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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Der heutige wissenschaftliche Standpunkt der Volkswirtschaftslehre.
müsse, um die gerechten Ansprüche aller Teilnehmenden zu befriedigen; b) daß die zu
große Differenzierung der socialen Klassen mit ihren socialen Kämpfen unsere Gegenwart
bedrohe, daß nur große sociale Reformen uns helfen können; c) daß in dem Verhältnis
der Staaten untereinander, so sehr jeder für sich sein wirtschaftliches Leben ausbilden,
unter Umständen seine Sonderinteressen mit Energie verteidigen müsse, doch eine steigende
Annäherung im Sinne der Weltwirtschaft stattzufinden habe.

Bewegen sich in dieser Richtung die von uns schon charakterisierten deutschen Werke
von L. v. Stein und von Roscher, so werden wir sagen können, daß die ersten heutigen
französischen Autoritäten, Paul Cauwes (Principes d'economie politique, 1884, seither
viele Auflagen) und Charles Gide (Precis du cours d'economie politique, 1878 und
seither öfter) ihr ebenfalls nahe stehen, und daß auch Marshall (Principles of economics,
1890, seither öfter, auch eine abgekürzte Ausgabe), obwohl mit der J. St. Millschen
Nationalökonomie noch verwandter, als die deutschen Werke es durchschnittlich sind,
doch durch psychologisch-sociologische Analyse und durch ideale Gesichtspunkte sich ihr
nähert. Von den deutschen zusammenfassenden Werken, in welchen sich der heutige eben
im ganzen charakterisierte Standpunkt unserer Wissenschaft am deutlichsten spiegelt, sind
hauptsächlich folgende zu nennen:

Albert Schäffle (Gesellsch. System der menschlichen Wirtschaft, 1858, 67 u. 73;
Kapitalismus und Socialismus, 1870; Bau und Leben des socialen Körpers, 4 Bde.,
1875) ist ein philosophischer Politiker, Socialreformer und Tagesschriftsteller großen
Stils, er hat sich mit einigen Schwankungen dem Socialismus ziemlich stark genähert,
verbindet umfassende staatswissenschaftliche mit naturwissenschaftlicher Bildung; er ver-
sucht die Nationalökonomie auf sociologischen Boden zu stellen, entwickelungsgeschichtlich
darzustellen; doch haftet sein Interesse an den Fragen der Tagespolitik, und seine Bücher
sind mehr geist- und ideenreich als durchgearbeitet und zum Unterricht brauchbar. Adolf
Wagner ging von monographischen Arbeiten über Bank- und Geldwesen und einem
liberal-individualistischen Standpunkt ursprünglich aus, hat dann aber, von Schäffle,
Rodbertus und dem ganzen Socialismus angeregt, ganz andere Wege eingeschlagen, ein
bedeutsames systematisches Lehrbuch zu schreiben begonnen, zu dessen Vollendung er auch
andere hervorragende Kräfte (Buchenberger, Bücher, Dietzel) heranzog. Er selbst lieferte
bis jetzt mehrere Bände Finanzwissenschaft und eine Grundlegung zur Volkswirtschafts-
lehre (1875, 1879, 3. Aufl. in 2 Bdn., 1893--94), worin er die Grundbegriffe, die
Methodologie, die großen Principienfragen der wirtschaftlichen Rechtsordnung und des
Socialismus und die Bevölkerungslehre in tiefgreifender Weise erörtert. Er will auch
heute noch methodologisch mehr an der abstrakt-deduktiven Art der wissenschaftlichen
Behandlung als die meisten anderen deutschen Nationalökonomen festhalten; praktisch
wird sein Standpunkt gewöhnlich als Staatssocialismus bezeichnet, womit aber nur
gemeint ist, daß er dem Gesetz und dem Staate einen größeren Teil der heutigen socialen
Reform zuweise, als die meisten seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen. Gustav Cohn hat
von einem System der Nationalökonomie bis jetzt einen ersten grundlegenden (1885),
einen finanzwissenschaftlichen (1889) und einen Band über Handel und Verkeh swesen
(1898) erscheinen lassen; in diesen Bänden, deren ersterer freilich mehr einen essayistischen
als lehrbuchartigen Charakter hat, spiegeln sich die Anschauungen und Tendenzen der
heutigen deutschen Nationalökonomie wohl am deutlichsten und in der anziehendsten
Form wieder. Daneben kommt E. v. Philippovich (Grundriß der politischen Ökonomie,
1. Bd. Allgem. Volkswirtschaftslehre, 1893, 97 u. 99, 2. Bd. Volkswirtschaftspolitik,
1. Teil 1899) in Betracht; er will principiell Menger und der österreichischen abstrakten
Schule treu bleiben, praktisch steht er aber durchaus auf dem neuen, vorhin charakte-
risierten Boden.

In dem folgenden Grundriß wird ebenfalls der Versuch gemacht, die allgemeinen
und im ganzen feststehenden Resultate unseres nationalökonomischen Wissens einheitlich,
systematisch von dem Standpunkte aus zusammenzufassen, wie er im vorstehenden dar-
gelegt ist. Die Abgrenzung des Stoffes schließt sich der in Deutschland seit Rau her-
kömmlichen im ganzen an, aber doch mit anderer Absicht, als sie Rau vorschwebte.

Der heutige wiſſenſchaftliche Standpunkt der Volkswirtſchaftslehre.
müſſe, um die gerechten Anſprüche aller Teilnehmenden zu befriedigen; b) daß die zu
große Differenzierung der ſocialen Klaſſen mit ihren ſocialen Kämpfen unſere Gegenwart
bedrohe, daß nur große ſociale Reformen uns helfen können; c) daß in dem Verhältnis
der Staaten untereinander, ſo ſehr jeder für ſich ſein wirtſchaftliches Leben ausbilden,
unter Umſtänden ſeine Sonderintereſſen mit Energie verteidigen müſſe, doch eine ſteigende
Annäherung im Sinne der Weltwirtſchaft ſtattzufinden habe.

Bewegen ſich in dieſer Richtung die von uns ſchon charakteriſierten deutſchen Werke
von L. v. Stein und von Roſcher, ſo werden wir ſagen können, daß die erſten heutigen
franzöſiſchen Autoritäten, Paul Cauwès (Principes d’économie politique, 1884, ſeither
viele Auflagen) und Charles Gide (Précis du cours d’économie politique, 1878 und
ſeither öfter) ihr ebenfalls nahe ſtehen, und daß auch Marſhall (Principles of economics,
1890, ſeither öfter, auch eine abgekürzte Ausgabe), obwohl mit der J. St. Millſchen
Nationalökonomie noch verwandter, als die deutſchen Werke es durchſchnittlich ſind,
doch durch pſychologiſch-ſociologiſche Analyſe und durch ideale Geſichtspunkte ſich ihr
nähert. Von den deutſchen zuſammenfaſſenden Werken, in welchen ſich der heutige eben
im ganzen charakteriſierte Standpunkt unſerer Wiſſenſchaft am deutlichſten ſpiegelt, ſind
hauptſächlich folgende zu nennen:

Albert Schäffle (Geſellſch. Syſtem der menſchlichen Wirtſchaft, 1858, 67 u. 73;
Kapitalismus und Socialismus, 1870; Bau und Leben des ſocialen Körpers, 4 Bde.,
1875) iſt ein philoſophiſcher Politiker, Socialreformer und Tagesſchriftſteller großen
Stils, er hat ſich mit einigen Schwankungen dem Socialismus ziemlich ſtark genähert,
verbindet umfaſſende ſtaatswiſſenſchaftliche mit naturwiſſenſchaftlicher Bildung; er ver-
ſucht die Nationalökonomie auf ſociologiſchen Boden zu ſtellen, entwickelungsgeſchichtlich
darzuſtellen; doch haftet ſein Intereſſe an den Fragen der Tagespolitik, und ſeine Bücher
ſind mehr geiſt- und ideenreich als durchgearbeitet und zum Unterricht brauchbar. Adolf
Wagner ging von monographiſchen Arbeiten über Bank- und Geldweſen und einem
liberal-individualiſtiſchen Standpunkt urſprünglich aus, hat dann aber, von Schäffle,
Rodbertus und dem ganzen Socialismus angeregt, ganz andere Wege eingeſchlagen, ein
bedeutſames ſyſtematiſches Lehrbuch zu ſchreiben begonnen, zu deſſen Vollendung er auch
andere hervorragende Kräfte (Buchenberger, Bücher, Dietzel) heranzog. Er ſelbſt lieferte
bis jetzt mehrere Bände Finanzwiſſenſchaft und eine Grundlegung zur Volkswirtſchafts-
lehre (1875, 1879, 3. Aufl. in 2 Bdn., 1893—94), worin er die Grundbegriffe, die
Methodologie, die großen Principienfragen der wirtſchaftlichen Rechtsordnung und des
Socialismus und die Bevölkerungslehre in tiefgreifender Weiſe erörtert. Er will auch
heute noch methodologiſch mehr an der abſtrakt-deduktiven Art der wiſſenſchaftlichen
Behandlung als die meiſten anderen deutſchen Nationalökonomen feſthalten; praktiſch
wird ſein Standpunkt gewöhnlich als Staatsſocialismus bezeichnet, womit aber nur
gemeint iſt, daß er dem Geſetz und dem Staate einen größeren Teil der heutigen ſocialen
Reform zuweiſe, als die meiſten ſeiner wiſſenſchaftlichen Zeitgenoſſen. Guſtav Cohn hat
von einem Syſtem der Nationalökonomie bis jetzt einen erſten grundlegenden (1885),
einen finanzwiſſenſchaftlichen (1889) und einen Band über Handel und Verkeh sweſen
(1898) erſcheinen laſſen; in dieſen Bänden, deren erſterer freilich mehr einen eſſayiſtiſchen
als lehrbuchartigen Charakter hat, ſpiegeln ſich die Anſchauungen und Tendenzen der
heutigen deutſchen Nationalökonomie wohl am deutlichſten und in der anziehendſten
Form wieder. Daneben kommt E. v. Philippovich (Grundriß der politiſchen Ökonomie,
1. Bd. Allgem. Volkswirtſchaftslehre, 1893, 97 u. 99, 2. Bd. Volkswirtſchaftspolitik,
1. Teil 1899) in Betracht; er will principiell Menger und der öſterreichiſchen abſtrakten
Schule treu bleiben, praktiſch ſteht er aber durchaus auf dem neuen, vorhin charakte-
riſierten Boden.

In dem folgenden Grundriß wird ebenfalls der Verſuch gemacht, die allgemeinen
und im ganzen feſtſtehenden Reſultate unſeres nationalökonomiſchen Wiſſens einheitlich,
ſyſtematiſch von dem Standpunkte aus zuſammenzufaſſen, wie er im vorſtehenden dar-
gelegt iſt. Die Abgrenzung des Stoffes ſchließt ſich der in Deutſchland ſeit Rau her-
kömmlichen im ganzen an, aber doch mit anderer Abſicht, als ſie Rau vorſchwebte.

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[123/0139] Der heutige wiſſenſchaftliche Standpunkt der Volkswirtſchaftslehre. müſſe, um die gerechten Anſprüche aller Teilnehmenden zu befriedigen; b) daß die zu große Differenzierung der ſocialen Klaſſen mit ihren ſocialen Kämpfen unſere Gegenwart bedrohe, daß nur große ſociale Reformen uns helfen können; c) daß in dem Verhältnis der Staaten untereinander, ſo ſehr jeder für ſich ſein wirtſchaftliches Leben ausbilden, unter Umſtänden ſeine Sonderintereſſen mit Energie verteidigen müſſe, doch eine ſteigende Annäherung im Sinne der Weltwirtſchaft ſtattzufinden habe. Bewegen ſich in dieſer Richtung die von uns ſchon charakteriſierten deutſchen Werke von L. v. Stein und von Roſcher, ſo werden wir ſagen können, daß die erſten heutigen franzöſiſchen Autoritäten, Paul Cauwès (Principes d’économie politique, 1884, ſeither viele Auflagen) und Charles Gide (Précis du cours d’économie politique, 1878 und ſeither öfter) ihr ebenfalls nahe ſtehen, und daß auch Marſhall (Principles of economics, 1890, ſeither öfter, auch eine abgekürzte Ausgabe), obwohl mit der J. St. Millſchen Nationalökonomie noch verwandter, als die deutſchen Werke es durchſchnittlich ſind, doch durch pſychologiſch-ſociologiſche Analyſe und durch ideale Geſichtspunkte ſich ihr nähert. Von den deutſchen zuſammenfaſſenden Werken, in welchen ſich der heutige eben im ganzen charakteriſierte Standpunkt unſerer Wiſſenſchaft am deutlichſten ſpiegelt, ſind hauptſächlich folgende zu nennen: Albert Schäffle (Geſellſch. Syſtem der menſchlichen Wirtſchaft, 1858, 67 u. 73; Kapitalismus und Socialismus, 1870; Bau und Leben des ſocialen Körpers, 4 Bde., 1875) iſt ein philoſophiſcher Politiker, Socialreformer und Tagesſchriftſteller großen Stils, er hat ſich mit einigen Schwankungen dem Socialismus ziemlich ſtark genähert, verbindet umfaſſende ſtaatswiſſenſchaftliche mit naturwiſſenſchaftlicher Bildung; er ver- ſucht die Nationalökonomie auf ſociologiſchen Boden zu ſtellen, entwickelungsgeſchichtlich darzuſtellen; doch haftet ſein Intereſſe an den Fragen der Tagespolitik, und ſeine Bücher ſind mehr geiſt- und ideenreich als durchgearbeitet und zum Unterricht brauchbar. Adolf Wagner ging von monographiſchen Arbeiten über Bank- und Geldweſen und einem liberal-individualiſtiſchen Standpunkt urſprünglich aus, hat dann aber, von Schäffle, Rodbertus und dem ganzen Socialismus angeregt, ganz andere Wege eingeſchlagen, ein bedeutſames ſyſtematiſches Lehrbuch zu ſchreiben begonnen, zu deſſen Vollendung er auch andere hervorragende Kräfte (Buchenberger, Bücher, Dietzel) heranzog. Er ſelbſt lieferte bis jetzt mehrere Bände Finanzwiſſenſchaft und eine Grundlegung zur Volkswirtſchafts- lehre (1875, 1879, 3. Aufl. in 2 Bdn., 1893—94), worin er die Grundbegriffe, die Methodologie, die großen Principienfragen der wirtſchaftlichen Rechtsordnung und des Socialismus und die Bevölkerungslehre in tiefgreifender Weiſe erörtert. Er will auch heute noch methodologiſch mehr an der abſtrakt-deduktiven Art der wiſſenſchaftlichen Behandlung als die meiſten anderen deutſchen Nationalökonomen feſthalten; praktiſch wird ſein Standpunkt gewöhnlich als Staatsſocialismus bezeichnet, womit aber nur gemeint iſt, daß er dem Geſetz und dem Staate einen größeren Teil der heutigen ſocialen Reform zuweiſe, als die meiſten ſeiner wiſſenſchaftlichen Zeitgenoſſen. Guſtav Cohn hat von einem Syſtem der Nationalökonomie bis jetzt einen erſten grundlegenden (1885), einen finanzwiſſenſchaftlichen (1889) und einen Band über Handel und Verkeh sweſen (1898) erſcheinen laſſen; in dieſen Bänden, deren erſterer freilich mehr einen eſſayiſtiſchen als lehrbuchartigen Charakter hat, ſpiegeln ſich die Anſchauungen und Tendenzen der heutigen deutſchen Nationalökonomie wohl am deutlichſten und in der anziehendſten Form wieder. Daneben kommt E. v. Philippovich (Grundriß der politiſchen Ökonomie, 1. Bd. Allgem. Volkswirtſchaftslehre, 1893, 97 u. 99, 2. Bd. Volkswirtſchaftspolitik, 1. Teil 1899) in Betracht; er will principiell Menger und der öſterreichiſchen abſtrakten Schule treu bleiben, praktiſch ſteht er aber durchaus auf dem neuen, vorhin charakte- riſierten Boden. In dem folgenden Grundriß wird ebenfalls der Verſuch gemacht, die allgemeinen und im ganzen feſtſtehenden Reſultate unſeres nationalökonomiſchen Wiſſens einheitlich, ſyſtematiſch von dem Standpunkte aus zuſammenzufaſſen, wie er im vorſtehenden dar- gelegt iſt. Die Abgrenzung des Stoffes ſchließt ſich der in Deutſchland ſeit Rau her- kömmlichen im ganzen an, aber doch mit anderer Abſicht, als ſie Rau vorſchwebte.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/139>, abgerufen am 28.03.2024.