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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Ältere empirische Forschung. Reaktion gegen das Naturrecht.
Geburts-, Sterbe- und Heiratslisten allgemein verständlich machte und in ihrer allgemeinen
staats- und gesellschaftswissenschaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er sich dabei
als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Christ zeigte, der in der
Regelmäßigkeit seiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorsehung sah, so steigerte er
damit den Einfluß seines zeitgemäßen Buches, ohne den wissenschaftlichen Resultaten
wesentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empirischer Forschung
auf dem Gebiete der Staats- und Gesellschaftswissenschaften. Die spätere Ausbildung
der eigentlichen Statistik knüpft an ihn und seine Vorgänger an. --

Unter den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrschenden
Schulen gehörten, die, mehr dem praktischen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit
vollendeter Sachkenntnis schrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet
wurden, können mehrere an Geist und Urteil den großen Systematikern ebenbürtig zur
Seite gestellt werden und müssen vom heutigen methodologischen Standpunkte als ihnen
überlegen, als vorsichtige und zuverlässige Forscher bezeichnet werden. So z. B. Galiani
mit seiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit seinen Arbeiten
(Oeuvres, 1820), in Deutschland J. G. Büsch mit seinen Untersuchungen über Handel
und Geldumlauf (Schriften über Staatswirtschaft und Handlung, 3 Bde., 1780 und 1800;
Theoretisch-praktische Darstellung der Handlung, 2 Bde., 1792, Zusätze dazu, 3 Bde., 1797;
Sämtliche Schriften über Banken und Münzwesen, 1801, etc.) und Struensee mit seinen
Abhandlungen (Über wichtige Gegenstände der Staatswirtschaft, 3 Bde., 1800). Justus
Mösers Protest gegen die flache individualistische Aufklärung, sein historischer Sinn, sein
Verständnis des Volkstümlichen und Praktischen, sowie der älteren wirtschaftlich-ständischen
Einrichtungen giebt seinen Schriften (hauptsächlich 1767--70, Ges. Werke 1842) die Be-
deutung eines starken Gegenstoßes gegen die damals herrschenden Schulmeinungen. Und
die Göttinger kulturhistorische Schule (1770--1840) von Spittler, Beckmann, Meiners,
Heeren, Hüllmann, Hegewisch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweise
echte Smithianer waren, doch insofern eine ähnliche Bedeutung, als sie eine Reihe wirt-
schaftsgeschichtlicher Monographien und Bausteine für eine spätere historische Volks-
wirtschaftslehre lieferten; an sie knüpfte Roscher direkt an.

Ebenso wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich-
individualistischen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer historischen
Staats- und Gesellschaftsauffassung führte, welche auch auf alle volkswirtschaftlichen Er-
scheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zusammenhänge in den Vorder-
grund rückte. Burkes realistischer Sinn und seine Verurteilung der französischen Revolution
machte in England ebenso Eindruck, wie in Frankreich die romantisch-katholisierenden
Schriften J. de Maistres und L. G. de Bonalds; sie hatten auf den französischen
Socialismus und A. Comte, seine positivistische Sociologie, seine Angriffe auf die stehen
gebliebene abstrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie
auf christlicher Grundlage entstand in Frankreich, und sie fand in den Halbsocialisten,
wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans
Gesinnungsgenossen. In Deutschland verherrlichte K. L. von Haller (Restauration der
Staatswissenschaften, 6 Bde., 1816--1834) in seiner realistischen Gewalttheorie mittel-
alterliche Zustände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunst, 3 Bde., 1809; Theol.
Grundlage d. ges. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitischen Theorien Smiths
vom Standpunkt der Nationalität, der sittlich-geistigen Zusammenhänge an; die Volks-
wirtschaft ist ihm ein organisches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch sittliche Wechsel-
wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit
der sittlichen Idee sah, die bürgerliche Gesellschaft dem Staate als das Unvollkommenere
gegenübersetzte, mußte die Extreme der Handels- und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine
und Schellings Staats- und Geschichtauffassung haben einen Teil der deutschen Socialisten
beherrscht, wie die ganze deutsche Geschichtschreibung und Staatswissenschaft beeinflußt.
Am direktesten hängt L. v. Stein mit ihm zusammen. Dieser geht in allen seinen
Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; System der
Staatswissenschaft, 1852--54; Verwaltungslehre, 1868 ff.; Lehrbuch der Finanzwissen-

Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 8

Ältere empiriſche Forſchung. Reaktion gegen das Naturrecht.
Geburts-, Sterbe- und Heiratsliſten allgemein verſtändlich machte und in ihrer allgemeinen
ſtaats- und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er ſich dabei
als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Chriſt zeigte, der in der
Regelmäßigkeit ſeiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorſehung ſah, ſo ſteigerte er
damit den Einfluß ſeines zeitgemäßen Buches, ohne den wiſſenſchaftlichen Reſultaten
weſentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empiriſcher Forſchung
auf dem Gebiete der Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften. Die ſpätere Ausbildung
der eigentlichen Statiſtik knüpft an ihn und ſeine Vorgänger an. —

Unter den Schriftſtellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden
Schulen gehörten, die, mehr dem praktiſchen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit
vollendeter Sachkenntnis ſchrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet
wurden, können mehrere an Geiſt und Urteil den großen Syſtematikern ebenbürtig zur
Seite geſtellt werden und müſſen vom heutigen methodologiſchen Standpunkte als ihnen
überlegen, als vorſichtige und zuverläſſige Forſcher bezeichnet werden. So z. B. Galiani
mit ſeiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit ſeinen Arbeiten
(Oeuvres, 1820), in Deutſchland J. G. Büſch mit ſeinen Unterſuchungen über Handel
und Geldumlauf (Schriften über Staatswirtſchaft und Handlung, 3 Bde., 1780 und 1800;
Theoretiſch-praktiſche Darſtellung der Handlung, 2 Bde., 1792, Zuſätze dazu, 3 Bde., 1797;
Sämtliche Schriften über Banken und Münzweſen, 1801, ꝛc.) und Struenſee mit ſeinen
Abhandlungen (Über wichtige Gegenſtände der Staatswirtſchaft, 3 Bde., 1800). Juſtus
Möſers Proteſt gegen die flache individualiſtiſche Aufklärung, ſein hiſtoriſcher Sinn, ſein
Verſtändnis des Volkstümlichen und Praktiſchen, ſowie der älteren wirtſchaftlich-ſtändiſchen
Einrichtungen giebt ſeinen Schriften (hauptſächlich 1767—70, Geſ. Werke 1842) die Be-
deutung eines ſtarken Gegenſtoßes gegen die damals herrſchenden Schulmeinungen. Und
die Göttinger kulturhiſtoriſche Schule (1770—1840) von Spittler, Beckmann, Meiners,
Heeren, Hüllmann, Hegewiſch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweiſe
echte Smithianer waren, doch inſofern eine ähnliche Bedeutung, als ſie eine Reihe wirt-
ſchaftsgeſchichtlicher Monographien und Bauſteine für eine ſpätere hiſtoriſche Volks-
wirtſchaftslehre lieferten; an ſie knüpfte Roſcher direkt an.

Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich-
individualiſtiſchen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer hiſtoriſchen
Staats- und Geſellſchaftsauffaſſung führte, welche auch auf alle volkswirtſchaftlichen Er-
ſcheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zuſammenhänge in den Vorder-
grund rückte. Burkes realiſtiſcher Sinn und ſeine Verurteilung der franzöſiſchen Revolution
machte in England ebenſo Eindruck, wie in Frankreich die romantiſch-katholiſierenden
Schriften J. de Maiſtres und L. G. de Bonalds; ſie hatten auf den franzöſiſchen
Socialismus und A. Comte, ſeine poſitiviſtiſche Sociologie, ſeine Angriffe auf die ſtehen
gebliebene abſtrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie
auf chriſtlicher Grundlage entſtand in Frankreich, und ſie fand in den Halbſocialiſten,
wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans
Geſinnungsgenoſſen. In Deutſchland verherrlichte K. L. von Haller (Reſtauration der
Staatswiſſenſchaften, 6 Bde., 1816—1834) in ſeiner realiſtiſchen Gewalttheorie mittel-
alterliche Zuſtände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunſt, 3 Bde., 1809; Theol.
Grundlage d. geſ. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitiſchen Theorien Smiths
vom Standpunkt der Nationalität, der ſittlich-geiſtigen Zuſammenhänge an; die Volks-
wirtſchaft iſt ihm ein organiſches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch ſittliche Wechſel-
wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit
der ſittlichen Idee ſah, die bürgerliche Geſellſchaft dem Staate als das Unvollkommenere
gegenüberſetzte, mußte die Extreme der Handels- und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine
und Schellings Staats- und Geſchichtauffaſſung haben einen Teil der deutſchen Socialiſten
beherrſcht, wie die ganze deutſche Geſchichtſchreibung und Staatswiſſenſchaft beeinflußt.
Am direkteſten hängt L. v. Stein mit ihm zuſammen. Dieſer geht in allen ſeinen
Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; Syſtem der
Staatswiſſenſchaft, 1852—54; Verwaltungslehre, 1868 ff.; Lehrbuch der Finanzwiſſen-

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 8
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[113/0129] Ältere empiriſche Forſchung. Reaktion gegen das Naturrecht. Geburts-, Sterbe- und Heiratsliſten allgemein verſtändlich machte und in ihrer allgemeinen ſtaats- und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er ſich dabei als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Chriſt zeigte, der in der Regelmäßigkeit ſeiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorſehung ſah, ſo ſteigerte er damit den Einfluß ſeines zeitgemäßen Buches, ohne den wiſſenſchaftlichen Reſultaten weſentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empiriſcher Forſchung auf dem Gebiete der Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften. Die ſpätere Ausbildung der eigentlichen Statiſtik knüpft an ihn und ſeine Vorgänger an. — Unter den Schriftſtellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden Schulen gehörten, die, mehr dem praktiſchen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit vollendeter Sachkenntnis ſchrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet wurden, können mehrere an Geiſt und Urteil den großen Syſtematikern ebenbürtig zur Seite geſtellt werden und müſſen vom heutigen methodologiſchen Standpunkte als ihnen überlegen, als vorſichtige und zuverläſſige Forſcher bezeichnet werden. So z. B. Galiani mit ſeiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit ſeinen Arbeiten (Oeuvres, 1820), in Deutſchland J. G. Büſch mit ſeinen Unterſuchungen über Handel und Geldumlauf (Schriften über Staatswirtſchaft und Handlung, 3 Bde., 1780 und 1800; Theoretiſch-praktiſche Darſtellung der Handlung, 2 Bde., 1792, Zuſätze dazu, 3 Bde., 1797; Sämtliche Schriften über Banken und Münzweſen, 1801, ꝛc.) und Struenſee mit ſeinen Abhandlungen (Über wichtige Gegenſtände der Staatswirtſchaft, 3 Bde., 1800). Juſtus Möſers Proteſt gegen die flache individualiſtiſche Aufklärung, ſein hiſtoriſcher Sinn, ſein Verſtändnis des Volkstümlichen und Praktiſchen, ſowie der älteren wirtſchaftlich-ſtändiſchen Einrichtungen giebt ſeinen Schriften (hauptſächlich 1767—70, Geſ. Werke 1842) die Be- deutung eines ſtarken Gegenſtoßes gegen die damals herrſchenden Schulmeinungen. Und die Göttinger kulturhiſtoriſche Schule (1770—1840) von Spittler, Beckmann, Meiners, Heeren, Hüllmann, Hegewiſch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweiſe echte Smithianer waren, doch inſofern eine ähnliche Bedeutung, als ſie eine Reihe wirt- ſchaftsgeſchichtlicher Monographien und Bauſteine für eine ſpätere hiſtoriſche Volks- wirtſchaftslehre lieferten; an ſie knüpfte Roſcher direkt an. Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich- individualiſtiſchen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer hiſtoriſchen Staats- und Geſellſchaftsauffaſſung führte, welche auch auf alle volkswirtſchaftlichen Er- ſcheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zuſammenhänge in den Vorder- grund rückte. Burkes realiſtiſcher Sinn und ſeine Verurteilung der franzöſiſchen Revolution machte in England ebenſo Eindruck, wie in Frankreich die romantiſch-katholiſierenden Schriften J. de Maiſtres und L. G. de Bonalds; ſie hatten auf den franzöſiſchen Socialismus und A. Comte, ſeine poſitiviſtiſche Sociologie, ſeine Angriffe auf die ſtehen gebliebene abſtrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie auf chriſtlicher Grundlage entſtand in Frankreich, und ſie fand in den Halbſocialiſten, wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans Geſinnungsgenoſſen. In Deutſchland verherrlichte K. L. von Haller (Reſtauration der Staatswiſſenſchaften, 6 Bde., 1816—1834) in ſeiner realiſtiſchen Gewalttheorie mittel- alterliche Zuſtände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunſt, 3 Bde., 1809; Theol. Grundlage d. geſ. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitiſchen Theorien Smiths vom Standpunkt der Nationalität, der ſittlich-geiſtigen Zuſammenhänge an; die Volks- wirtſchaft iſt ihm ein organiſches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch ſittliche Wechſel- wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit der ſittlichen Idee ſah, die bürgerliche Geſellſchaft dem Staate als das Unvollkommenere gegenüberſetzte, mußte die Extreme der Handels- und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine und Schellings Staats- und Geſchichtauffaſſung haben einen Teil der deutſchen Socialiſten beherrſcht, wie die ganze deutſche Geſchichtſchreibung und Staatswiſſenſchaft beeinflußt. Am direkteſten hängt L. v. Stein mit ihm zuſammen. Dieſer geht in allen ſeinen Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852—54; Verwaltungslehre, 1868 ff.; Lehrbuch der Finanzwiſſen- Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 8

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/129>, abgerufen am 19.04.2024.