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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Entstehung der Rassen und Völker.
großer geologischer Umwälzungen und größter Variabilität entstehen. Lange dauernde
Isolierung und Inzucht habe dann die heutigen Hauptrassen in ihrer morphologischen
Eigentümlichkeit erzeugt und befestigt; die später eintretende definitive Gestaltung der
Erdoberfläche und Meere habe zu ähnlich tiefeinschneidenden Wanderungen und Art-
bildungen der Flora und Fauna, wie der Menschen nicht mehr Anlaß geben können.
Die Scheidung der Rassen in Stämme und Völker sei nun unter anderen Bedingungen
erfolgt: nicht mehr so große räumliche Trennungen, so lange Inzucht, so verschiedene
Klimate und Lebensbedingungen hätten hier gewirkt, sondern nur eine Scheidung zwischen
bisher nahen, unter ähnlicher Lebensbedingung stehenden Menschen. Die Scheidewände,
welche die Stammes- und Volksorganisation, die Religion, die verschiedene Kultur-
entwickelung in der prähistorischen und historischen Zeit erzeugt haben, könnten nicht so
große wie die einst zur Zeit der Rassenscheidung vorhandenen Schranken gewesen sein.

Die Hypothese Wagners hat jedenfalls viel Wahrscheinlichkeit für sich. Sie
erklärt, warum die Rassenscheidung eine viel stärkere war als die Völkerscheidung, warum
in historischer Zeit keine neuen Rassen entstanden seien, was bei Darwins Annahme
von stets fortdauernden Ursachen ganz unklar bleibt. Indem Wagner an die geologische
Geschichte der Erde und an die Wirkung sehr großer Zeiträume für die Rassenbildung,
kürzerer für die Völkerbildung anknüpft, wird die größere Konstanz und die schärfere
Ausbildung der Rasseneigentümlichkeiten verständlich. Durch die Heranziehung zahlreicher
anderer Ursachen, wie der geologischen Epochen und des Klimas, der Dauer der Inzucht
und der Geschlossenheit der Rassenelemente, der Ernährung und Lebensweise neben der
Zuchtwahl und dem Kampf ums Dasein wird auch begreiflicher, warum einzelne Rassen
und Völker unendlich lange Zeiträume hindurch stabil blieben, andere sich zu höherer
Daseinsform entwickelten oder zurückgingen. Vieles bleibt freilich auch bei ihm noch
dunkel: z. B. ist die Annahme einer größeren Variabilität zur Zeit der Rassenbildung
durch keine strengen Beweise erhärtet. Das Maß, in welchem die verschiedenen Einflüsse
auf die Bildung von Rassen und Völkertypen wirken, ist noch ganz unaufgeklärt. Wir
werden nachher auf einiges derart, z. B. auf das Klima und die Erziehung sowie auf
die Rassenmischung zurückkommen.

Auf die heute zwischen den Darwinianern und Weismann geführte Kontroverse, in
welchem Maße und durch welche physiologischen Prozesse einzelne von den Eltern erworbene
Eigenschaften auf die Kinder übergehen und vererbt werden, können wir hier nicht näher
eingehen. Wir wollen nur sagen, daß man wohl seit Lamarck und Darwin (durch
die Theorie der Pangenesis) diese Vererbung etwas überschätzte. Der Schwiegersohn
Darwins, Francis Galton, hat selbst 1889 seine weiter gehenden Ansichten von 1869
etwas beschränkt. Nur daran ist wohl doch festzuhalten, daß auch Weismann und
seine Schule die successive Umbildung des Rassen- und Völkertypus nicht leugnen;
sie verlegen die Ursachen nur an andere Punkte, etwas weiter zurück, glauben an eine
definitive Umbildung des Typus im ganzen nur durch Einflüsse, welche länger, Gene-
rationen hindurch, dauern.

Über das Maß der möglichen und wahrscheinlichen Variabilität von Generation
zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert wissen wir heute auch noch recht wenig.
Galton führt als Beispiel, wie mit der steigenden Zahl von Ahnen der Anteil des
einzelnen an den Eigenschaften der Nachkommen abnehme, folgende Zahlen, aber ganz
hypothetisch an: Wenn ein Kind 9/10 von seinen Eltern hat, 1/10 seines Wesens als
individuelle Variation sich darstellt, so haben seine Eltern nur 9/10 von 9/10 = 81/100
von ihren Großeltern, 729/1000 von ihren Urgroßeltern; gehen wir über das 50. Glied
zurück, so hat das Kind nur 1/5000 von jedem seiner Ahnen. Es ist aber einzuwerfen,
daß, wenn diese Ahnen sich alle glichen oder, was wahrscheinlicher, der größere Teil
derselben viele Dutzend male in den genealogischen Linien sich wiederholt, doch die Ver-
änderung keine große zu sein braucht. Und weiter, daß die Kette rückwärts schon bei
geringer Zahl der Generationen sehr große Epochen umfaßt. Rümelin erinnert daran,
daß der 11. unserer Ahnen mit Luther, der 32. mit Karl d. Gr. lebte und der 60.
wahrscheinlich auf den Steppen Hochasiens dem Thor und dem Odin Pferde schlachtete.

Die Entſtehung der Raſſen und Völker.
großer geologiſcher Umwälzungen und größter Variabilität entſtehen. Lange dauernde
Iſolierung und Inzucht habe dann die heutigen Hauptraſſen in ihrer morphologiſchen
Eigentümlichkeit erzeugt und befeſtigt; die ſpäter eintretende definitive Geſtaltung der
Erdoberfläche und Meere habe zu ähnlich tiefeinſchneidenden Wanderungen und Art-
bildungen der Flora und Fauna, wie der Menſchen nicht mehr Anlaß geben können.
Die Scheidung der Raſſen in Stämme und Völker ſei nun unter anderen Bedingungen
erfolgt: nicht mehr ſo große räumliche Trennungen, ſo lange Inzucht, ſo verſchiedene
Klimate und Lebensbedingungen hätten hier gewirkt, ſondern nur eine Scheidung zwiſchen
bisher nahen, unter ähnlicher Lebensbedingung ſtehenden Menſchen. Die Scheidewände,
welche die Stammes- und Volksorganiſation, die Religion, die verſchiedene Kultur-
entwickelung in der prähiſtoriſchen und hiſtoriſchen Zeit erzeugt haben, könnten nicht ſo
große wie die einſt zur Zeit der Raſſenſcheidung vorhandenen Schranken geweſen ſein.

Die Hypotheſe Wagners hat jedenfalls viel Wahrſcheinlichkeit für ſich. Sie
erklärt, warum die Raſſenſcheidung eine viel ſtärkere war als die Völkerſcheidung, warum
in hiſtoriſcher Zeit keine neuen Raſſen entſtanden ſeien, was bei Darwins Annahme
von ſtets fortdauernden Urſachen ganz unklar bleibt. Indem Wagner an die geologiſche
Geſchichte der Erde und an die Wirkung ſehr großer Zeiträume für die Raſſenbildung,
kürzerer für die Völkerbildung anknüpft, wird die größere Konſtanz und die ſchärfere
Ausbildung der Raſſeneigentümlichkeiten verſtändlich. Durch die Heranziehung zahlreicher
anderer Urſachen, wie der geologiſchen Epochen und des Klimas, der Dauer der Inzucht
und der Geſchloſſenheit der Raſſenelemente, der Ernährung und Lebensweiſe neben der
Zuchtwahl und dem Kampf ums Daſein wird auch begreiflicher, warum einzelne Raſſen
und Völker unendlich lange Zeiträume hindurch ſtabil blieben, andere ſich zu höherer
Daſeinsform entwickelten oder zurückgingen. Vieles bleibt freilich auch bei ihm noch
dunkel: z. B. iſt die Annahme einer größeren Variabilität zur Zeit der Raſſenbildung
durch keine ſtrengen Beweiſe erhärtet. Das Maß, in welchem die verſchiedenen Einflüſſe
auf die Bildung von Raſſen und Völkertypen wirken, iſt noch ganz unaufgeklärt. Wir
werden nachher auf einiges derart, z. B. auf das Klima und die Erziehung ſowie auf
die Raſſenmiſchung zurückkommen.

Auf die heute zwiſchen den Darwinianern und Weismann geführte Kontroverſe, in
welchem Maße und durch welche phyſiologiſchen Prozeſſe einzelne von den Eltern erworbene
Eigenſchaften auf die Kinder übergehen und vererbt werden, können wir hier nicht näher
eingehen. Wir wollen nur ſagen, daß man wohl ſeit Lamarck und Darwin (durch
die Theorie der Pangeneſis) dieſe Vererbung etwas überſchätzte. Der Schwiegerſohn
Darwins, Francis Galton, hat ſelbſt 1889 ſeine weiter gehenden Anſichten von 1869
etwas beſchränkt. Nur daran iſt wohl doch feſtzuhalten, daß auch Weismann und
ſeine Schule die ſucceſſive Umbildung des Raſſen- und Völkertypus nicht leugnen;
ſie verlegen die Urſachen nur an andere Punkte, etwas weiter zurück, glauben an eine
definitive Umbildung des Typus im ganzen nur durch Einflüſſe, welche länger, Gene-
rationen hindurch, dauern.

Über das Maß der möglichen und wahrſcheinlichen Variabilität von Generation
zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert wiſſen wir heute auch noch recht wenig.
Galton führt als Beiſpiel, wie mit der ſteigenden Zahl von Ahnen der Anteil des
einzelnen an den Eigenſchaften der Nachkommen abnehme, folgende Zahlen, aber ganz
hypothetiſch an: Wenn ein Kind 9/10 von ſeinen Eltern hat, 1/10 ſeines Weſens als
individuelle Variation ſich darſtellt, ſo haben ſeine Eltern nur 9/10 von 9/10 = 81/100
von ihren Großeltern, 729/1000 von ihren Urgroßeltern; gehen wir über das 50. Glied
zurück, ſo hat das Kind nur 1/5000 von jedem ſeiner Ahnen. Es iſt aber einzuwerfen,
daß, wenn dieſe Ahnen ſich alle glichen oder, was wahrſcheinlicher, der größere Teil
derſelben viele Dutzend male in den genealogiſchen Linien ſich wiederholt, doch die Ver-
änderung keine große zu ſein braucht. Und weiter, daß die Kette rückwärts ſchon bei
geringer Zahl der Generationen ſehr große Epochen umfaßt. Rümelin erinnert daran,
daß der 11. unſerer Ahnen mit Luther, der 32. mit Karl d. Gr. lebte und der 60.
wahrſcheinlich auf den Steppen Hochaſiens dem Thor und dem Odin Pferde ſchlachtete.

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[143/0159] Die Entſtehung der Raſſen und Völker. großer geologiſcher Umwälzungen und größter Variabilität entſtehen. Lange dauernde Iſolierung und Inzucht habe dann die heutigen Hauptraſſen in ihrer morphologiſchen Eigentümlichkeit erzeugt und befeſtigt; die ſpäter eintretende definitive Geſtaltung der Erdoberfläche und Meere habe zu ähnlich tiefeinſchneidenden Wanderungen und Art- bildungen der Flora und Fauna, wie der Menſchen nicht mehr Anlaß geben können. Die Scheidung der Raſſen in Stämme und Völker ſei nun unter anderen Bedingungen erfolgt: nicht mehr ſo große räumliche Trennungen, ſo lange Inzucht, ſo verſchiedene Klimate und Lebensbedingungen hätten hier gewirkt, ſondern nur eine Scheidung zwiſchen bisher nahen, unter ähnlicher Lebensbedingung ſtehenden Menſchen. Die Scheidewände, welche die Stammes- und Volksorganiſation, die Religion, die verſchiedene Kultur- entwickelung in der prähiſtoriſchen und hiſtoriſchen Zeit erzeugt haben, könnten nicht ſo große wie die einſt zur Zeit der Raſſenſcheidung vorhandenen Schranken geweſen ſein. Die Hypotheſe Wagners hat jedenfalls viel Wahrſcheinlichkeit für ſich. Sie erklärt, warum die Raſſenſcheidung eine viel ſtärkere war als die Völkerſcheidung, warum in hiſtoriſcher Zeit keine neuen Raſſen entſtanden ſeien, was bei Darwins Annahme von ſtets fortdauernden Urſachen ganz unklar bleibt. Indem Wagner an die geologiſche Geſchichte der Erde und an die Wirkung ſehr großer Zeiträume für die Raſſenbildung, kürzerer für die Völkerbildung anknüpft, wird die größere Konſtanz und die ſchärfere Ausbildung der Raſſeneigentümlichkeiten verſtändlich. Durch die Heranziehung zahlreicher anderer Urſachen, wie der geologiſchen Epochen und des Klimas, der Dauer der Inzucht und der Geſchloſſenheit der Raſſenelemente, der Ernährung und Lebensweiſe neben der Zuchtwahl und dem Kampf ums Daſein wird auch begreiflicher, warum einzelne Raſſen und Völker unendlich lange Zeiträume hindurch ſtabil blieben, andere ſich zu höherer Daſeinsform entwickelten oder zurückgingen. Vieles bleibt freilich auch bei ihm noch dunkel: z. B. iſt die Annahme einer größeren Variabilität zur Zeit der Raſſenbildung durch keine ſtrengen Beweiſe erhärtet. Das Maß, in welchem die verſchiedenen Einflüſſe auf die Bildung von Raſſen und Völkertypen wirken, iſt noch ganz unaufgeklärt. Wir werden nachher auf einiges derart, z. B. auf das Klima und die Erziehung ſowie auf die Raſſenmiſchung zurückkommen. Auf die heute zwiſchen den Darwinianern und Weismann geführte Kontroverſe, in welchem Maße und durch welche phyſiologiſchen Prozeſſe einzelne von den Eltern erworbene Eigenſchaften auf die Kinder übergehen und vererbt werden, können wir hier nicht näher eingehen. Wir wollen nur ſagen, daß man wohl ſeit Lamarck und Darwin (durch die Theorie der Pangeneſis) dieſe Vererbung etwas überſchätzte. Der Schwiegerſohn Darwins, Francis Galton, hat ſelbſt 1889 ſeine weiter gehenden Anſichten von 1869 etwas beſchränkt. Nur daran iſt wohl doch feſtzuhalten, daß auch Weismann und ſeine Schule die ſucceſſive Umbildung des Raſſen- und Völkertypus nicht leugnen; ſie verlegen die Urſachen nur an andere Punkte, etwas weiter zurück, glauben an eine definitive Umbildung des Typus im ganzen nur durch Einflüſſe, welche länger, Gene- rationen hindurch, dauern. Über das Maß der möglichen und wahrſcheinlichen Variabilität von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert wiſſen wir heute auch noch recht wenig. Galton führt als Beiſpiel, wie mit der ſteigenden Zahl von Ahnen der Anteil des einzelnen an den Eigenſchaften der Nachkommen abnehme, folgende Zahlen, aber ganz hypothetiſch an: Wenn ein Kind 9/10 von ſeinen Eltern hat, 1/10 ſeines Weſens als individuelle Variation ſich darſtellt, ſo haben ſeine Eltern nur 9/10 von 9/10 = 81/100 von ihren Großeltern, 729/1000 von ihren Urgroßeltern; gehen wir über das 50. Glied zurück, ſo hat das Kind nur 1/5000 von jedem ſeiner Ahnen. Es iſt aber einzuwerfen, daß, wenn dieſe Ahnen ſich alle glichen oder, was wahrſcheinlicher, der größere Teil derſelben viele Dutzend male in den genealogiſchen Linien ſich wiederholt, doch die Ver- änderung keine große zu ſein braucht. Und weiter, daß die Kette rückwärts ſchon bei geringer Zahl der Generationen ſehr große Epochen umfaßt. Rümelin erinnert daran, daß der 11. unſerer Ahnen mit Luther, der 32. mit Karl d. Gr. lebte und der 60. wahrſcheinlich auf den Steppen Hochaſiens dem Thor und dem Odin Pferde ſchlachtete.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/159>, abgerufen am 18.04.2024.