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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Frage liegt nahe, ob der Blutszusammenhang es nicht doch bewirkt, daß wir mit
ihm mehr Ähnlichkeit haben als mit einem Neger oder Indianer, selbst wenn dieser mit
uns aufgewachsen und ebenso wie wir erzogen wäre.

Die äußerlich meßbaren Nachweise über Variabilität geben einen gewissen Anhalt;
aber im ganzen wollen sie nicht viel sagen, da sie zu roh sind, in das innere kompli-
zierte Wesen der physiologischen Umbildungen gar nicht eindringen. So wenn Ribot
meint, die Gesamtnervenmasse des Kulturmenschen sei der des Wilden um 30 % über-
legen. Oder wenn wir wissen, daß das Gehirn eines Buschmannes 900, das eines
afrikanischen Negers 1300, das eines Europäers 1400 g durchschnittlich wiege, daß bei
den höheren Rassen die größeren Schädel bis 1900, bei den niedrigen nur bis 1500 g
kubischen Gehaltes gehen; wir werden bei solchen Angaben mindestens gleich hinzufügen
müssen, daß neben der Größe andere Gehirneigenschaften, z. B. das Maß der Windungen
des Gehirns etc., ebenso wichtig oder wichtiger sind Über die anderen Körperteile und
ihre Ausbildung haben wir auch einzelne Messungen: nach der Bestimmung mit dem
Dynamometer verhält sich die Körperkraft des englischen Kolonisten zu der des Van-
diemenländers wie 71 zu 51. Aber mit all' derartigem ist über das eigentliche Problem,
die Größenkonstatierung der Variabilität, der Möglichkeit des Fortschrittes nicht allzu-
viel gesagt.

So bleibt, um die Völker zu schildern, wesentlich nur der Weg, aus ihrer Ge-
schichte und ihren geistigen Äußerungen sie psychologisch zu fassen, den wir unten
betreten.

60. Die einzelnen Ursachen der Rassen- und Völkerbildung:
Klima, Lebensweise, Erziehung, Rassenmischung
. Die Einwirkung des
Klimas und der Naturverhältnisse auf den Menschen haben wir im vorigen Abschnitte schon
berührt, auch erwähnt, daß seit Montesquieu, Herder, Condillac eine sehr starke Betonung
dieses Einflusses von gewissen Seiten stattfand, daß die Einwirkung a) physiologisch,
b) psychologisch (durch die Natureindrücke auf das Seelenleben) und c) indirekt durch
die Art der mit der Natur gegebenen Lebensweise sein kann. Die Fragen sind sehr
kompliziert und noch wenig streng methodisch untersucht. Nach dem Stande unseres
heutigen Wissens, wie es z. B. Ratzel zusammenfaßt, werden wir sagen müssen: Sicher
findet eine Einwirkung des Klimas und der Natur auf Körper und Geist des Menschen
in gewissem Umfange statt; aber sie ist weniger weitgehend, als man bisher oft annahm,
sie ist jedenfalls an sehr lange Zeiträume geknüpft, ist sehr verschieden stark je nach
Rassen und Völkern. Je höher stehend und anpassungsfähiger die Rasse ist, desto geringer
scheint der Einfluß zu sein; die Wirkung ist mehr indirekt als direkt, d. h. die Natur
und das Klima beeinflussen mehr die Art der Ernährung, Beschäftigung, Lebens- und
Gesellschaftsweise, als daß sie direkt die menschlichen Eigenschaften umbildeten. Für die
Bejahung des Zusammenhanges läßt sich anführen, daß der Neger doch wohl ebenso
der heißen wie der Kaukasier der gemäßigten, der Hyperboreer der kalten Zone angehört,
daß dieselbe Rasse meist im Norden und Süden der Länder eine etwas andere Spielart
zeigt, daß der Anglosachse in Nordamerika einen abweichenden Typus entwickelt, daß
der Volkscharakter im Gebirge und in der Tiefebene stets ziemlich verschieden ist. Immer
bleiben solche Schlüsse etwas problematisch, weil die sonst mitwirkenden Umstände nicht
auszusondern sind. Und wenn Cotta gar die Menschen nach den Gebirgsformationen
sondern will, Luther, Mirabeau, O'Connell und Napoleon nur als Söhne des Urgebirges
begreifen, wenn Ed. Meyer die Züge der Semiten aus dem Bewohnen der Wüste
ableiten will, selbst wenn Ratzel meint, die Europäer würden in den südamerikanischen
Ebenen fast zu Steppenindianern, wenn Peschel sagt, auch die Indogermanen würden, an
der nordwestlichen Durchfahrt sitzend, mit der Harpune an Eislöchern auf das Wallroß
lauern, so möchte ich zu solchen Aussprüchen doch einige Fragezeichen machen. Die
beiden letzten Thatsachen beweisen mehr, daß die Natur zu bestimmter Lebensweise und
Ernährung hinführt, als daß das Klima den Menschen gänzlich umbildet. Die Kau-
kasier leben heute in allen Zonen und werden niemals Neger, Indianer, Papuas oder
Mongolen werden; die Neger werden in Jahrhunderten nicht Indogermanen im

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Frage liegt nahe, ob der Blutszuſammenhang es nicht doch bewirkt, daß wir mit
ihm mehr Ähnlichkeit haben als mit einem Neger oder Indianer, ſelbſt wenn dieſer mit
uns aufgewachſen und ebenſo wie wir erzogen wäre.

Die äußerlich meßbaren Nachweiſe über Variabilität geben einen gewiſſen Anhalt;
aber im ganzen wollen ſie nicht viel ſagen, da ſie zu roh ſind, in das innere kompli-
zierte Weſen der phyſiologiſchen Umbildungen gar nicht eindringen. So wenn Ribot
meint, die Geſamtnervenmaſſe des Kulturmenſchen ſei der des Wilden um 30 % über-
legen. Oder wenn wir wiſſen, daß das Gehirn eines Buſchmannes 900, das eines
afrikaniſchen Negers 1300, das eines Europäers 1400 g durchſchnittlich wiege, daß bei
den höheren Raſſen die größeren Schädel bis 1900, bei den niedrigen nur bis 1500 g
kubiſchen Gehaltes gehen; wir werden bei ſolchen Angaben mindeſtens gleich hinzufügen
müſſen, daß neben der Größe andere Gehirneigenſchaften, z. B. das Maß der Windungen
des Gehirns ꝛc., ebenſo wichtig oder wichtiger ſind Über die anderen Körperteile und
ihre Ausbildung haben wir auch einzelne Meſſungen: nach der Beſtimmung mit dem
Dynamometer verhält ſich die Körperkraft des engliſchen Koloniſten zu der des Van-
diemenländers wie 71 zu 51. Aber mit all’ derartigem iſt über das eigentliche Problem,
die Größenkonſtatierung der Variabilität, der Möglichkeit des Fortſchrittes nicht allzu-
viel geſagt.

So bleibt, um die Völker zu ſchildern, weſentlich nur der Weg, aus ihrer Ge-
ſchichte und ihren geiſtigen Äußerungen ſie pſychologiſch zu faſſen, den wir unten
betreten.

60. Die einzelnen Urſachen der Raſſen- und Völkerbildung:
Klima, Lebensweiſe, Erziehung, Raſſenmiſchung
. Die Einwirkung des
Klimas und der Naturverhältniſſe auf den Menſchen haben wir im vorigen Abſchnitte ſchon
berührt, auch erwähnt, daß ſeit Montesquieu, Herder, Condillac eine ſehr ſtarke Betonung
dieſes Einfluſſes von gewiſſen Seiten ſtattfand, daß die Einwirkung a) phyſiologiſch,
b) pſychologiſch (durch die Natureindrücke auf das Seelenleben) und c) indirekt durch
die Art der mit der Natur gegebenen Lebensweiſe ſein kann. Die Fragen ſind ſehr
kompliziert und noch wenig ſtreng methodiſch unterſucht. Nach dem Stande unſeres
heutigen Wiſſens, wie es z. B. Ratzel zuſammenfaßt, werden wir ſagen müſſen: Sicher
findet eine Einwirkung des Klimas und der Natur auf Körper und Geiſt des Menſchen
in gewiſſem Umfange ſtatt; aber ſie iſt weniger weitgehend, als man bisher oft annahm,
ſie iſt jedenfalls an ſehr lange Zeiträume geknüpft, iſt ſehr verſchieden ſtark je nach
Raſſen und Völkern. Je höher ſtehend und anpaſſungsfähiger die Raſſe iſt, deſto geringer
ſcheint der Einfluß zu ſein; die Wirkung iſt mehr indirekt als direkt, d. h. die Natur
und das Klima beeinfluſſen mehr die Art der Ernährung, Beſchäftigung, Lebens- und
Geſellſchaftsweiſe, als daß ſie direkt die menſchlichen Eigenſchaften umbildeten. Für die
Bejahung des Zuſammenhanges läßt ſich anführen, daß der Neger doch wohl ebenſo
der heißen wie der Kaukaſier der gemäßigten, der Hyperboreer der kalten Zone angehört,
daß dieſelbe Raſſe meiſt im Norden und Süden der Länder eine etwas andere Spielart
zeigt, daß der Angloſachſe in Nordamerika einen abweichenden Typus entwickelt, daß
der Volkscharakter im Gebirge und in der Tiefebene ſtets ziemlich verſchieden iſt. Immer
bleiben ſolche Schlüſſe etwas problematiſch, weil die ſonſt mitwirkenden Umſtände nicht
auszuſondern ſind. Und wenn Cotta gar die Menſchen nach den Gebirgsformationen
ſondern will, Luther, Mirabeau, O’Connell und Napoleon nur als Söhne des Urgebirges
begreifen, wenn Ed. Meyer die Züge der Semiten aus dem Bewohnen der Wüſte
ableiten will, ſelbſt wenn Ratzel meint, die Europäer würden in den ſüdamerikaniſchen
Ebenen faſt zu Steppenindianern, wenn Peſchel ſagt, auch die Indogermanen würden, an
der nordweſtlichen Durchfahrt ſitzend, mit der Harpune an Eislöchern auf das Wallroß
lauern, ſo möchte ich zu ſolchen Ausſprüchen doch einige Fragezeichen machen. Die
beiden letzten Thatſachen beweiſen mehr, daß die Natur zu beſtimmter Lebensweiſe und
Ernährung hinführt, als daß das Klima den Menſchen gänzlich umbildet. Die Kau-
kaſier leben heute in allen Zonen und werden niemals Neger, Indianer, Papuas oder
Mongolen werden; die Neger werden in Jahrhunderten nicht Indogermanen im

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[144/0160] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Die Frage liegt nahe, ob der Blutszuſammenhang es nicht doch bewirkt, daß wir mit ihm mehr Ähnlichkeit haben als mit einem Neger oder Indianer, ſelbſt wenn dieſer mit uns aufgewachſen und ebenſo wie wir erzogen wäre. Die äußerlich meßbaren Nachweiſe über Variabilität geben einen gewiſſen Anhalt; aber im ganzen wollen ſie nicht viel ſagen, da ſie zu roh ſind, in das innere kompli- zierte Weſen der phyſiologiſchen Umbildungen gar nicht eindringen. So wenn Ribot meint, die Geſamtnervenmaſſe des Kulturmenſchen ſei der des Wilden um 30 % über- legen. Oder wenn wir wiſſen, daß das Gehirn eines Buſchmannes 900, das eines afrikaniſchen Negers 1300, das eines Europäers 1400 g durchſchnittlich wiege, daß bei den höheren Raſſen die größeren Schädel bis 1900, bei den niedrigen nur bis 1500 g kubiſchen Gehaltes gehen; wir werden bei ſolchen Angaben mindeſtens gleich hinzufügen müſſen, daß neben der Größe andere Gehirneigenſchaften, z. B. das Maß der Windungen des Gehirns ꝛc., ebenſo wichtig oder wichtiger ſind Über die anderen Körperteile und ihre Ausbildung haben wir auch einzelne Meſſungen: nach der Beſtimmung mit dem Dynamometer verhält ſich die Körperkraft des engliſchen Koloniſten zu der des Van- diemenländers wie 71 zu 51. Aber mit all’ derartigem iſt über das eigentliche Problem, die Größenkonſtatierung der Variabilität, der Möglichkeit des Fortſchrittes nicht allzu- viel geſagt. So bleibt, um die Völker zu ſchildern, weſentlich nur der Weg, aus ihrer Ge- ſchichte und ihren geiſtigen Äußerungen ſie pſychologiſch zu faſſen, den wir unten betreten. 60. Die einzelnen Urſachen der Raſſen- und Völkerbildung: Klima, Lebensweiſe, Erziehung, Raſſenmiſchung. Die Einwirkung des Klimas und der Naturverhältniſſe auf den Menſchen haben wir im vorigen Abſchnitte ſchon berührt, auch erwähnt, daß ſeit Montesquieu, Herder, Condillac eine ſehr ſtarke Betonung dieſes Einfluſſes von gewiſſen Seiten ſtattfand, daß die Einwirkung a) phyſiologiſch, b) pſychologiſch (durch die Natureindrücke auf das Seelenleben) und c) indirekt durch die Art der mit der Natur gegebenen Lebensweiſe ſein kann. Die Fragen ſind ſehr kompliziert und noch wenig ſtreng methodiſch unterſucht. Nach dem Stande unſeres heutigen Wiſſens, wie es z. B. Ratzel zuſammenfaßt, werden wir ſagen müſſen: Sicher findet eine Einwirkung des Klimas und der Natur auf Körper und Geiſt des Menſchen in gewiſſem Umfange ſtatt; aber ſie iſt weniger weitgehend, als man bisher oft annahm, ſie iſt jedenfalls an ſehr lange Zeiträume geknüpft, iſt ſehr verſchieden ſtark je nach Raſſen und Völkern. Je höher ſtehend und anpaſſungsfähiger die Raſſe iſt, deſto geringer ſcheint der Einfluß zu ſein; die Wirkung iſt mehr indirekt als direkt, d. h. die Natur und das Klima beeinfluſſen mehr die Art der Ernährung, Beſchäftigung, Lebens- und Geſellſchaftsweiſe, als daß ſie direkt die menſchlichen Eigenſchaften umbildeten. Für die Bejahung des Zuſammenhanges läßt ſich anführen, daß der Neger doch wohl ebenſo der heißen wie der Kaukaſier der gemäßigten, der Hyperboreer der kalten Zone angehört, daß dieſelbe Raſſe meiſt im Norden und Süden der Länder eine etwas andere Spielart zeigt, daß der Angloſachſe in Nordamerika einen abweichenden Typus entwickelt, daß der Volkscharakter im Gebirge und in der Tiefebene ſtets ziemlich verſchieden iſt. Immer bleiben ſolche Schlüſſe etwas problematiſch, weil die ſonſt mitwirkenden Umſtände nicht auszuſondern ſind. Und wenn Cotta gar die Menſchen nach den Gebirgsformationen ſondern will, Luther, Mirabeau, O’Connell und Napoleon nur als Söhne des Urgebirges begreifen, wenn Ed. Meyer die Züge der Semiten aus dem Bewohnen der Wüſte ableiten will, ſelbſt wenn Ratzel meint, die Europäer würden in den ſüdamerikaniſchen Ebenen faſt zu Steppenindianern, wenn Peſchel ſagt, auch die Indogermanen würden, an der nordweſtlichen Durchfahrt ſitzend, mit der Harpune an Eislöchern auf das Wallroß lauern, ſo möchte ich zu ſolchen Ausſprüchen doch einige Fragezeichen machen. Die beiden letzten Thatſachen beweiſen mehr, daß die Natur zu beſtimmter Lebensweiſe und Ernährung hinführt, als daß das Klima den Menſchen gänzlich umbildet. Die Kau- kaſier leben heute in allen Zonen und werden niemals Neger, Indianer, Papuas oder Mongolen werden; die Neger werden in Jahrhunderten nicht Indogermanen im

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/160>, abgerufen am 29.03.2024.