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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
principes d'economie politique, 1819). Das Mitgefühl für die Leiden der Schwächeren
erwachte in einem Maße, die Presse, die Litteratur, die Öffentlichkeit deckte sie auf wie
niemals früher. Mochte das individualistisch-liberale Naturrecht und die romantisch-
dogmatische Philosophie sich sonst noch so feindlich gegenüberstehen, im Zutrauen zur
eigenen Kraft, durch abstrakte Spekulation die Wahrheit und das Ideal zu finden,
waren beide in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gleich und daher geeignet, zu
kühnen socialistischen Ideen hinüberzuführen. Viele der neuen socialistischen Apostel
waren Autodidakten, Geschäftsleute, Männer ohne eigentlich wissenschaftliche Bildung,
Phantasten und wirre Ideologen, die urteilslos die Bildungselemente der Zeit in sich
aufnahmen; bei allen überwog das Gemüt und die Phantasie den nüchternen Ver-
stand; selbst die philosophisch geschulten unter ihnen sind eigentlich keine gelehrten
Forscher, sondern Männer, die in erster Linie praktisch agitieren, die sociale Revolution
zu Gunsten der unteren Klassen durchführen wollen. Der politisch abstrakte Radikalismus
der Zeit war bei den meisten der Ausgangspunkt; das letzte Ziel ihrer Ideale war
teils und überwiegend die materialistische, andere Ideale und ein jenseitiges Leben ver-
neinende Pflege des individuellen Lebensgenusses, teils die Herstellung eines idealen
Staates, in dem aller Egoismus und Individualismus verschwinde, das Individuum
ganz sich dem Allgemeinen opfere.

Robert Owen (1771--1858; The new moral world, 1820) war der praktische,
William Thompson (Principles of distribution of wealth, 1824) der theoretische Be-
gründer des englischen Socialismus. Ersterem war es als klugem und edlem Fabrikanten
gelungen, für Kindererziehung und Hebung seiner Arbeiter Außerordentliches zu erreichen;
das erfüllte ihn mit weitgehenden Hoffnungen in Bezug auf die Möglichkeit, durch
äußere Bedingungen und Gesellschaftseinrichtungen ganz andere Menschen zu erziehen;
ohne Gewinnsucht, unter Verzicht auf alles Profitmachen im Verkehr sollte gerecht
getauscht, durch Associationen, die von genossenschaftlichem, sympathischem Geist erfüllt
sind, sollte produziert, das Konkurrenzsystem, der Kapitalgewinn beseitigt werden. Sein
irischer Freund Thompson, zugleich Schüler Benthams und Schwärmer für schrankenlose
Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, formulierte dann den theoretischen Gedanken
dahin: der Arbeiter hat allen Tauschwert geschaffen und sollte daher den vollen Arbeitsertrag
erhalten, Kapital- und Grundrente sind Unrecht. Die schiefe Idee, als ob die Hand-
arbeit allein oder hauptsächlich alle Produkte schaffe, die schon bei A. Smith und
Ricardo angesetzt hatte, ging von Thompson dann auf die späteren Socialisten, haupt-
sächlich auch auf Marx und Rodbertus über.

In Frankreich hatten eine ausgezeichnete Erziehung und die großen Ereignisse von
1780--1820 den geistreichen und verschwenderischen Abenteurer Grafen H. St. Simon
(1760--1825; Systeme industriel, 1821; Nouveau christianisme, 1825), welcher sprung-
weise sich Reisen und Kriegsdiensten, Spekulationen und Studien gewidmet hatte, mit
philanthropisch-mystischen und geschichtsphilosophischen Gedanken erfüllt; seine Persönlichkeit
und seine Schriften sammelten eine Schule talentvoller Jünger (1825--31): die zu
schaffende physiko-politische Wissenschaft, welche zugleich die neue Religion der brüder-
lichen Liebe sein sollte, wird die Gesellschaft umgestalten; an Stelle der feudal-kriege-
rischen Elemente und der Juristen, die bisher die Gewalt besaßen, sollen die Industriellen,
wobei an Unternehmer und Arbeiter zugleich gedacht ist, zur Herrschaft gelangen. Die
Ideen wurden dann von Bazard (Doctrine de St. Simon. Exposition, 1828--30)
weiter ausgebildet. Die Kritik der Konkurrenz als eines Krieges aller gegen alle, die
Hebung des besitzlosen Arbeiterstandes als der zahlreichsten Klasse, die Einsetzung des
Staates als Erben des Privatvermögens, die Zuführung der so gewonnenen Mittel
durch ein Staatsbanksystem in Kreditform an alle Fähigen sind die wesentlichen Bestand-
teile des Systems, das sich an eine glückliche Einteilung der Geschichte in aufbauende
und kritisch-zersetzende Perioden anschließt, das praktisch eine Versittlichung der Arbeit
mit erhöhten Genüssen erstrebt und jedem eine Stellung nach seiner Fähigkeit und einen
Lohn nach seinen Werken verschaffen will. Erst Enfantin, der auch die Stellung der
Frauen im Sinne freier Liebe ändern will, hat Grundrente und Kapitalgewinn als

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
principes d’économie politique, 1819). Das Mitgefühl für die Leiden der Schwächeren
erwachte in einem Maße, die Preſſe, die Litteratur, die Öffentlichkeit deckte ſie auf wie
niemals früher. Mochte das individualiſtiſch-liberale Naturrecht und die romantiſch-
dogmatiſche Philoſophie ſich ſonſt noch ſo feindlich gegenüberſtehen, im Zutrauen zur
eigenen Kraft, durch abſtrakte Spekulation die Wahrheit und das Ideal zu finden,
waren beide in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts gleich und daher geeignet, zu
kühnen ſocialiſtiſchen Ideen hinüberzuführen. Viele der neuen ſocialiſtiſchen Apoſtel
waren Autodidakten, Geſchäftsleute, Männer ohne eigentlich wiſſenſchaftliche Bildung,
Phantaſten und wirre Ideologen, die urteilslos die Bildungselemente der Zeit in ſich
aufnahmen; bei allen überwog das Gemüt und die Phantaſie den nüchternen Ver-
ſtand; ſelbſt die philoſophiſch geſchulten unter ihnen ſind eigentlich keine gelehrten
Forſcher, ſondern Männer, die in erſter Linie praktiſch agitieren, die ſociale Revolution
zu Gunſten der unteren Klaſſen durchführen wollen. Der politiſch abſtrakte Radikalismus
der Zeit war bei den meiſten der Ausgangspunkt; das letzte Ziel ihrer Ideale war
teils und überwiegend die materialiſtiſche, andere Ideale und ein jenſeitiges Leben ver-
neinende Pflege des individuellen Lebensgenuſſes, teils die Herſtellung eines idealen
Staates, in dem aller Egoismus und Individualismus verſchwinde, das Individuum
ganz ſich dem Allgemeinen opfere.

Robert Owen (1771—1858; The new moral world, 1820) war der praktiſche,
William Thompſon (Principles of distribution of wealth, 1824) der theoretiſche Be-
gründer des engliſchen Socialismus. Erſterem war es als klugem und edlem Fabrikanten
gelungen, für Kindererziehung und Hebung ſeiner Arbeiter Außerordentliches zu erreichen;
das erfüllte ihn mit weitgehenden Hoffnungen in Bezug auf die Möglichkeit, durch
äußere Bedingungen und Geſellſchaftseinrichtungen ganz andere Menſchen zu erziehen;
ohne Gewinnſucht, unter Verzicht auf alles Profitmachen im Verkehr ſollte gerecht
getauſcht, durch Aſſociationen, die von genoſſenſchaftlichem, ſympathiſchem Geiſt erfüllt
ſind, ſollte produziert, das Konkurrenzſyſtem, der Kapitalgewinn beſeitigt werden. Sein
iriſcher Freund Thompſon, zugleich Schüler Benthams und Schwärmer für ſchrankenloſe
Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, formulierte dann den theoretiſchen Gedanken
dahin: der Arbeiter hat allen Tauſchwert geſchaffen und ſollte daher den vollen Arbeitsertrag
erhalten, Kapital- und Grundrente ſind Unrecht. Die ſchiefe Idee, als ob die Hand-
arbeit allein oder hauptſächlich alle Produkte ſchaffe, die ſchon bei A. Smith und
Ricardo angeſetzt hatte, ging von Thompſon dann auf die ſpäteren Socialiſten, haupt-
ſächlich auch auf Marx und Rodbertus über.

In Frankreich hatten eine ausgezeichnete Erziehung und die großen Ereigniſſe von
1780—1820 den geiſtreichen und verſchwenderiſchen Abenteurer Grafen H. St. Simon
(1760—1825; Système industriel, 1821; Nouveau christianisme, 1825), welcher ſprung-
weiſe ſich Reiſen und Kriegsdienſten, Spekulationen und Studien gewidmet hatte, mit
philanthropiſch-myſtiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Gedanken erfüllt; ſeine Perſönlichkeit
und ſeine Schriften ſammelten eine Schule talentvoller Jünger (1825—31): die zu
ſchaffende phyſiko-politiſche Wiſſenſchaft, welche zugleich die neue Religion der brüder-
lichen Liebe ſein ſollte, wird die Geſellſchaft umgeſtalten; an Stelle der feudal-kriege-
riſchen Elemente und der Juriſten, die bisher die Gewalt beſaßen, ſollen die Induſtriellen,
wobei an Unternehmer und Arbeiter zugleich gedacht iſt, zur Herrſchaft gelangen. Die
Ideen wurden dann von Bazard (Doctrine de St. Simon. Exposition, 1828—30)
weiter ausgebildet. Die Kritik der Konkurrenz als eines Krieges aller gegen alle, die
Hebung des beſitzloſen Arbeiterſtandes als der zahlreichſten Klaſſe, die Einſetzung des
Staates als Erben des Privatvermögens, die Zuführung der ſo gewonnenen Mittel
durch ein Staatsbankſyſtem in Kreditform an alle Fähigen ſind die weſentlichen Beſtand-
teile des Syſtems, das ſich an eine glückliche Einteilung der Geſchichte in aufbauende
und kritiſch-zerſetzende Perioden anſchließt, das praktiſch eine Verſittlichung der Arbeit
mit erhöhten Genüſſen erſtrebt und jedem eine Stellung nach ſeiner Fähigkeit und einen
Lohn nach ſeinen Werken verſchaffen will. Erſt Enfantin, der auch die Stellung der
Frauen im Sinne freier Liebe ändern will, hat Grundrente und Kapitalgewinn als

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[94/0110] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. principes d’économie politique, 1819). Das Mitgefühl für die Leiden der Schwächeren erwachte in einem Maße, die Preſſe, die Litteratur, die Öffentlichkeit deckte ſie auf wie niemals früher. Mochte das individualiſtiſch-liberale Naturrecht und die romantiſch- dogmatiſche Philoſophie ſich ſonſt noch ſo feindlich gegenüberſtehen, im Zutrauen zur eigenen Kraft, durch abſtrakte Spekulation die Wahrheit und das Ideal zu finden, waren beide in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts gleich und daher geeignet, zu kühnen ſocialiſtiſchen Ideen hinüberzuführen. Viele der neuen ſocialiſtiſchen Apoſtel waren Autodidakten, Geſchäftsleute, Männer ohne eigentlich wiſſenſchaftliche Bildung, Phantaſten und wirre Ideologen, die urteilslos die Bildungselemente der Zeit in ſich aufnahmen; bei allen überwog das Gemüt und die Phantaſie den nüchternen Ver- ſtand; ſelbſt die philoſophiſch geſchulten unter ihnen ſind eigentlich keine gelehrten Forſcher, ſondern Männer, die in erſter Linie praktiſch agitieren, die ſociale Revolution zu Gunſten der unteren Klaſſen durchführen wollen. Der politiſch abſtrakte Radikalismus der Zeit war bei den meiſten der Ausgangspunkt; das letzte Ziel ihrer Ideale war teils und überwiegend die materialiſtiſche, andere Ideale und ein jenſeitiges Leben ver- neinende Pflege des individuellen Lebensgenuſſes, teils die Herſtellung eines idealen Staates, in dem aller Egoismus und Individualismus verſchwinde, das Individuum ganz ſich dem Allgemeinen opfere. Robert Owen (1771—1858; The new moral world, 1820) war der praktiſche, William Thompſon (Principles of distribution of wealth, 1824) der theoretiſche Be- gründer des engliſchen Socialismus. Erſterem war es als klugem und edlem Fabrikanten gelungen, für Kindererziehung und Hebung ſeiner Arbeiter Außerordentliches zu erreichen; das erfüllte ihn mit weitgehenden Hoffnungen in Bezug auf die Möglichkeit, durch äußere Bedingungen und Geſellſchaftseinrichtungen ganz andere Menſchen zu erziehen; ohne Gewinnſucht, unter Verzicht auf alles Profitmachen im Verkehr ſollte gerecht getauſcht, durch Aſſociationen, die von genoſſenſchaftlichem, ſympathiſchem Geiſt erfüllt ſind, ſollte produziert, das Konkurrenzſyſtem, der Kapitalgewinn beſeitigt werden. Sein iriſcher Freund Thompſon, zugleich Schüler Benthams und Schwärmer für ſchrankenloſe Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, formulierte dann den theoretiſchen Gedanken dahin: der Arbeiter hat allen Tauſchwert geſchaffen und ſollte daher den vollen Arbeitsertrag erhalten, Kapital- und Grundrente ſind Unrecht. Die ſchiefe Idee, als ob die Hand- arbeit allein oder hauptſächlich alle Produkte ſchaffe, die ſchon bei A. Smith und Ricardo angeſetzt hatte, ging von Thompſon dann auf die ſpäteren Socialiſten, haupt- ſächlich auch auf Marx und Rodbertus über. In Frankreich hatten eine ausgezeichnete Erziehung und die großen Ereigniſſe von 1780—1820 den geiſtreichen und verſchwenderiſchen Abenteurer Grafen H. St. Simon (1760—1825; Système industriel, 1821; Nouveau christianisme, 1825), welcher ſprung- weiſe ſich Reiſen und Kriegsdienſten, Spekulationen und Studien gewidmet hatte, mit philanthropiſch-myſtiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Gedanken erfüllt; ſeine Perſönlichkeit und ſeine Schriften ſammelten eine Schule talentvoller Jünger (1825—31): die zu ſchaffende phyſiko-politiſche Wiſſenſchaft, welche zugleich die neue Religion der brüder- lichen Liebe ſein ſollte, wird die Geſellſchaft umgeſtalten; an Stelle der feudal-kriege- riſchen Elemente und der Juriſten, die bisher die Gewalt beſaßen, ſollen die Induſtriellen, wobei an Unternehmer und Arbeiter zugleich gedacht iſt, zur Herrſchaft gelangen. Die Ideen wurden dann von Bazard (Doctrine de St. Simon. Exposition, 1828—30) weiter ausgebildet. Die Kritik der Konkurrenz als eines Krieges aller gegen alle, die Hebung des beſitzloſen Arbeiterſtandes als der zahlreichſten Klaſſe, die Einſetzung des Staates als Erben des Privatvermögens, die Zuführung der ſo gewonnenen Mittel durch ein Staatsbankſyſtem in Kreditform an alle Fähigen ſind die weſentlichen Beſtand- teile des Syſtems, das ſich an eine glückliche Einteilung der Geſchichte in aufbauende und kritiſch-zerſetzende Perioden anſchließt, das praktiſch eine Verſittlichung der Arbeit mit erhöhten Genüſſen erſtrebt und jedem eine Stellung nach ſeiner Fähigkeit und einen Lohn nach ſeinen Werken verſchaffen will. Erſt Enfantin, der auch die Stellung der Frauen im Sinne freier Liebe ändern will, hat Grundrente und Kapitalgewinn als

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/110>, abgerufen am 19.04.2024.