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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Das deutsche Volk.
Soldaten versehen, wie heute noch so viele Kolonien mit Auswanderern, Kaufleuten, Hand-
werkern und Bauern. Die abströmenden Glieder verlieren draußen ihre Nationalität, obwohl
es die kräftigsten und kühnsten Elemente sind, während die zahmeren zu Hause bleiben. Noch
ist heute beim Deutschen die volle, oft unkluge Hingabe an die auf- und abwallenden
Gemütsbewegungen, der trotzige Kriegsmut vorhanden, noch heute ist die Neigung zu
lässigem Nichtsthun, zu übermäßigem Essen und Trinken in breiten Kreisen nicht über-
wunden; noch heute zeichnet sich der deutsche Arbeiter gegenüber dem französischen nicht
durch größere Geschicklichkeit und größeren Geschmack, sondern durch größere Zuverlässig-
keit und allgemeinere Anstelligkeit, weiteren Horizont aus. Der Deutsche lebt heute
noch gern in den Tag hinein, mit Gleichmut läßt er das Schicksal herankommen, statt
es zu meistern. Er ist heute noch mehr Weltbürger als nationaler Egoist. Er heiratet
nach der Stimmung des Gemüts, zeugt Kinder, lebt von der Hand in den Mund, wo
der Franzose überlegend berechnet. Trotz höherer Schulbildung ist er schwerfällig, nicht
allzu sparsam, läßt an Sonntagen draufgehen, was er in der Woche verdient, er hat
noch nicht so genau rechnen und handeln gelernt wie der Jude, der Romane, ja der
Slave und Chinese. Freilich hat daran das späte Durchdringen der Geldwirtschaft und
der höheren Wirtschaftsformen überhaupt ebensoviel Anteil als der Volkscharakter. Und
die neueste großartige Entwickelung der deutschen Volkswirtschaft hat manches daran
geändert. Außerdem stehen diesen wirtschaftlich ungünstigen andere wertvolle Eigen-
schaften gegenüber: der unermüdliche Fleiß, die treue Hingabe an übernommene Auf-
gaben, die sich anpassende Fügsamkeit. Das deutsche Heer und Beamtentum, die Reichspost
und die Staatsbahnen, unsere großen Aktien- und Privatunternehmungen waren und
sind nur möglich durch ein Menschenmaterial, das für solches Zusammenwirken fast
einzig in seiner Art ist.

Im einzelnen ist der deutsche Nationalcharakter bei den verschiedenen Stämmen
ein ziemlich verschiedener; sie haben die verschiedensten Beimischungen fremden Blutes
in sich, haben durch verschiedene Geschichte und verschiedene Lage notwendig auch eine
verschiedene Entwickelung erhalten. Die Ober- und die Niederdeutschen sind noch heute
in Sprache und Wesen getrennt. In den Oberdeutschen steckt mehr keltisches und roma-
nisches Wesen. Zu ihnen gehört der fröhliche, sanguinische Österreicher, der derbe, schwer-
fällige Bayer, der regsame, gutmütige Thüringer, der ernste und tiefe Schwabe, der
leichtlebige, halbromanisierte Franke. Ein Wort über die beiden letzteren Typen nach
Rümelin und Riehl.

Der Schwabe will sich in keine zwingende, nivellierende Form fügen; er stellt
Eigenartigkeit und Unbeugsamkeit des Charakters am höchsten, in spröder Subjektivität
will er lieber stocken, als sich abgegriffener Modewendungen bedienen. Dabei in engem
Kreise, in dicht bevölkertem Lande überall anstoßend, wird dem Schwaben leicht eine
in sich gekehrte, bald nüchtern praktische, bald träumerische Lebensrichtung eigen, wenn
er nicht lieber in die Fremde zieht, um den Schranken zu Hause zu entfliehen. Der
gewandtere Fremde erscheint ihm leicht als Schwätzer; er ist gegen ihn zurückhaltend
und kritisch. Neues eignet er sich nicht so rasch an; aber er ist unter dem Drucke der
Verhältnisse sparsam, betriebsam geworden; selbst der Reiche verdeckt seinen Reichtum
eher, als daß er groß damit thäte.

Der fränkische Pfälzer hat wohl auch etwas vom allemannischen Demokratentrotz
in sich, in erster Linie aber zeigt er romanische Biegsamkeit und Geschmeidigkeit; selbst
der Bauer ist rationalistisch, dem Fortschritt auf allen Gebieten ergeben; er ist
gewürfelter, pfiffiger, geldgieriger als alle seine östlichen Nachbarn. Und diese Eigen-
schaften sind auf alle Franken übergegangen. Nicht umsonst sagt ein rheinhessischer
Dichter: "Mer is uff derre Welt (freilich auch Gott zu Ehren), Jo doch for sunscht nix
do, als for ze profederen." Man will gewinnen, nirgends verstummen, überall das
letzte Wort haben, als gescheit gelten. Der Unterschied von Stadt und Land ist ver-
wischt. Heiteres Kneipenleben, witzige, launige Geselligkeit herrscht. Viel Aufklärung,
Freude an der Arbeit und am Besitz, individualistische Selbständigkeit stehen dicht neben
Eigendünkel, Materialismus, Habsucht, Verschwendung und Bettelei.

Das deutſche Volk.
Soldaten verſehen, wie heute noch ſo viele Kolonien mit Auswanderern, Kaufleuten, Hand-
werkern und Bauern. Die abſtrömenden Glieder verlieren draußen ihre Nationalität, obwohl
es die kräftigſten und kühnſten Elemente ſind, während die zahmeren zu Hauſe bleiben. Noch
iſt heute beim Deutſchen die volle, oft unkluge Hingabe an die auf- und abwallenden
Gemütsbewegungen, der trotzige Kriegsmut vorhanden, noch heute iſt die Neigung zu
läſſigem Nichtsthun, zu übermäßigem Eſſen und Trinken in breiten Kreiſen nicht über-
wunden; noch heute zeichnet ſich der deutſche Arbeiter gegenüber dem franzöſiſchen nicht
durch größere Geſchicklichkeit und größeren Geſchmack, ſondern durch größere Zuverläſſig-
keit und allgemeinere Anſtelligkeit, weiteren Horizont aus. Der Deutſche lebt heute
noch gern in den Tag hinein, mit Gleichmut läßt er das Schickſal herankommen, ſtatt
es zu meiſtern. Er iſt heute noch mehr Weltbürger als nationaler Egoiſt. Er heiratet
nach der Stimmung des Gemüts, zeugt Kinder, lebt von der Hand in den Mund, wo
der Franzoſe überlegend berechnet. Trotz höherer Schulbildung iſt er ſchwerfällig, nicht
allzu ſparſam, läßt an Sonntagen draufgehen, was er in der Woche verdient, er hat
noch nicht ſo genau rechnen und handeln gelernt wie der Jude, der Romane, ja der
Slave und Chineſe. Freilich hat daran das ſpäte Durchdringen der Geldwirtſchaft und
der höheren Wirtſchaftsformen überhaupt ebenſoviel Anteil als der Volkscharakter. Und
die neueſte großartige Entwickelung der deutſchen Volkswirtſchaft hat manches daran
geändert. Außerdem ſtehen dieſen wirtſchaftlich ungünſtigen andere wertvolle Eigen-
ſchaften gegenüber: der unermüdliche Fleiß, die treue Hingabe an übernommene Auf-
gaben, die ſich anpaſſende Fügſamkeit. Das deutſche Heer und Beamtentum, die Reichspoſt
und die Staatsbahnen, unſere großen Aktien- und Privatunternehmungen waren und
ſind nur möglich durch ein Menſchenmaterial, das für ſolches Zuſammenwirken faſt
einzig in ſeiner Art iſt.

Im einzelnen iſt der deutſche Nationalcharakter bei den verſchiedenen Stämmen
ein ziemlich verſchiedener; ſie haben die verſchiedenſten Beimiſchungen fremden Blutes
in ſich, haben durch verſchiedene Geſchichte und verſchiedene Lage notwendig auch eine
verſchiedene Entwickelung erhalten. Die Ober- und die Niederdeutſchen ſind noch heute
in Sprache und Weſen getrennt. In den Oberdeutſchen ſteckt mehr keltiſches und roma-
niſches Weſen. Zu ihnen gehört der fröhliche, ſanguiniſche Öſterreicher, der derbe, ſchwer-
fällige Bayer, der regſame, gutmütige Thüringer, der ernſte und tiefe Schwabe, der
leichtlebige, halbromaniſierte Franke. Ein Wort über die beiden letzteren Typen nach
Rümelin und Riehl.

Der Schwabe will ſich in keine zwingende, nivellierende Form fügen; er ſtellt
Eigenartigkeit und Unbeugſamkeit des Charakters am höchſten, in ſpröder Subjektivität
will er lieber ſtocken, als ſich abgegriffener Modewendungen bedienen. Dabei in engem
Kreiſe, in dicht bevölkertem Lande überall anſtoßend, wird dem Schwaben leicht eine
in ſich gekehrte, bald nüchtern praktiſche, bald träumeriſche Lebensrichtung eigen, wenn
er nicht lieber in die Fremde zieht, um den Schranken zu Hauſe zu entfliehen. Der
gewandtere Fremde erſcheint ihm leicht als Schwätzer; er iſt gegen ihn zurückhaltend
und kritiſch. Neues eignet er ſich nicht ſo raſch an; aber er iſt unter dem Drucke der
Verhältniſſe ſparſam, betriebſam geworden; ſelbſt der Reiche verdeckt ſeinen Reichtum
eher, als daß er groß damit thäte.

Der fränkiſche Pfälzer hat wohl auch etwas vom allemanniſchen Demokratentrotz
in ſich, in erſter Linie aber zeigt er romaniſche Biegſamkeit und Geſchmeidigkeit; ſelbſt
der Bauer iſt rationaliſtiſch, dem Fortſchritt auf allen Gebieten ergeben; er iſt
gewürfelter, pfiffiger, geldgieriger als alle ſeine öſtlichen Nachbarn. Und dieſe Eigen-
ſchaften ſind auf alle Franken übergegangen. Nicht umſonſt ſagt ein rheinheſſiſcher
Dichter: „Mer is uff derre Welt (freilich auch Gott zu Ehren), Jo doch for ſunſcht nix
do, als for ze profederen.“ Man will gewinnen, nirgends verſtummen, überall das
letzte Wort haben, als geſcheit gelten. Der Unterſchied von Stadt und Land iſt ver-
wiſcht. Heiteres Kneipenleben, witzige, launige Geſelligkeit herrſcht. Viel Aufklärung,
Freude an der Arbeit und am Beſitz, individualiſtiſche Selbſtändigkeit ſtehen dicht neben
Eigendünkel, Materialismus, Habſucht, Verſchwendung und Bettelei.

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[155/0171] Das deutſche Volk. Soldaten verſehen, wie heute noch ſo viele Kolonien mit Auswanderern, Kaufleuten, Hand- werkern und Bauern. Die abſtrömenden Glieder verlieren draußen ihre Nationalität, obwohl es die kräftigſten und kühnſten Elemente ſind, während die zahmeren zu Hauſe bleiben. Noch iſt heute beim Deutſchen die volle, oft unkluge Hingabe an die auf- und abwallenden Gemütsbewegungen, der trotzige Kriegsmut vorhanden, noch heute iſt die Neigung zu läſſigem Nichtsthun, zu übermäßigem Eſſen und Trinken in breiten Kreiſen nicht über- wunden; noch heute zeichnet ſich der deutſche Arbeiter gegenüber dem franzöſiſchen nicht durch größere Geſchicklichkeit und größeren Geſchmack, ſondern durch größere Zuverläſſig- keit und allgemeinere Anſtelligkeit, weiteren Horizont aus. Der Deutſche lebt heute noch gern in den Tag hinein, mit Gleichmut läßt er das Schickſal herankommen, ſtatt es zu meiſtern. Er iſt heute noch mehr Weltbürger als nationaler Egoiſt. Er heiratet nach der Stimmung des Gemüts, zeugt Kinder, lebt von der Hand in den Mund, wo der Franzoſe überlegend berechnet. Trotz höherer Schulbildung iſt er ſchwerfällig, nicht allzu ſparſam, läßt an Sonntagen draufgehen, was er in der Woche verdient, er hat noch nicht ſo genau rechnen und handeln gelernt wie der Jude, der Romane, ja der Slave und Chineſe. Freilich hat daran das ſpäte Durchdringen der Geldwirtſchaft und der höheren Wirtſchaftsformen überhaupt ebenſoviel Anteil als der Volkscharakter. Und die neueſte großartige Entwickelung der deutſchen Volkswirtſchaft hat manches daran geändert. Außerdem ſtehen dieſen wirtſchaftlich ungünſtigen andere wertvolle Eigen- ſchaften gegenüber: der unermüdliche Fleiß, die treue Hingabe an übernommene Auf- gaben, die ſich anpaſſende Fügſamkeit. Das deutſche Heer und Beamtentum, die Reichspoſt und die Staatsbahnen, unſere großen Aktien- und Privatunternehmungen waren und ſind nur möglich durch ein Menſchenmaterial, das für ſolches Zuſammenwirken faſt einzig in ſeiner Art iſt. Im einzelnen iſt der deutſche Nationalcharakter bei den verſchiedenen Stämmen ein ziemlich verſchiedener; ſie haben die verſchiedenſten Beimiſchungen fremden Blutes in ſich, haben durch verſchiedene Geſchichte und verſchiedene Lage notwendig auch eine verſchiedene Entwickelung erhalten. Die Ober- und die Niederdeutſchen ſind noch heute in Sprache und Weſen getrennt. In den Oberdeutſchen ſteckt mehr keltiſches und roma- niſches Weſen. Zu ihnen gehört der fröhliche, ſanguiniſche Öſterreicher, der derbe, ſchwer- fällige Bayer, der regſame, gutmütige Thüringer, der ernſte und tiefe Schwabe, der leichtlebige, halbromaniſierte Franke. Ein Wort über die beiden letzteren Typen nach Rümelin und Riehl. Der Schwabe will ſich in keine zwingende, nivellierende Form fügen; er ſtellt Eigenartigkeit und Unbeugſamkeit des Charakters am höchſten, in ſpröder Subjektivität will er lieber ſtocken, als ſich abgegriffener Modewendungen bedienen. Dabei in engem Kreiſe, in dicht bevölkertem Lande überall anſtoßend, wird dem Schwaben leicht eine in ſich gekehrte, bald nüchtern praktiſche, bald träumeriſche Lebensrichtung eigen, wenn er nicht lieber in die Fremde zieht, um den Schranken zu Hauſe zu entfliehen. Der gewandtere Fremde erſcheint ihm leicht als Schwätzer; er iſt gegen ihn zurückhaltend und kritiſch. Neues eignet er ſich nicht ſo raſch an; aber er iſt unter dem Drucke der Verhältniſſe ſparſam, betriebſam geworden; ſelbſt der Reiche verdeckt ſeinen Reichtum eher, als daß er groß damit thäte. Der fränkiſche Pfälzer hat wohl auch etwas vom allemanniſchen Demokratentrotz in ſich, in erſter Linie aber zeigt er romaniſche Biegſamkeit und Geſchmeidigkeit; ſelbſt der Bauer iſt rationaliſtiſch, dem Fortſchritt auf allen Gebieten ergeben; er iſt gewürfelter, pfiffiger, geldgieriger als alle ſeine öſtlichen Nachbarn. Und dieſe Eigen- ſchaften ſind auf alle Franken übergegangen. Nicht umſonſt ſagt ein rheinheſſiſcher Dichter: „Mer is uff derre Welt (freilich auch Gott zu Ehren), Jo doch for ſunſcht nix do, als for ze profederen.“ Man will gewinnen, nirgends verſtummen, überall das letzte Wort haben, als geſcheit gelten. Der Unterſchied von Stadt und Land iſt ver- wiſcht. Heiteres Kneipenleben, witzige, launige Geſelligkeit herrſcht. Viel Aufklärung, Freude an der Arbeit und am Beſitz, individualiſtiſche Selbſtändigkeit ſtehen dicht neben Eigendünkel, Materialismus, Habſucht, Verſchwendung und Bettelei.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/171>, abgerufen am 28.03.2024.