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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Engländer und die Nordamerikaner.
es in der Welt zu etwas zu bringen. Die nationale Festigkeit und Ausdauer bei der
Arbeit erstreckt sich selbst auf die unteren Klassen in England. Daher sagt der englische
Werkführer von französischen Arbeitern: it can not be called work, they do; it is looking
at it and wishing it done
. Nicht umsonst ist der Engländer mit seinem freien Staats-
wesen, seiner persönlichen Freiheit, seiner Familienzucht, seinem Rechtsbewußtsein, seiner
Gemeindeverfassung, seiner Fähigkeit, zu herrschen und zu kolonisieren, der Erbe des
holländischen Welthandels und des holländischen Reichtums geworden.

Nur einer kommt John Bull in der wirtschaftlichen Energie und Einseitigkeit
gleich, das ist sein jüngerer Bruder Jonathan jenseits des Ozeans. Das nord-
amerikanische Volk
hat wohl schon erhebliche Bruchteile deutschen, französischen,
holländischen und irischen Blutes in sich, aber in der Hauptsache ist es englischer Ab-
stammung. Die jugendliche Kultur, das Unfertige der Zustände, die außerordentlichen
Gewinnchancen in dem bisher unerschöpflich scheinenden Koloniallande stellen dort die
selfmade men, die mit nüchterner, rücksichtsloser Thatkraft keinen anderen Lebenszweck
kennen als Geld zu verdienen, noch mehr in den Vordergrund als in England. Früh-
reife Kinder, halberwachsene Jungen stürzen sich schon in die Dollarjagd. Wohl fehlen
daneben die sittlichen Elemente nicht; in den alten Neuenglandstaaten besteht noch das
puritanische Quäkertum; in Newyork steckt noch etwas von holländischer Emsigkeit; in
Virginien und anderen südlichen Staaten sind die Traditionen der englischen Aristokratie
nicht erloschen, in Boston und Philadelphia ist englische Gelehrsamkeit mit amerikanischem
Puritanertum gemischt. Überall herrscht englische Sitte und Religiosität. Im Westen
freilich ist das Leben roher, die Sitten sind jovialer. In Kentucky mischt sich der
aristokratische Geist des Südens mit der Arbeitsenergie des Yankee bis zur Tollkühnheit.
Im ganzen aber ist der Charakter doch überall ähnlich. Es sind tüchtige Menschen,
aber ohne tiefere Bildung, ohne reiches Gemüt, ohne Liebenswürdigkeit; Bildung,
Wissenschaft, Adel, Bureaukratie geben nicht die Ziele des Strebens. Alles arbeitet,
spekuliert, hetzt, gewinnt oder verliert. Selbst die Farmer sind Techniker, Kaufleute und
Spekulanten, so sehr diese wetterverbräunten Bauerngestalten im Ringen mit Sumpf
und Urwald, mit Räubern und Diebsgesellen allem städtischen Leben fern stehen.

Begeisterung ist in den Vereinigten Staaten eine seltene Sache, kalte Verstandes-
ruhe ist nötig, um reich zu werden. Selbst der Anblick des Niagarafalles ruft im
Yankee nur den Gedanken wach, wie viel unverbrauchte Wasserkraft da ungenützt herab-
stürze. An Kenntnis und Erfahrung, wie ein Land groß und reich zu machen, wie die
Naturkräfte auszubeuten, die Haufen der Menschen zu bewegen sind, ist wohl eine einzige
amerikanische Großstadt reicher als manches europäische Land. Mit fieberhaft bewegter
Öffentlichkeit wird hier die Reklame betrieben, die Konkurrenz braucht jedes Mittel; die
europäische Menschenklasse, welche in Unwissenheit, Schlendrian und demütiger Selbst-
beschränkung erstarrt ist, fehlt ganz oder geht sofort zu Grunde. Jeder Bürger ist von
demokratisch-republikanischem Selbstbewußtsein erfüllt; wer heute Stiefelputzer ist, kann
morgen Krämer, in zehn Jahren Bankier, Advokat oder Senator sein. Ein großartiges
Geschäftsleben mit der Perspektive von Newyork nach San Francisco ruft die Tausende
von Ehrgeizigen und Waghalsigen in seine ungeheuren Bahnen. Man hat das Leben
des Amerikaners schon mit einer dahinbrausenden Lokomotive verglichen. Der Europäer
nimmt sich neben ihm allerdings nur wie ein ruhiger Spaziergänger aus.

Etwas von solchen Zügen hat überall das Kolonialleben, das auf reichem, über-
schüssigem Boden mit der Technik und den Mitteln einer alten Kultur arbeitet. Auch
der Individualismus, die Abwesenheit jedes kräftigen Regierungsapparates sind ähnlich
in anderen Kolonien zu finden. Manche der schroffen Züge werden in dem Maße zurück-
treten, als die Kultur älter wird, aber im ganzen wird der durch Rasse, Klima, Ge-
schichte und Gesellschaftseinrichtungen geschaffene und in Fleisch und Blut übergegangene
Volkscharakter doch dauernd derselbe bleiben; im ganzen ist nirgends in der Welt ein
Volk sonst zu finden, das so einseitig alle körperlichen und geistigen Kräfte auf das
technische, kaufmännische, kurz wirtschaftliche Vorwärtskommen konzentriert. Daß ein
solches Volk mit den europäischen Kulturvökern, vollends mit den Orientalen oder gar

Die Engländer und die Nordamerikaner.
es in der Welt zu etwas zu bringen. Die nationale Feſtigkeit und Ausdauer bei der
Arbeit erſtreckt ſich ſelbſt auf die unteren Klaſſen in England. Daher ſagt der engliſche
Werkführer von franzöſiſchen Arbeitern: it can not be called work, they do; it is looking
at it and wishing it done
. Nicht umſonſt iſt der Engländer mit ſeinem freien Staats-
weſen, ſeiner perſönlichen Freiheit, ſeiner Familienzucht, ſeinem Rechtsbewußtſein, ſeiner
Gemeindeverfaſſung, ſeiner Fähigkeit, zu herrſchen und zu koloniſieren, der Erbe des
holländiſchen Welthandels und des holländiſchen Reichtums geworden.

Nur einer kommt John Bull in der wirtſchaftlichen Energie und Einſeitigkeit
gleich, das iſt ſein jüngerer Bruder Jonathan jenſeits des Ozeans. Das nord-
amerikaniſche Volk
hat wohl ſchon erhebliche Bruchteile deutſchen, franzöſiſchen,
holländiſchen und iriſchen Blutes in ſich, aber in der Hauptſache iſt es engliſcher Ab-
ſtammung. Die jugendliche Kultur, das Unfertige der Zuſtände, die außerordentlichen
Gewinnchancen in dem bisher unerſchöpflich ſcheinenden Koloniallande ſtellen dort die
ſelfmade men, die mit nüchterner, rückſichtsloſer Thatkraft keinen anderen Lebenszweck
kennen als Geld zu verdienen, noch mehr in den Vordergrund als in England. Früh-
reife Kinder, halberwachſene Jungen ſtürzen ſich ſchon in die Dollarjagd. Wohl fehlen
daneben die ſittlichen Elemente nicht; in den alten Neuenglandſtaaten beſteht noch das
puritaniſche Quäkertum; in Newyork ſteckt noch etwas von holländiſcher Emſigkeit; in
Virginien und anderen ſüdlichen Staaten ſind die Traditionen der engliſchen Ariſtokratie
nicht erloſchen, in Boſton und Philadelphia iſt engliſche Gelehrſamkeit mit amerikaniſchem
Puritanertum gemiſcht. Überall herrſcht engliſche Sitte und Religioſität. Im Weſten
freilich iſt das Leben roher, die Sitten ſind jovialer. In Kentucky miſcht ſich der
ariſtokratiſche Geiſt des Südens mit der Arbeitsenergie des Yankee bis zur Tollkühnheit.
Im ganzen aber iſt der Charakter doch überall ähnlich. Es ſind tüchtige Menſchen,
aber ohne tiefere Bildung, ohne reiches Gemüt, ohne Liebenswürdigkeit; Bildung,
Wiſſenſchaft, Adel, Bureaukratie geben nicht die Ziele des Strebens. Alles arbeitet,
ſpekuliert, hetzt, gewinnt oder verliert. Selbſt die Farmer ſind Techniker, Kaufleute und
Spekulanten, ſo ſehr dieſe wetterverbräunten Bauerngeſtalten im Ringen mit Sumpf
und Urwald, mit Räubern und Diebsgeſellen allem ſtädtiſchen Leben fern ſtehen.

Begeiſterung iſt in den Vereinigten Staaten eine ſeltene Sache, kalte Verſtandes-
ruhe iſt nötig, um reich zu werden. Selbſt der Anblick des Niagarafalles ruft im
Yankee nur den Gedanken wach, wie viel unverbrauchte Waſſerkraft da ungenützt herab-
ſtürze. An Kenntnis und Erfahrung, wie ein Land groß und reich zu machen, wie die
Naturkräfte auszubeuten, die Haufen der Menſchen zu bewegen ſind, iſt wohl eine einzige
amerikaniſche Großſtadt reicher als manches europäiſche Land. Mit fieberhaft bewegter
Öffentlichkeit wird hier die Reklame betrieben, die Konkurrenz braucht jedes Mittel; die
europäiſche Menſchenklaſſe, welche in Unwiſſenheit, Schlendrian und demütiger Selbſt-
beſchränkung erſtarrt iſt, fehlt ganz oder geht ſofort zu Grunde. Jeder Bürger iſt von
demokratiſch-republikaniſchem Selbſtbewußtſein erfüllt; wer heute Stiefelputzer iſt, kann
morgen Krämer, in zehn Jahren Bankier, Advokat oder Senator ſein. Ein großartiges
Geſchäftsleben mit der Perſpektive von Newyork nach San Francisco ruft die Tauſende
von Ehrgeizigen und Waghalſigen in ſeine ungeheuren Bahnen. Man hat das Leben
des Amerikaners ſchon mit einer dahinbrauſenden Lokomotive verglichen. Der Europäer
nimmt ſich neben ihm allerdings nur wie ein ruhiger Spaziergänger aus.

Etwas von ſolchen Zügen hat überall das Kolonialleben, das auf reichem, über-
ſchüſſigem Boden mit der Technik und den Mitteln einer alten Kultur arbeitet. Auch
der Individualismus, die Abweſenheit jedes kräftigen Regierungsapparates ſind ähnlich
in anderen Kolonien zu finden. Manche der ſchroffen Züge werden in dem Maße zurück-
treten, als die Kultur älter wird, aber im ganzen wird der durch Raſſe, Klima, Ge-
ſchichte und Geſellſchaftseinrichtungen geſchaffene und in Fleiſch und Blut übergegangene
Volkscharakter doch dauernd derſelbe bleiben; im ganzen iſt nirgends in der Welt ein
Volk ſonſt zu finden, das ſo einſeitig alle körperlichen und geiſtigen Kräfte auf das
techniſche, kaufmänniſche, kurz wirtſchaftliche Vorwärtskommen konzentriert. Daß ein
ſolches Volk mit den europäiſchen Kulturvökern, vollends mit den Orientalen oder gar

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[157/0173] Die Engländer und die Nordamerikaner. es in der Welt zu etwas zu bringen. Die nationale Feſtigkeit und Ausdauer bei der Arbeit erſtreckt ſich ſelbſt auf die unteren Klaſſen in England. Daher ſagt der engliſche Werkführer von franzöſiſchen Arbeitern: it can not be called work, they do; it is looking at it and wishing it done. Nicht umſonſt iſt der Engländer mit ſeinem freien Staats- weſen, ſeiner perſönlichen Freiheit, ſeiner Familienzucht, ſeinem Rechtsbewußtſein, ſeiner Gemeindeverfaſſung, ſeiner Fähigkeit, zu herrſchen und zu koloniſieren, der Erbe des holländiſchen Welthandels und des holländiſchen Reichtums geworden. Nur einer kommt John Bull in der wirtſchaftlichen Energie und Einſeitigkeit gleich, das iſt ſein jüngerer Bruder Jonathan jenſeits des Ozeans. Das nord- amerikaniſche Volk hat wohl ſchon erhebliche Bruchteile deutſchen, franzöſiſchen, holländiſchen und iriſchen Blutes in ſich, aber in der Hauptſache iſt es engliſcher Ab- ſtammung. Die jugendliche Kultur, das Unfertige der Zuſtände, die außerordentlichen Gewinnchancen in dem bisher unerſchöpflich ſcheinenden Koloniallande ſtellen dort die ſelfmade men, die mit nüchterner, rückſichtsloſer Thatkraft keinen anderen Lebenszweck kennen als Geld zu verdienen, noch mehr in den Vordergrund als in England. Früh- reife Kinder, halberwachſene Jungen ſtürzen ſich ſchon in die Dollarjagd. Wohl fehlen daneben die ſittlichen Elemente nicht; in den alten Neuenglandſtaaten beſteht noch das puritaniſche Quäkertum; in Newyork ſteckt noch etwas von holländiſcher Emſigkeit; in Virginien und anderen ſüdlichen Staaten ſind die Traditionen der engliſchen Ariſtokratie nicht erloſchen, in Boſton und Philadelphia iſt engliſche Gelehrſamkeit mit amerikaniſchem Puritanertum gemiſcht. Überall herrſcht engliſche Sitte und Religioſität. Im Weſten freilich iſt das Leben roher, die Sitten ſind jovialer. In Kentucky miſcht ſich der ariſtokratiſche Geiſt des Südens mit der Arbeitsenergie des Yankee bis zur Tollkühnheit. Im ganzen aber iſt der Charakter doch überall ähnlich. Es ſind tüchtige Menſchen, aber ohne tiefere Bildung, ohne reiches Gemüt, ohne Liebenswürdigkeit; Bildung, Wiſſenſchaft, Adel, Bureaukratie geben nicht die Ziele des Strebens. Alles arbeitet, ſpekuliert, hetzt, gewinnt oder verliert. Selbſt die Farmer ſind Techniker, Kaufleute und Spekulanten, ſo ſehr dieſe wetterverbräunten Bauerngeſtalten im Ringen mit Sumpf und Urwald, mit Räubern und Diebsgeſellen allem ſtädtiſchen Leben fern ſtehen. Begeiſterung iſt in den Vereinigten Staaten eine ſeltene Sache, kalte Verſtandes- ruhe iſt nötig, um reich zu werden. Selbſt der Anblick des Niagarafalles ruft im Yankee nur den Gedanken wach, wie viel unverbrauchte Waſſerkraft da ungenützt herab- ſtürze. An Kenntnis und Erfahrung, wie ein Land groß und reich zu machen, wie die Naturkräfte auszubeuten, die Haufen der Menſchen zu bewegen ſind, iſt wohl eine einzige amerikaniſche Großſtadt reicher als manches europäiſche Land. Mit fieberhaft bewegter Öffentlichkeit wird hier die Reklame betrieben, die Konkurrenz braucht jedes Mittel; die europäiſche Menſchenklaſſe, welche in Unwiſſenheit, Schlendrian und demütiger Selbſt- beſchränkung erſtarrt iſt, fehlt ganz oder geht ſofort zu Grunde. Jeder Bürger iſt von demokratiſch-republikaniſchem Selbſtbewußtſein erfüllt; wer heute Stiefelputzer iſt, kann morgen Krämer, in zehn Jahren Bankier, Advokat oder Senator ſein. Ein großartiges Geſchäftsleben mit der Perſpektive von Newyork nach San Francisco ruft die Tauſende von Ehrgeizigen und Waghalſigen in ſeine ungeheuren Bahnen. Man hat das Leben des Amerikaners ſchon mit einer dahinbrauſenden Lokomotive verglichen. Der Europäer nimmt ſich neben ihm allerdings nur wie ein ruhiger Spaziergänger aus. Etwas von ſolchen Zügen hat überall das Kolonialleben, das auf reichem, über- ſchüſſigem Boden mit der Technik und den Mitteln einer alten Kultur arbeitet. Auch der Individualismus, die Abweſenheit jedes kräftigen Regierungsapparates ſind ähnlich in anderen Kolonien zu finden. Manche der ſchroffen Züge werden in dem Maße zurück- treten, als die Kultur älter wird, aber im ganzen wird der durch Raſſe, Klima, Ge- ſchichte und Geſellſchaftseinrichtungen geſchaffene und in Fleiſch und Blut übergegangene Volkscharakter doch dauernd derſelbe bleiben; im ganzen iſt nirgends in der Welt ein Volk ſonſt zu finden, das ſo einſeitig alle körperlichen und geiſtigen Kräfte auf das techniſche, kaufmänniſche, kurz wirtſchaftliche Vorwärtskommen konzentriert. Daß ein ſolches Volk mit den europäiſchen Kulturvökern, vollends mit den Orientalen oder gar

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/173>, abgerufen am 29.03.2024.