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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
vollen Frau socialistischen Anschauungen näherte, in seinem weitverbreiteten Hauptwerke
sind das Gerüst und die wesentlichen Gedanken die alten an die Aufklärung, an Bentham
und Ricardo angelehnten. Die Nachtreter Smiths, Ricardos und Mills, die Macculloch,
Senior, Fawcett, Bagehot, Cairnes, Sidgwick haben keine eigentümliche Bedeutung;
aber ihr stets wiederholter Satz, daß die Nationalökonomie eine fertige Wissenschaft sei,
fand bis vor kurzer Zeit in England in der Masse der Bevölkerung Glauben. Die
freihändlerische Agitation von 1840--80 stützte sich recht eigentlich auf ihre Theorien,
und auch die englische Arbeiter- und Gewerkvereinsbewegung blieb in den entscheidenden
Jahren 1860--80 im Fahrwasser derselben. Immerhin bedeutete es innerlich bereits
den Niedergang der individualistischen Naturlehre der Volkswirtschaft, daß sie mit
Cobden, Bright und den im Cobdenklub sich sammelnden Freihändlern ganz in den
Dienst einer Klassen- und Parteiagitation trat; die Theorie erhielt nach dem Sitze dieser
Agitation den Spottnamen der Manchesterschule.

In Frankreich war die liberal freihändlerische Theorie zwar in akademischen und
Gelehrtenkreisen vorherrschend, aber in der Praxis ohne allzu großen Einfluß, bis man
sie als Hülfsmittel gegen den Socialismus glaubte gebrauchen zu können. F. Bastiat
(Harmonies economiques, 1850, deutsch 1850) wurde der schwärmerische Apostel der
volkswirtschaftlichen Harmonie, des radikal freien Verkehrs, der Verteidiger des
Privateigentums, das er ausschließlich auf die Arbeit zurückführte. Napoleon III. näherte
sich der Freihandelslehre. Und in fast ganz Mitteleuropa, wo man 1850--75 beinahe
überall die Schutzzölle ermäßigte, die Gewerbefreiheit einführte, den bürgerlichen Mittel-
klassen das Übergewicht im Staate zu verschaffen suchte, erlebten die popularisierten
Smith-Mill-Bastiatschen Ideen eine praktische Nachblüte, die in auffallendem Miß-
verhältnisse zum dürren Gedankengehalt der Epigonen stand. Geschickte Agitatoren, wie
in Deutschland die beiden Ausländer Prince Smith und Faucher, traten in den Dienst der
dem englischen Industrieexport so förderlichen Ideen. Der volkswirtschaftliche Kongreß
wurde 1857 als Centrum dieser Agitation in Deutschland gegründet und hat, von
liberalen Journalisten, Gegnern der Bureaukratie und Philanthropen mehr als von
Männern der Wissenschaft geleitet, bis in die 70er Jahre in diesem Sinne gewirkt.
In Italien und Oesterreich, in Belgien und Skandinavien kam die liberale Lehre in
den Ruf, die Wissenschaft als solche zu repräsentieren. In Deutschland zeigte sie ihre
Kraft noch bis auf unsere Tage dadurch, daß auch noch Lehrbücher, die wesentlich von
einem anderen Geiste erfüllt sind, wie z. B. das Roschersche (1854--94) und das
Sammelwerk von Schönberg, das Handbuch der politischen Ökonomie (1882), doch in
ihrem Aufbau und ihrer Systematik an dem von Rau geschaffenen Rahmen festhielten.

Man bezeichnet die Schule teilweise heute noch als die klassische. Nicht mit
Unrecht insofern, als sie eine Reihe formvollendeter Bücher geschaffen, in denen große
wirkliche Fortschritte der Wissenschaft sich verbinden mit der glücklichsten Formulierung
berechtigter, wenn auch einseitiger Zeitideale. Aber es war ein kindlicher Glaube, die
Theorien Quesnays, Turgots, Smiths, Ricardos und J. St. Mills für mehr zu halten,
als für erste vorläufige Versuche einer systematischen Wissenschaft. Die ganze Theorie
der natürlichen Volkswirtschaft ruht auf einer unvollkommenen Analyse des Menschen
und auf einer einseitigen, optimistischen, naturrechtlichen Welt- und Gesellschafts-
anschauung, die auf Spikur und die Stoa, auf die rationalistische Aufklärungsphilosophie
zurückgeht, die kindlich an die Identität der Gesellschafts- und Individualinteressen
glaubt, unhistorisch die Ursachen des englischen Reichtums verkennt, sie bloß im Erwerbs-
triebe anstatt in den englischen Institutionen sieht. Die Volkswirtschaft wird nur als eine
äußerliche Summierung der Privatwirtschaften, das volkswirtschaftliche Getriebe als ein
mechanisches Spiel von Güterquantitäten aufgefaßt. Aus bloß natürlich-technischen
Betrachtungen und aus Wert- und Preisuntersuchungen soll die Struktur der Volks-
wirtschaft erklärt werden. Es war gewiß ein Fortschritt, daß man im Anschluß an die
socialen Zustände des damaligen Englands die Klassen der Grundeigentümer, Kapita-
listen (Unternehmer) und Arbeiter in ihren wirtschaftlichen Beziehungen untersuchte;
aber man mußte bei diesem anderwärts nicht der Wirklichkeit entsprechenden Schema

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
vollen Frau ſocialiſtiſchen Anſchauungen näherte, in ſeinem weitverbreiteten Hauptwerke
ſind das Gerüſt und die weſentlichen Gedanken die alten an die Aufklärung, an Bentham
und Ricardo angelehnten. Die Nachtreter Smiths, Ricardos und Mills, die Macculloch,
Senior, Fawcett, Bagehot, Cairnes, Sidgwick haben keine eigentümliche Bedeutung;
aber ihr ſtets wiederholter Satz, daß die Nationalökonomie eine fertige Wiſſenſchaft ſei,
fand bis vor kurzer Zeit in England in der Maſſe der Bevölkerung Glauben. Die
freihändleriſche Agitation von 1840—80 ſtützte ſich recht eigentlich auf ihre Theorien,
und auch die engliſche Arbeiter- und Gewerkvereinsbewegung blieb in den entſcheidenden
Jahren 1860—80 im Fahrwaſſer derſelben. Immerhin bedeutete es innerlich bereits
den Niedergang der individualiſtiſchen Naturlehre der Volkswirtſchaft, daß ſie mit
Cobden, Bright und den im Cobdenklub ſich ſammelnden Freihändlern ganz in den
Dienſt einer Klaſſen- und Parteiagitation trat; die Theorie erhielt nach dem Sitze dieſer
Agitation den Spottnamen der Mancheſterſchule.

In Frankreich war die liberal freihändleriſche Theorie zwar in akademiſchen und
Gelehrtenkreiſen vorherrſchend, aber in der Praxis ohne allzu großen Einfluß, bis man
ſie als Hülfsmittel gegen den Socialismus glaubte gebrauchen zu können. F. Baſtiat
(Harmonies économiques, 1850, deutſch 1850) wurde der ſchwärmeriſche Apoſtel der
volkswirtſchaftlichen Harmonie, des radikal freien Verkehrs, der Verteidiger des
Privateigentums, das er ausſchließlich auf die Arbeit zurückführte. Napoleon III. näherte
ſich der Freihandelslehre. Und in faſt ganz Mitteleuropa, wo man 1850—75 beinahe
überall die Schutzzölle ermäßigte, die Gewerbefreiheit einführte, den bürgerlichen Mittel-
klaſſen das Übergewicht im Staate zu verſchaffen ſuchte, erlebten die populariſierten
Smith-Mill-Baſtiatſchen Ideen eine praktiſche Nachblüte, die in auffallendem Miß-
verhältniſſe zum dürren Gedankengehalt der Epigonen ſtand. Geſchickte Agitatoren, wie
in Deutſchland die beiden Ausländer Prince Smith und Faucher, traten in den Dienſt der
dem engliſchen Induſtrieexport ſo förderlichen Ideen. Der volkswirtſchaftliche Kongreß
wurde 1857 als Centrum dieſer Agitation in Deutſchland gegründet und hat, von
liberalen Journaliſten, Gegnern der Bureaukratie und Philanthropen mehr als von
Männern der Wiſſenſchaft geleitet, bis in die 70er Jahre in dieſem Sinne gewirkt.
In Italien und Oeſterreich, in Belgien und Skandinavien kam die liberale Lehre in
den Ruf, die Wiſſenſchaft als ſolche zu repräſentieren. In Deutſchland zeigte ſie ihre
Kraft noch bis auf unſere Tage dadurch, daß auch noch Lehrbücher, die weſentlich von
einem anderen Geiſte erfüllt ſind, wie z. B. das Roſcherſche (1854—94) und das
Sammelwerk von Schönberg, das Handbuch der politiſchen Ökonomie (1882), doch in
ihrem Aufbau und ihrer Syſtematik an dem von Rau geſchaffenen Rahmen feſthielten.

Man bezeichnet die Schule teilweiſe heute noch als die klaſſiſche. Nicht mit
Unrecht inſofern, als ſie eine Reihe formvollendeter Bücher geſchaffen, in denen große
wirkliche Fortſchritte der Wiſſenſchaft ſich verbinden mit der glücklichſten Formulierung
berechtigter, wenn auch einſeitiger Zeitideale. Aber es war ein kindlicher Glaube, die
Theorien Quesnays, Turgots, Smiths, Ricardos und J. St. Mills für mehr zu halten,
als für erſte vorläufige Verſuche einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft. Die ganze Theorie
der natürlichen Volkswirtſchaft ruht auf einer unvollkommenen Analyſe des Menſchen
und auf einer einſeitigen, optimiſtiſchen, naturrechtlichen Welt- und Geſellſchafts-
anſchauung, die auf Spikur und die Stoa, auf die rationaliſtiſche Aufklärungsphiloſophie
zurückgeht, die kindlich an die Identität der Geſellſchafts- und Individualintereſſen
glaubt, unhiſtoriſch die Urſachen des engliſchen Reichtums verkennt, ſie bloß im Erwerbs-
triebe anſtatt in den engliſchen Inſtitutionen ſieht. Die Volkswirtſchaft wird nur als eine
äußerliche Summierung der Privatwirtſchaften, das volkswirtſchaftliche Getriebe als ein
mechaniſches Spiel von Güterquantitäten aufgefaßt. Aus bloß natürlich-techniſchen
Betrachtungen und aus Wert- und Preisunterſuchungen ſoll die Struktur der Volks-
wirtſchaft erklärt werden. Es war gewiß ein Fortſchritt, daß man im Anſchluß an die
ſocialen Zuſtände des damaligen Englands die Klaſſen der Grundeigentümer, Kapita-
liſten (Unternehmer) und Arbeiter in ihren wirtſchaftlichen Beziehungen unterſuchte;
aber man mußte bei dieſem anderwärts nicht der Wirklichkeit entſprechenden Schema

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[92/0108] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. vollen Frau ſocialiſtiſchen Anſchauungen näherte, in ſeinem weitverbreiteten Hauptwerke ſind das Gerüſt und die weſentlichen Gedanken die alten an die Aufklärung, an Bentham und Ricardo angelehnten. Die Nachtreter Smiths, Ricardos und Mills, die Macculloch, Senior, Fawcett, Bagehot, Cairnes, Sidgwick haben keine eigentümliche Bedeutung; aber ihr ſtets wiederholter Satz, daß die Nationalökonomie eine fertige Wiſſenſchaft ſei, fand bis vor kurzer Zeit in England in der Maſſe der Bevölkerung Glauben. Die freihändleriſche Agitation von 1840—80 ſtützte ſich recht eigentlich auf ihre Theorien, und auch die engliſche Arbeiter- und Gewerkvereinsbewegung blieb in den entſcheidenden Jahren 1860—80 im Fahrwaſſer derſelben. Immerhin bedeutete es innerlich bereits den Niedergang der individualiſtiſchen Naturlehre der Volkswirtſchaft, daß ſie mit Cobden, Bright und den im Cobdenklub ſich ſammelnden Freihändlern ganz in den Dienſt einer Klaſſen- und Parteiagitation trat; die Theorie erhielt nach dem Sitze dieſer Agitation den Spottnamen der Mancheſterſchule. In Frankreich war die liberal freihändleriſche Theorie zwar in akademiſchen und Gelehrtenkreiſen vorherrſchend, aber in der Praxis ohne allzu großen Einfluß, bis man ſie als Hülfsmittel gegen den Socialismus glaubte gebrauchen zu können. F. Baſtiat (Harmonies économiques, 1850, deutſch 1850) wurde der ſchwärmeriſche Apoſtel der volkswirtſchaftlichen Harmonie, des radikal freien Verkehrs, der Verteidiger des Privateigentums, das er ausſchließlich auf die Arbeit zurückführte. Napoleon III. näherte ſich der Freihandelslehre. Und in faſt ganz Mitteleuropa, wo man 1850—75 beinahe überall die Schutzzölle ermäßigte, die Gewerbefreiheit einführte, den bürgerlichen Mittel- klaſſen das Übergewicht im Staate zu verſchaffen ſuchte, erlebten die populariſierten Smith-Mill-Baſtiatſchen Ideen eine praktiſche Nachblüte, die in auffallendem Miß- verhältniſſe zum dürren Gedankengehalt der Epigonen ſtand. Geſchickte Agitatoren, wie in Deutſchland die beiden Ausländer Prince Smith und Faucher, traten in den Dienſt der dem engliſchen Induſtrieexport ſo förderlichen Ideen. Der volkswirtſchaftliche Kongreß wurde 1857 als Centrum dieſer Agitation in Deutſchland gegründet und hat, von liberalen Journaliſten, Gegnern der Bureaukratie und Philanthropen mehr als von Männern der Wiſſenſchaft geleitet, bis in die 70er Jahre in dieſem Sinne gewirkt. In Italien und Oeſterreich, in Belgien und Skandinavien kam die liberale Lehre in den Ruf, die Wiſſenſchaft als ſolche zu repräſentieren. In Deutſchland zeigte ſie ihre Kraft noch bis auf unſere Tage dadurch, daß auch noch Lehrbücher, die weſentlich von einem anderen Geiſte erfüllt ſind, wie z. B. das Roſcherſche (1854—94) und das Sammelwerk von Schönberg, das Handbuch der politiſchen Ökonomie (1882), doch in ihrem Aufbau und ihrer Syſtematik an dem von Rau geſchaffenen Rahmen feſthielten. Man bezeichnet die Schule teilweiſe heute noch als die klaſſiſche. Nicht mit Unrecht inſofern, als ſie eine Reihe formvollendeter Bücher geſchaffen, in denen große wirkliche Fortſchritte der Wiſſenſchaft ſich verbinden mit der glücklichſten Formulierung berechtigter, wenn auch einſeitiger Zeitideale. Aber es war ein kindlicher Glaube, die Theorien Quesnays, Turgots, Smiths, Ricardos und J. St. Mills für mehr zu halten, als für erſte vorläufige Verſuche einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft. Die ganze Theorie der natürlichen Volkswirtſchaft ruht auf einer unvollkommenen Analyſe des Menſchen und auf einer einſeitigen, optimiſtiſchen, naturrechtlichen Welt- und Geſellſchafts- anſchauung, die auf Spikur und die Stoa, auf die rationaliſtiſche Aufklärungsphiloſophie zurückgeht, die kindlich an die Identität der Geſellſchafts- und Individualintereſſen glaubt, unhiſtoriſch die Urſachen des engliſchen Reichtums verkennt, ſie bloß im Erwerbs- triebe anſtatt in den engliſchen Inſtitutionen ſieht. Die Volkswirtſchaft wird nur als eine äußerliche Summierung der Privatwirtſchaften, das volkswirtſchaftliche Getriebe als ein mechaniſches Spiel von Güterquantitäten aufgefaßt. Aus bloß natürlich-techniſchen Betrachtungen und aus Wert- und Preisunterſuchungen ſoll die Struktur der Volks- wirtſchaft erklärt werden. Es war gewiß ein Fortſchritt, daß man im Anſchluß an die ſocialen Zuſtände des damaligen Englands die Klaſſen der Grundeigentümer, Kapita- liſten (Unternehmer) und Arbeiter in ihren wirtſchaftlichen Beziehungen unterſuchte; aber man mußte bei dieſem anderwärts nicht der Wirklichkeit entſprechenden Schema

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/108>, abgerufen am 28.03.2024.