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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Adam Smith.
Handels-, Zoll- und Zunfteinrichtungen, die falsche Begünstigung der Städte aufzuheben,
dann kommt die Gesellschaft zur Natur, zur Gerechtigkeit, zur Gleichheit zurück. Dabei
ist sehr vieles fein und wahrheitsgetreu beobachtet; in einschmeichelnder, harmloser Weise
werden die radikalen Gedanken vorgetragen; sympathisch ist von den Arbeitern und ihrer
Hebung die Rede, während der Egoismus der Unternehmer als Ursache künstlicher Gesetz-
gebung gebrandmarkt wird. Die geschickte Voranstellung der Arbeit und Arbeitsteilung,
die gleichmäßige Betonung, wie überall die Arbeit den Reichtum erzeuge, aller Tausch
ein Tausch von Arbeitsprodukten sei, giebt den Ausführungen über Produktion, Verkehr
und Einkommensverteilung eine geschlossene Einheit, die gewinnen und bestechen mußte.

Daher die ungeheure Wirkung des Buches trotz seiner Einseitigkeit. Es gab den
liberalen Forderungen des wirtschaftlichen Individualismus den vollendetsten Ausdruck;
es sprach berechtigte Forderungen der praktischen Reform zur rechten Zeit aus. Es
schloß sich den großen philosophisch-moralischen Idealen des Jahrhunderts rückhaltlos
an und trug doch den Stempel nüchterner Wissenschaft und empirischer Forschung an
sich. Mochte es also fälschlich an die natürliche Gleichheit der Menschen glauben, die
bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Staaten und den socialen
Klassen nicht gehörig würdigen, optimistisch das Individuum und seine egoistischen Triebe
überschätzen, die Bedeutung des Staates und der staatlichen Einrichtungen verkennen,
mochte der Rationalismus des Aufklärungseiferers in ihm immer wieder Herr werden
über den historischen und psychologischen Forscher, mochte das ganze Beobachtungsfeld
ein recht beschränktes sein, das Buch war doch fähig, für hundert Jahre zur sammelnden
Fahne der Staatsmänner und der Klassen zu werden, welche die bürgerlich-liberale
Tauschgesellschaft mit Freiheit der Person und des Eigentums in Westeuropa voll durch-
führen wollten.

Den verbreitetsten Lehrbüchern und Schriften der folgenden Generationen diente
A. Smith als Vorbild. In Frankreich haben J. B. Say (Traite d'econ omie politique,
1803 etc.)
und Charles Dunoyer (Liberte du travail, 1845), in Deutschland Ch. J. Kraus
(Staatswirtschaft, 1808--11), Eusebius Lotz (Revision der Grundbegriffe der National-
wirtschaftslehre, 1811--14), Karl H. Rau (Lehrbuch der politischen Ökonomie, 1826--37,
neue Auflagen bis 1868/69), F. B. W. Hermann (Staatswirtschaftliche Untersuchungen,
1832 und 1870) die Smithschen Gedanken popularisiert und systematisiert, teilweise sie
schärfer gefaßt, teilweise sie mit anderen Gedankenrichtungen, wie hauptsächlich Rau mit
den realistischen Überlieferungen der deutschen Kameralistik, geschickt zu verbinden gewußt.
In England hat D. Ricardo (Principles of political economy and taxation, 1817,
deutsch 1837) den Versuch gemacht, aus der Smithschen, immerhin weitausgreifenden
Darstellung das, was ihm als Bankier und Geldmann geläufig war, auszuscheiden und
daraus sowie aus den Erfahrungen seines Geschäftslebens eine Einkommens-, Geld- und
Wertlehre zu machen, die in der Form allgemeiner Begriffe und abstrakter Lehrsätze
mit einer gewissen Schärfe operierte, teils zu einer logischeren Formulierung der Smith-
schen Gedanken, teils zu schiefen und falschen, nicht mehr auf empirischer Grundlage
ruhenden Schlüssen führte. Nach ihm hat sein Schüler und jüngerer Freund, John
Stuart Mill, die englische Nationalökonomie bis in die Gegenwart beherrscht; auch er
bewegt sich trotz seiner universellen Bildung in den Geleisen des abstrakt radikalen
individualistischen Naturrechts des 18. Jahrhunderts; er ist der gläubige Schüler der
Benthamschen Rützlichkeitsmoral, die zwar das größtmögliche Glück der größten Zahl
von Menschen auf ihre Fahne schreibt und um eine empirisch-psychologische Moral-
forschung wesentliche Verdienste hat, aber zu einer tieferen Auffassung von Staat,
Gesellschaft und Volkswirtschaft nicht kam. Mill, der mit den Principles of political eco-
nomy with some of their applications to social philosophy
(1847, deutsch 1852) gleichsam
eine neue Auflage Smiths geben will, führt, wie dieser, eine abstrakte Theorie selbst-
süchtiger, tauschender Individuen vor, in die er einzelne historische, rechtsgeschichtliche
und socialpolitische Kapitel unvermittelt einschiebt; besonders im höheren Alter war ihm
die Unfähigkeit seiner Grundanschauungen, die socialen Probleme einer neuen Zeit zu
lösen, wohl klar geworden. Aber so sehr er sich nun unter dem Einflusse seiner gefühl-

Adam Smith.
Handels-, Zoll- und Zunfteinrichtungen, die falſche Begünſtigung der Städte aufzuheben,
dann kommt die Geſellſchaft zur Natur, zur Gerechtigkeit, zur Gleichheit zurück. Dabei
iſt ſehr vieles fein und wahrheitsgetreu beobachtet; in einſchmeichelnder, harmloſer Weiſe
werden die radikalen Gedanken vorgetragen; ſympathiſch iſt von den Arbeitern und ihrer
Hebung die Rede, während der Egoismus der Unternehmer als Urſache künſtlicher Geſetz-
gebung gebrandmarkt wird. Die geſchickte Voranſtellung der Arbeit und Arbeitsteilung,
die gleichmäßige Betonung, wie überall die Arbeit den Reichtum erzeuge, aller Tauſch
ein Tauſch von Arbeitsprodukten ſei, giebt den Ausführungen über Produktion, Verkehr
und Einkommensverteilung eine geſchloſſene Einheit, die gewinnen und beſtechen mußte.

Daher die ungeheure Wirkung des Buches trotz ſeiner Einſeitigkeit. Es gab den
liberalen Forderungen des wirtſchaftlichen Individualismus den vollendetſten Ausdruck;
es ſprach berechtigte Forderungen der praktiſchen Reform zur rechten Zeit aus. Es
ſchloß ſich den großen philoſophiſch-moraliſchen Idealen des Jahrhunderts rückhaltlos
an und trug doch den Stempel nüchterner Wiſſenſchaft und empiriſcher Forſchung an
ſich. Mochte es alſo fälſchlich an die natürliche Gleichheit der Menſchen glauben, die
beſtehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältniſſe zwiſchen den Staaten und den ſocialen
Klaſſen nicht gehörig würdigen, optimiſtiſch das Individuum und ſeine egoiſtiſchen Triebe
überſchätzen, die Bedeutung des Staates und der ſtaatlichen Einrichtungen verkennen,
mochte der Rationalismus des Aufklärungseiferers in ihm immer wieder Herr werden
über den hiſtoriſchen und pſychologiſchen Forſcher, mochte das ganze Beobachtungsfeld
ein recht beſchränktes ſein, das Buch war doch fähig, für hundert Jahre zur ſammelnden
Fahne der Staatsmänner und der Klaſſen zu werden, welche die bürgerlich-liberale
Tauſchgeſellſchaft mit Freiheit der Perſon und des Eigentums in Weſteuropa voll durch-
führen wollten.

Den verbreitetſten Lehrbüchern und Schriften der folgenden Generationen diente
A. Smith als Vorbild. In Frankreich haben J. B. Say (Traité d’écon omie politique,
1803 ꝛc.)
und Charles Dunoyer (Liberté du travail, 1845), in Deutſchland Ch. J. Kraus
(Staatswirtſchaft, 1808—11), Euſebius Lotz (Reviſion der Grundbegriffe der National-
wirtſchaftslehre, 1811—14), Karl H. Rau (Lehrbuch der politiſchen Ökonomie, 1826—37,
neue Auflagen bis 1868/69), F. B. W. Hermann (Staatswirtſchaftliche Unterſuchungen,
1832 und 1870) die Smithſchen Gedanken populariſiert und ſyſtematiſiert, teilweiſe ſie
ſchärfer gefaßt, teilweiſe ſie mit anderen Gedankenrichtungen, wie hauptſächlich Rau mit
den realiſtiſchen Überlieferungen der deutſchen Kameraliſtik, geſchickt zu verbinden gewußt.
In England hat D. Ricardo (Principles of political economy and taxation, 1817,
deutſch 1837) den Verſuch gemacht, aus der Smithſchen, immerhin weitausgreifenden
Darſtellung das, was ihm als Bankier und Geldmann geläufig war, auszuſcheiden und
daraus ſowie aus den Erfahrungen ſeines Geſchäftslebens eine Einkommens-, Geld- und
Wertlehre zu machen, die in der Form allgemeiner Begriffe und abſtrakter Lehrſätze
mit einer gewiſſen Schärfe operierte, teils zu einer logiſcheren Formulierung der Smith-
ſchen Gedanken, teils zu ſchiefen und falſchen, nicht mehr auf empiriſcher Grundlage
ruhenden Schlüſſen führte. Nach ihm hat ſein Schüler und jüngerer Freund, John
Stuart Mill, die engliſche Nationalökonomie bis in die Gegenwart beherrſcht; auch er
bewegt ſich trotz ſeiner univerſellen Bildung in den Geleiſen des abſtrakt radikalen
individualiſtiſchen Naturrechts des 18. Jahrhunderts; er iſt der gläubige Schüler der
Benthamſchen Rützlichkeitsmoral, die zwar das größtmögliche Glück der größten Zahl
von Menſchen auf ihre Fahne ſchreibt und um eine empiriſch-pſychologiſche Moral-
forſchung weſentliche Verdienſte hat, aber zu einer tieferen Auffaſſung von Staat,
Geſellſchaft und Volkswirtſchaft nicht kam. Mill, der mit den Principles of political eco-
nomy with some of their applications to social philosophy
(1847, deutſch 1852) gleichſam
eine neue Auflage Smiths geben will, führt, wie dieſer, eine abſtrakte Theorie ſelbſt-
ſüchtiger, tauſchender Individuen vor, in die er einzelne hiſtoriſche, rechtsgeſchichtliche
und ſocialpolitiſche Kapitel unvermittelt einſchiebt; beſonders im höheren Alter war ihm
die Unfähigkeit ſeiner Grundanſchauungen, die ſocialen Probleme einer neuen Zeit zu
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[91/0107] Adam Smith. Handels-, Zoll- und Zunfteinrichtungen, die falſche Begünſtigung der Städte aufzuheben, dann kommt die Geſellſchaft zur Natur, zur Gerechtigkeit, zur Gleichheit zurück. Dabei iſt ſehr vieles fein und wahrheitsgetreu beobachtet; in einſchmeichelnder, harmloſer Weiſe werden die radikalen Gedanken vorgetragen; ſympathiſch iſt von den Arbeitern und ihrer Hebung die Rede, während der Egoismus der Unternehmer als Urſache künſtlicher Geſetz- gebung gebrandmarkt wird. Die geſchickte Voranſtellung der Arbeit und Arbeitsteilung, die gleichmäßige Betonung, wie überall die Arbeit den Reichtum erzeuge, aller Tauſch ein Tauſch von Arbeitsprodukten ſei, giebt den Ausführungen über Produktion, Verkehr und Einkommensverteilung eine geſchloſſene Einheit, die gewinnen und beſtechen mußte. Daher die ungeheure Wirkung des Buches trotz ſeiner Einſeitigkeit. Es gab den liberalen Forderungen des wirtſchaftlichen Individualismus den vollendetſten Ausdruck; es ſprach berechtigte Forderungen der praktiſchen Reform zur rechten Zeit aus. Es ſchloß ſich den großen philoſophiſch-moraliſchen Idealen des Jahrhunderts rückhaltlos an und trug doch den Stempel nüchterner Wiſſenſchaft und empiriſcher Forſchung an ſich. Mochte es alſo fälſchlich an die natürliche Gleichheit der Menſchen glauben, die beſtehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältniſſe zwiſchen den Staaten und den ſocialen Klaſſen nicht gehörig würdigen, optimiſtiſch das Individuum und ſeine egoiſtiſchen Triebe überſchätzen, die Bedeutung des Staates und der ſtaatlichen Einrichtungen verkennen, mochte der Rationalismus des Aufklärungseiferers in ihm immer wieder Herr werden über den hiſtoriſchen und pſychologiſchen Forſcher, mochte das ganze Beobachtungsfeld ein recht beſchränktes ſein, das Buch war doch fähig, für hundert Jahre zur ſammelnden Fahne der Staatsmänner und der Klaſſen zu werden, welche die bürgerlich-liberale Tauſchgeſellſchaft mit Freiheit der Perſon und des Eigentums in Weſteuropa voll durch- führen wollten. Den verbreitetſten Lehrbüchern und Schriften der folgenden Generationen diente A. Smith als Vorbild. In Frankreich haben J. B. Say (Traité d’écon omie politique, 1803 ꝛc.) und Charles Dunoyer (Liberté du travail, 1845), in Deutſchland Ch. J. Kraus (Staatswirtſchaft, 1808—11), Euſebius Lotz (Reviſion der Grundbegriffe der National- wirtſchaftslehre, 1811—14), Karl H. Rau (Lehrbuch der politiſchen Ökonomie, 1826—37, neue Auflagen bis 1868/69), F. B. W. Hermann (Staatswirtſchaftliche Unterſuchungen, 1832 und 1870) die Smithſchen Gedanken populariſiert und ſyſtematiſiert, teilweiſe ſie ſchärfer gefaßt, teilweiſe ſie mit anderen Gedankenrichtungen, wie hauptſächlich Rau mit den realiſtiſchen Überlieferungen der deutſchen Kameraliſtik, geſchickt zu verbinden gewußt. In England hat D. Ricardo (Principles of political economy and taxation, 1817, deutſch 1837) den Verſuch gemacht, aus der Smithſchen, immerhin weitausgreifenden Darſtellung das, was ihm als Bankier und Geldmann geläufig war, auszuſcheiden und daraus ſowie aus den Erfahrungen ſeines Geſchäftslebens eine Einkommens-, Geld- und Wertlehre zu machen, die in der Form allgemeiner Begriffe und abſtrakter Lehrſätze mit einer gewiſſen Schärfe operierte, teils zu einer logiſcheren Formulierung der Smith- ſchen Gedanken, teils zu ſchiefen und falſchen, nicht mehr auf empiriſcher Grundlage ruhenden Schlüſſen führte. Nach ihm hat ſein Schüler und jüngerer Freund, John Stuart Mill, die engliſche Nationalökonomie bis in die Gegenwart beherrſcht; auch er bewegt ſich trotz ſeiner univerſellen Bildung in den Geleiſen des abſtrakt radikalen individualiſtiſchen Naturrechts des 18. Jahrhunderts; er iſt der gläubige Schüler der Benthamſchen Rützlichkeitsmoral, die zwar das größtmögliche Glück der größten Zahl von Menſchen auf ihre Fahne ſchreibt und um eine empiriſch-pſychologiſche Moral- forſchung weſentliche Verdienſte hat, aber zu einer tieferen Auffaſſung von Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft nicht kam. Mill, der mit den Principles of political eco- nomy with some of their applications to social philosophy (1847, deutſch 1852) gleichſam eine neue Auflage Smiths geben will, führt, wie dieſer, eine abſtrakte Theorie ſelbſt- ſüchtiger, tauſchender Individuen vor, in die er einzelne hiſtoriſche, rechtsgeſchichtliche und ſocialpolitiſche Kapitel unvermittelt einſchiebt; beſonders im höheren Alter war ihm die Unfähigkeit ſeiner Grundanſchauungen, die ſocialen Probleme einer neuen Zeit zu löſen, wohl klar geworden. Aber ſo ſehr er ſich nun unter dem Einfluſſe ſeiner gefühl-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/107>, abgerufen am 25.04.2024.