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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ausschließlich eines von verschiedenen Merkmalen, so kommt die Gefahr, daß jedem für
seine wissenschaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigste erscheint. Daher
fast stets verschiedene Definitionen möglich sind, die nicht durch ihre Richtigkeit, sondern
durch ihre Zweckmäßigkeit für bestimmte wissenschaftliche Zwecke sich unterscheiden. Die
Gefahr wächst, je allgemeiner und abstrakter die Begriffe sind. Wie die Rechtswissen-
schaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinstitute das vollendetste Begriffssystem
hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat etc. noch in keiner Weise zu allgemein
anerkannten Begriffen kommen konnte, so ist es begreiflich, daß auch die Volkswirtschaft
ein ähnliches Schicksal teilt; jeder fast definiert ihre allgemeinsten Begriffe, wie Wirt-
schaft oder Arbeit, wieder in anderer Weise.

Das hat nun nicht so sehr viel zu sagen für denjenigen, welcher nur Nominal-
definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, diesen treu bleibt, mit
ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche sich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be-
deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Wesen der
Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel
und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorstellung zu Grunde,
die Worte und Begriffe enthielten, gleichsam wie in einem vollendeten Spiegel, das
erschöpfende Abbild der Welt in sich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem
unklaren oder falschen Vorstellungsinhalt, jedenfalls stets auf einem von dem geistigen
Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es sich, daß die genialsten, mit
dem reichsten Vorstellungsinhalt ausgestatteten Menschen beim Gebrauch der Worte, vor
allem der allgemeinen Begriffe, sich am meisten denken können und dementsprechend aus
dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorstellungsinhalt, mehr entwickeln
können. Es ist ferner richtig, daß, je weiter eine Wissenschaft bereits ist, sie desto mehr
die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kausalzusammenhänge in die Definition
ihrer obersten Begriffe hineinverlegen kann; denn diese gehören zu den wesentlichsten
Merkmalen, zu den für das Wort wesentlichsten Vorstellungen. Für die gewöhnlichen
Menschen aber gehören die allgemeinsten Begriffe zu den leersten; und es ist daher die
Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtschaft oder der Arbeit, mit der Aus-
einanderlegung dieses Begriffes das Wesen der Volkswirtschaft gegeben sei, eine außer-
ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet sich überdies häufig mit der
schiefen mystischen Vorstellung eines einheitlichen Begriffsschematismus, der rein logisch
eine Erscheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entstehen lassen könne.
Nur das ist richtig, daß alle Begriffe innerlich zusammenhängen, weil wir jedes Wort
wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich
die der Nachbarbegriffe einschließt.

Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klassifikation der Erscheinungen,
die um so bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zusammenhang stehender
Erscheinungen nach einem bestimmten Gesichtspunkte oder Systeme so einteilen will, daß
die einzelnen Klassen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Gesamtheit planvoll
erschöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erstrebt, um eine Gruppe von
Erscheinungen in unserem Geiste am besten zu ordnen; es handelt sich um einen Kunst-
griff, welchen die Gewalt über unser Wissen mehren soll, um eine höchst wichtige wissen-
schaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genauester Kenntnis alles einzelnen und auf
Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Ursachen und Folgen gut aus-
zuführen ist. Da diese Voraussetzung aber nicht leicht vollständig zutrifft, so ver-
fährt auch die klassifikatorische Begriffsbildung hypothetisch und provisorisch und ist
immer wieder neuer Verbesserungen fähig. Unter den Klassifikationen kann man die
analytischen und genetischen unterscheiden. Wenn A. Wagner die gesamten volkswirt-
schaftlichen Erscheinungen in ein privatwirtschaftliches, gemeinwirtschaftliches und karita-
tives System einteilt, so ist das eine analytische; wenn Hildebrand Natural-, Geld-
und Kreditwirtschaft trennt, wenn ich selbst Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volkswirtschaft
als historische Reihenfolge aufstellte, so sind das genetische, die historische Entwickelung
andeutende Klassifikationen. Die Grenzen bei solcher Reihenbildung werden stets etwas

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem für
ſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher
faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern
durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die
Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen-
ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem
hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein
anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft
ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt-
ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe.

Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal-
definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, dieſen treu bleibt, mit
ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche ſich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be-
deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Weſen der
Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel
und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorſtellung zu Grunde,
die Worte und Begriffe enthielten, gleichſam wie in einem vollendeten Spiegel, das
erſchöpfende Abbild der Welt in ſich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem
unklaren oder falſchen Vorſtellungsinhalt, jedenfalls ſtets auf einem von dem geiſtigen
Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es ſich, daß die genialſten, mit
dem reichſten Vorſtellungsinhalt ausgeſtatteten Menſchen beim Gebrauch der Worte, vor
allem der allgemeinen Begriffe, ſich am meiſten denken können und dementſprechend aus
dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorſtellungsinhalt, mehr entwickeln
können. Es iſt ferner richtig, daß, je weiter eine Wiſſenſchaft bereits iſt, ſie deſto mehr
die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kauſalzuſammenhänge in die Definition
ihrer oberſten Begriffe hineinverlegen kann; denn dieſe gehören zu den weſentlichſten
Merkmalen, zu den für das Wort weſentlichſten Vorſtellungen. Für die gewöhnlichen
Menſchen aber gehören die allgemeinſten Begriffe zu den leerſten; und es iſt daher die
Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtſchaft oder der Arbeit, mit der Aus-
einanderlegung dieſes Begriffes das Weſen der Volkswirtſchaft gegeben ſei, eine außer-
ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet ſich überdies häufig mit der
ſchiefen myſtiſchen Vorſtellung eines einheitlichen Begriffsſchematismus, der rein logiſch
eine Erſcheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entſtehen laſſen könne.
Nur das iſt richtig, daß alle Begriffe innerlich zuſammenhängen, weil wir jedes Wort
wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich
die der Nachbarbegriffe einſchließt.

Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen,
die um ſo bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zuſammenhang ſtehender
Erſcheinungen nach einem beſtimmten Geſichtspunkte oder Syſteme ſo einteilen will, daß
die einzelnen Klaſſen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Geſamtheit planvoll
erſchöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erſtrebt, um eine Gruppe von
Erſcheinungen in unſerem Geiſte am beſten zu ordnen; es handelt ſich um einen Kunſt-
griff, welchen die Gewalt über unſer Wiſſen mehren ſoll, um eine höchſt wichtige wiſſen-
ſchaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genaueſter Kenntnis alles einzelnen und auf
Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Urſachen und Folgen gut aus-
zuführen iſt. Da dieſe Vorausſetzung aber nicht leicht vollſtändig zutrifft, ſo ver-
fährt auch die klaſſifikatoriſche Begriffsbildung hypothetiſch und proviſoriſch und iſt
immer wieder neuer Verbeſſerungen fähig. Unter den Klaſſifikationen kann man die
analytiſchen und genetiſchen unterſcheiden. Wenn A. Wagner die geſamten volkswirt-
ſchaftlichen Erſcheinungen in ein privatwirtſchaftliches, gemeinwirtſchaftliches und karita-
tives Syſtem einteilt, ſo iſt das eine analytiſche; wenn Hildebrand Natural-, Geld-
und Kreditwirtſchaft trennt, wenn ich ſelbſt Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volkswirtſchaft
als hiſtoriſche Reihenfolge aufſtellte, ſo ſind das genetiſche, die hiſtoriſche Entwickelung
andeutende Klaſſifikationen. Die Grenzen bei ſolcher Reihenbildung werden ſtets etwas

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[104/0120] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem für ſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen- ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt- ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe. Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal- definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, dieſen treu bleibt, mit ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche ſich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be- deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Weſen der Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorſtellung zu Grunde, die Worte und Begriffe enthielten, gleichſam wie in einem vollendeten Spiegel, das erſchöpfende Abbild der Welt in ſich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem unklaren oder falſchen Vorſtellungsinhalt, jedenfalls ſtets auf einem von dem geiſtigen Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es ſich, daß die genialſten, mit dem reichſten Vorſtellungsinhalt ausgeſtatteten Menſchen beim Gebrauch der Worte, vor allem der allgemeinen Begriffe, ſich am meiſten denken können und dementſprechend aus dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorſtellungsinhalt, mehr entwickeln können. Es iſt ferner richtig, daß, je weiter eine Wiſſenſchaft bereits iſt, ſie deſto mehr die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kauſalzuſammenhänge in die Definition ihrer oberſten Begriffe hineinverlegen kann; denn dieſe gehören zu den weſentlichſten Merkmalen, zu den für das Wort weſentlichſten Vorſtellungen. Für die gewöhnlichen Menſchen aber gehören die allgemeinſten Begriffe zu den leerſten; und es iſt daher die Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtſchaft oder der Arbeit, mit der Aus- einanderlegung dieſes Begriffes das Weſen der Volkswirtſchaft gegeben ſei, eine außer- ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet ſich überdies häufig mit der ſchiefen myſtiſchen Vorſtellung eines einheitlichen Begriffsſchematismus, der rein logiſch eine Erſcheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entſtehen laſſen könne. Nur das iſt richtig, daß alle Begriffe innerlich zuſammenhängen, weil wir jedes Wort wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich die der Nachbarbegriffe einſchließt. Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen, die um ſo bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zuſammenhang ſtehender Erſcheinungen nach einem beſtimmten Geſichtspunkte oder Syſteme ſo einteilen will, daß die einzelnen Klaſſen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Geſamtheit planvoll erſchöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erſtrebt, um eine Gruppe von Erſcheinungen in unſerem Geiſte am beſten zu ordnen; es handelt ſich um einen Kunſt- griff, welchen die Gewalt über unſer Wiſſen mehren ſoll, um eine höchſt wichtige wiſſen- ſchaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genaueſter Kenntnis alles einzelnen und auf Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Urſachen und Folgen gut aus- zuführen iſt. Da dieſe Vorausſetzung aber nicht leicht vollſtändig zutrifft, ſo ver- fährt auch die klaſſifikatoriſche Begriffsbildung hypothetiſch und proviſoriſch und iſt immer wieder neuer Verbeſſerungen fähig. Unter den Klaſſifikationen kann man die analytiſchen und genetiſchen unterſcheiden. Wenn A. Wagner die geſamten volkswirt- ſchaftlichen Erſcheinungen in ein privatwirtſchaftliches, gemeinwirtſchaftliches und karita- tives Syſtem einteilt, ſo iſt das eine analytiſche; wenn Hildebrand Natural-, Geld- und Kreditwirtſchaft trennt, wenn ich ſelbſt Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volkswirtſchaft als hiſtoriſche Reihenfolge aufſtellte, ſo ſind das genetiſche, die hiſtoriſche Entwickelung andeutende Klaſſifikationen. Die Grenzen bei ſolcher Reihenbildung werden ſtets etwas

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/120>, abgerufen am 20.04.2024.