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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Bedeutung der Statistik.
erlaubt Hypothesen, bestätigt oder beseitigt sie. Aber nicht mehr. Und dann: es sind
immer nur wenige äußerliche Fragen, die gestellt und präcis beantwortet werden können.
Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochsen feststellen; man kann
die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen
noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feststellen, zu welchem Preise an
einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverständigen gehandelt wurde,
aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preise und alle zu solchen Preisen
geschlossenen Verträge feststellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entstehungsgeschichte
ist problematisch, schon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten so oft zweifelhaft ist.
Die Statistik ist und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel
des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meisters, des
nüchternen, wahrheitsuchenden Gelehrten ein Schlüssel zu tieferer Erkenntnis.

Und doch, was hat sie schon geleistet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral-
statistik erst geschaffen; sie hat dem ganzen deskriptiven Teil der Staats- und Social-
wissenschaften erst Präcision und wissenschaftlichen Charakter gegeben, sie hat die abstrakten
Schlüsse aus den Quantitätsverhältnissen in der Wert- und Preislehre auf ihr rechtes
Maß zurückgeführt, zahllose Irrtümer in der Geld- und Kreditlehre, in der Frage der
Getreidepreise, der Löhne, des Konsums, der Ernteergebnisse beseitigt. Sie hat das
naturalistische Wirtschaften mit Phrasen und halbwahren Hypothesen auf dem ganzen
Wissensgebiet eingeschränkt; die Fragestellungen überall verschärft, ein gelehrtes systema-
tisches Verfahren an die Stelle des Raisonnierens aus dem Handgelenk gesetzt.

Die Männer, welche sich um ihre Ausbildung in den statistischen Ämtern haupt-
sächlich verdient gemacht haben, sind: J. G. Hoffmann in Preußen, der auch durch seine
realistischen Schriften (Lehre vom Geld, 1838; Lehre von den Steuern, 1840; Befugnis
zum Gewerbebetrieb, 1841) zu den vorzüglichen Darstellern konkreter Wirtschaftsverhält-
nisse gehört; der Astronom und Naturforscher L. A. J. Quetelet, der die belgische
Statistik zeitweise zur ersten in Europa machte und durch sein Buch (Sur l'homme,
2 Bde., 1835, deutsch 1838) mit seinen freilich schiefen, mechanisch-naturalistischen Ten-
denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wissenschaftlichen Streit anregte; Moreau
de Jonnes, der von 1833 an die französische Statistik leitete und eine Reihe wertvoller
statistisch-historischer Werke schrieb; Ernst Engel, der mit einer naturwissenschaftlich-techno-
logischen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die sächsische und preußische Statistik
nach dem Vorbilde der belgischen mit seltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete;
Georg v. Mayr, der nach dem Vorgang Hermanns die bayrische Statistik für viele Jahre
mit zur angesehensten in Deutschland erhob und allgemeine Werke über Statistik schrieb
(Gesetzmäßigkeit im Gesellschaftsleben, 1877; Statistik und Gesellschaftslehre, 2 Bde.,
1894--97), neuerdings ein statistisches Archiv als Zeitschrift begründete (seit 1890);
endlich Gustav Rümelin, der eine Reihe musterhafter Arbeiten über die württembergische
Statistik und über die Theorie der Statistik (in seinen Reden und Aufsätzen, 3 Bde.)
lieferte. Neuerdings hat sich hauptsächlich die italienische Statistik unter Luigi Bodio durch
umfangreiche und tüchtige Leistungen ausgezeichnet. Und in Frankreich steht jetzt
Ernest Levasseur mit seinem großen historisch-statistischen Werke La population francaise
(3 Bde., 1889 ff.) an der Spitze.

Über das Wesen der Statistik als Wissenschaft haben außer den Genannten sich
in bemerkenswerter Weise ausgesprochen: Karl Knies (Die Statistik als selbständige
Wissenschaft, 1850), G. F. Knapp (Die neueren Ansichten über Moralstatistik, J. f. N.
1. F. 16, 1871; über Quetelet, daselbst 18, 1873; Theorie des Bevölkerungswechsels,
1874), W. Lexis (Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft, 1877),
Maurice Block (Traite theorique et pratique de la statistique, 1878, deutsch 1879
von v. Scheel), August Meitzen (Geschichte, Theorie und Technik der Statistik, 1886),
W. Westergaard (Grundzüge der Theorie der Statistik, 1890). Die Bevölkerungslehre
haben 1859 Wappäus, die Moralstatistik 1868 von Oettingen, die Verwaltungsstatistik
E. Mischler (1 Bd.), 1892 in ihren wesentlichen Resultaten zusammengefaßt.

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Die Bedeutung der Statiſtik.
erlaubt Hypotheſen, beſtätigt oder beſeitigt ſie. Aber nicht mehr. Und dann: es ſind
immer nur wenige äußerliche Fragen, die geſtellt und präcis beantwortet werden können.
Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochſen feſtſtellen; man kann
die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen
noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feſtſtellen, zu welchem Preiſe an
einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverſtändigen gehandelt wurde,
aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preiſe und alle zu ſolchen Preiſen
geſchloſſenen Verträge feſtſtellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entſtehungsgeſchichte
iſt problematiſch, ſchon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten ſo oft zweifelhaft iſt.
Die Statiſtik iſt und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel
des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meiſters, des
nüchternen, wahrheitſuchenden Gelehrten ein Schlüſſel zu tieferer Erkenntnis.

Und doch, was hat ſie ſchon geleiſtet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral-
ſtatiſtik erſt geſchaffen; ſie hat dem ganzen deſkriptiven Teil der Staats- und Social-
wiſſenſchaften erſt Präciſion und wiſſenſchaftlichen Charakter gegeben, ſie hat die abſtrakten
Schlüſſe aus den Quantitätsverhältniſſen in der Wert- und Preislehre auf ihr rechtes
Maß zurückgeführt, zahlloſe Irrtümer in der Geld- und Kreditlehre, in der Frage der
Getreidepreiſe, der Löhne, des Konſums, der Ernteergebniſſe beſeitigt. Sie hat das
naturaliſtiſche Wirtſchaften mit Phraſen und halbwahren Hypotheſen auf dem ganzen
Wiſſensgebiet eingeſchränkt; die Frageſtellungen überall verſchärft, ein gelehrtes ſyſtema-
tiſches Verfahren an die Stelle des Raiſonnierens aus dem Handgelenk geſetzt.

Die Männer, welche ſich um ihre Ausbildung in den ſtatiſtiſchen Ämtern haupt-
ſächlich verdient gemacht haben, ſind: J. G. Hoffmann in Preußen, der auch durch ſeine
realiſtiſchen Schriften (Lehre vom Geld, 1838; Lehre von den Steuern, 1840; Befugnis
zum Gewerbebetrieb, 1841) zu den vorzüglichen Darſtellern konkreter Wirtſchaftsverhält-
niſſe gehört; der Aſtronom und Naturforſcher L. A. J. Quetelet, der die belgiſche
Statiſtik zeitweiſe zur erſten in Europa machte und durch ſein Buch (Sur l’homme,
2 Bde., 1835, deutſch 1838) mit ſeinen freilich ſchiefen, mechaniſch-naturaliſtiſchen Ten-
denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wiſſenſchaftlichen Streit anregte; Moreau
de Jonnès, der von 1833 an die franzöſiſche Statiſtik leitete und eine Reihe wertvoller
ſtatiſtiſch-hiſtoriſcher Werke ſchrieb; Ernſt Engel, der mit einer naturwiſſenſchaftlich-techno-
logiſchen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die ſächſiſche und preußiſche Statiſtik
nach dem Vorbilde der belgiſchen mit ſeltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete;
Georg v. Mayr, der nach dem Vorgang Hermanns die bayriſche Statiſtik für viele Jahre
mit zur angeſehenſten in Deutſchland erhob und allgemeine Werke über Statiſtik ſchrieb
(Geſetzmäßigkeit im Geſellſchaftsleben, 1877; Statiſtik und Geſellſchaftslehre, 2 Bde.,
1894—97), neuerdings ein ſtatiſtiſches Archiv als Zeitſchrift begründete (ſeit 1890);
endlich Guſtav Rümelin, der eine Reihe muſterhafter Arbeiten über die württembergiſche
Statiſtik und über die Theorie der Statiſtik (in ſeinen Reden und Aufſätzen, 3 Bde.)
lieferte. Neuerdings hat ſich hauptſächlich die italieniſche Statiſtik unter Luigi Bodio durch
umfangreiche und tüchtige Leiſtungen ausgezeichnet. Und in Frankreich ſteht jetzt
Erneſt Levaſſeur mit ſeinem großen hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Werke La population française
(3 Bde., 1889 ff.) an der Spitze.

Über das Weſen der Statiſtik als Wiſſenſchaft haben außer den Genannten ſich
in bemerkenswerter Weiſe ausgeſprochen: Karl Knies (Die Statiſtik als ſelbſtändige
Wiſſenſchaft, 1850), G. F. Knapp (Die neueren Anſichten über Moralſtatiſtik, J. f. N.
1. F. 16, 1871; über Quetelet, daſelbſt 18, 1873; Theorie des Bevölkerungswechſels,
1874), W. Lexis (Theorie der Maſſenerſcheinungen in der menſchlichen Geſellſchaft, 1877),
Maurice Block (Traité théorique et pratique de la statistique, 1878, deutſch 1879
von v. Scheel), Auguſt Meitzen (Geſchichte, Theorie und Technik der Statiſtik, 1886),
W. Weſtergaard (Grundzüge der Theorie der Statiſtik, 1890). Die Bevölkerungslehre
haben 1859 Wappäus, die Moralſtatiſtik 1868 von Oettingen, die Verwaltungsſtatiſtik
E. Miſchler (1 Bd.), 1892 in ihren weſentlichen Reſultaten zuſammengefaßt.

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[115/0131] Die Bedeutung der Statiſtik. erlaubt Hypotheſen, beſtätigt oder beſeitigt ſie. Aber nicht mehr. Und dann: es ſind immer nur wenige äußerliche Fragen, die geſtellt und präcis beantwortet werden können. Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochſen feſtſtellen; man kann die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feſtſtellen, zu welchem Preiſe an einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverſtändigen gehandelt wurde, aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preiſe und alle zu ſolchen Preiſen geſchloſſenen Verträge feſtſtellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entſtehungsgeſchichte iſt problematiſch, ſchon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten ſo oft zweifelhaft iſt. Die Statiſtik iſt und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meiſters, des nüchternen, wahrheitſuchenden Gelehrten ein Schlüſſel zu tieferer Erkenntnis. Und doch, was hat ſie ſchon geleiſtet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral- ſtatiſtik erſt geſchaffen; ſie hat dem ganzen deſkriptiven Teil der Staats- und Social- wiſſenſchaften erſt Präciſion und wiſſenſchaftlichen Charakter gegeben, ſie hat die abſtrakten Schlüſſe aus den Quantitätsverhältniſſen in der Wert- und Preislehre auf ihr rechtes Maß zurückgeführt, zahlloſe Irrtümer in der Geld- und Kreditlehre, in der Frage der Getreidepreiſe, der Löhne, des Konſums, der Ernteergebniſſe beſeitigt. Sie hat das naturaliſtiſche Wirtſchaften mit Phraſen und halbwahren Hypotheſen auf dem ganzen Wiſſensgebiet eingeſchränkt; die Frageſtellungen überall verſchärft, ein gelehrtes ſyſtema- tiſches Verfahren an die Stelle des Raiſonnierens aus dem Handgelenk geſetzt. Die Männer, welche ſich um ihre Ausbildung in den ſtatiſtiſchen Ämtern haupt- ſächlich verdient gemacht haben, ſind: J. G. Hoffmann in Preußen, der auch durch ſeine realiſtiſchen Schriften (Lehre vom Geld, 1838; Lehre von den Steuern, 1840; Befugnis zum Gewerbebetrieb, 1841) zu den vorzüglichen Darſtellern konkreter Wirtſchaftsverhält- niſſe gehört; der Aſtronom und Naturforſcher L. A. J. Quetelet, der die belgiſche Statiſtik zeitweiſe zur erſten in Europa machte und durch ſein Buch (Sur l’homme, 2 Bde., 1835, deutſch 1838) mit ſeinen freilich ſchiefen, mechaniſch-naturaliſtiſchen Ten- denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wiſſenſchaftlichen Streit anregte; Moreau de Jonnès, der von 1833 an die franzöſiſche Statiſtik leitete und eine Reihe wertvoller ſtatiſtiſch-hiſtoriſcher Werke ſchrieb; Ernſt Engel, der mit einer naturwiſſenſchaftlich-techno- logiſchen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die ſächſiſche und preußiſche Statiſtik nach dem Vorbilde der belgiſchen mit ſeltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete; Georg v. Mayr, der nach dem Vorgang Hermanns die bayriſche Statiſtik für viele Jahre mit zur angeſehenſten in Deutſchland erhob und allgemeine Werke über Statiſtik ſchrieb (Geſetzmäßigkeit im Geſellſchaftsleben, 1877; Statiſtik und Geſellſchaftslehre, 2 Bde., 1894—97), neuerdings ein ſtatiſtiſches Archiv als Zeitſchrift begründete (ſeit 1890); endlich Guſtav Rümelin, der eine Reihe muſterhafter Arbeiten über die württembergiſche Statiſtik und über die Theorie der Statiſtik (in ſeinen Reden und Aufſätzen, 3 Bde.) lieferte. Neuerdings hat ſich hauptſächlich die italieniſche Statiſtik unter Luigi Bodio durch umfangreiche und tüchtige Leiſtungen ausgezeichnet. Und in Frankreich ſteht jetzt Erneſt Levaſſeur mit ſeinem großen hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Werke La population française (3 Bde., 1889 ff.) an der Spitze. Über das Weſen der Statiſtik als Wiſſenſchaft haben außer den Genannten ſich in bemerkenswerter Weiſe ausgeſprochen: Karl Knies (Die Statiſtik als ſelbſtändige Wiſſenſchaft, 1850), G. F. Knapp (Die neueren Anſichten über Moralſtatiſtik, J. f. N. 1. F. 16, 1871; über Quetelet, daſelbſt 18, 1873; Theorie des Bevölkerungswechſels, 1874), W. Lexis (Theorie der Maſſenerſcheinungen in der menſchlichen Geſellſchaft, 1877), Maurice Block (Traité théorique et pratique de la statistique, 1878, deutſch 1879 von v. Scheel), Auguſt Meitzen (Geſchichte, Theorie und Technik der Statiſtik, 1886), W. Weſtergaard (Grundzüge der Theorie der Statiſtik, 1890). Die Bevölkerungslehre haben 1859 Wappäus, die Moralſtatiſtik 1868 von Oettingen, die Verwaltungsſtatiſtik E. Miſchler (1 Bd.), 1892 in ihren weſentlichen Reſultaten zuſammengefaßt. 8*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/131>, abgerufen am 19.04.2024.