für die Verſpätung der Ehen entnehmen. Auch die Zahl der jährlichen Eheſchließungen im Vergleich zur Bevölkerung iſt kein ganz richtiger Ausdruck der Heiratsmöglichkeit; man müßte die Zahl nur mit den dem Alter nach Heiratsfähigen vergleichen. Wir haben aber größere Vergleichsreihen nur in der Art, daß feſtgeſtellt iſt, wie viele Ehen jährlich auf 1000 Einwohner fallen; wir müſſen davon abſehen, daß unter dieſen 1000 hier mehr Erwachſene, dort mehr Kinder ſind. Die mir bekannten, aus der Zeit von 1620—1894 ſtammenden Angaben ſchwanken zwiſchen jährlich 5—15 Ehen auf 1000 Einwohner, meiſt aber nur zwiſchen 6 und 10; Rümelin berechnet 8,3 ‰ jährlich als eine Art Normalzahl für unſere Verhältniſſe, ſo daß 6—7 eine geringe, 8,5—10 eine große Ehezahl bedeutete. Die kleinen Schwankungen von Jahr zu Jahr hängen mit den Preisverhältniſſen, den Ernten, den Konjunkturen und wirtſchaftlichen Hoffnungen und Stimmungen zuſammen; ſie betragen heute meiſt nur 0,1 ‰. Sie fallen erſt ins Gewicht, wenn ſie eine Reihe von Jahren ſich fortſetzen und ſich bis zu 0,5—1,0 ‰ ſteigern. In dieſen großen Änderungen treten die tiefgreifenden Verſchiedenheiten der Länder und Zeiten in Bezug

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/180>, abgerufen am 19.04.2024.