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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die individualistischen Tendenzen; die Physiokraten.
liche Preisbestimmungen, gegen staatliche Zinsfußbeschränkungen; er sieht ein, daß der
Zinsfuß von der Geld- beziehungsweise Kapitalmenge abhänge, er sucht in der Arbeit die
Ursache des Wertes und wird durch sein individualistisches Naturrecht, durch seine aus-
schließliche Betonung von Freiheit und Eigentum "der Vater des modernen Liberalismus".

Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtschaftlicher Polizei
lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie
betrachtete das Erreichte als selbstverständlich, fühlte sich gedrückt durch den träge
werdenden Polizeistaat und die von ihm noch nicht beseitigten feudalen Gesellschafts-
einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf diesem
Boden nun die Naturlehre der individualistischen Volkswirtschaft entstehen. Die Physio-
kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England sind die Begründer derselben.
Es waren die ersten rein theoretischen und äußerlich vom Naturrecht, von den
übrigen Staatswissenschaften losgelösten volkswirtschaftlichen Systeme. Innerlich sind
sie freilich ganz abhängig von der damals vorherrschenden Anschauung eines Natur-
zustandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Gesellschaft entstanden sei; die
Verfasser glauben als Theisten an eine harmonische Einrichtung der Welt und der Ge-
sellschaft, an das Überwiegen guter, geselliger Triebe, die, sich selbst überlassen, das
Richtige finden; die natürliche und die sittliche Ordnung der Dinge fällt für sie
zusammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlassen der Natur ist ihnen das höchste Ideal;
die meisten bestehenden volkswirtschaftlichen Einrichtungen erscheinen ihnen als künstliche
und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die sie wiederherstellen wollen.
Dabei unterscheidet sich freilich die etwas ältere französische Schule doch noch wesentlich
von der englischen.

Francois Quesnay (1694--1774, Hauptschriften 1756--58; OEuvres ed. A. Oncken,
1888) war Arzt und Naturforscher, Autodidakt und Ideologe, schwärmte für Naturleben
und Landwirtschaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie
seine Schüler ein treuer Anhänger des absoluten Königtums, dem er freilich einen ganz
anderen Charakter geben wollte; dasselbe sollte eine Gesetzgebung und Verwaltung ent-
sprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern
überlasteten Bauern erleichtern, in erster Linie persönliche Freiheit und freies Eigentum
gewährleisten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorstellung, daß physisch
alle Menschen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß
Grundherren und große Pächter erhebliche Überschüsse für andere Zwecke haben, und
aus der privatwirtschaftlichen Untersuchung des landwirtschaftlichen Roh- und Reinertrages
folgerte er, daß alle übrigen Klassen der Gesellschaft stets nur in ihren Einnahmen ersetzt
erhielten, was sie verbrauchten, also steril seien, der Landbau allein einen disponibeln
Überschuß gebe, also produktiv sei; da alle Steuern auf diesen Überschuß zuletzt fallen,
soll lieber gleich eine einzige gerechte Grundsteuer alle anderen ersetzen. Alle bisherige
Politik war ihm eine falsche Beförderung der Industrie, der Städte, des Luxus. Vor
allem erschien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falsch; höhere
Getreidepreise sollen durch die Ausfuhrfreiheit geschaffen werden. Die von Hume bereits
bekämpfte Handelsbilanztheorie ist ihm eine Thorheit, "denn", sagt er, "ein gerechter
und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar
gegenseitigen Handelsvorteils sei". In dem sogenannten tableau economique werden die
wirtschaftlichen Klassen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtschaftlichen
Güter in einem willkürlichen Zahlenbeispiele dargestellt mit der fast kindlichen Hoffnung,
damit eine arithmetisch-geometrische, feste Methode in die Wissenschaft eingeführt zu haben.
Es bezeichnet den überspannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt-
schüler diese wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die
dritte große Erfindung der Menschheit -- nach Schrift und Geld -- bezeichnete.

Im Anschluß an Quesnay und seine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der
allgemeinsten philosophischen Bildung, mit Eleganz und Klarheit (Reflexions sur la
formation et la distribution des richesses, 1766)
das Bild einer Tauschgesellschaft ohne
die extremen physiokratischen Schrullen entwickelt. Tausch, Verschiedenheit der Menschen

Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten.
liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß der
Zinsfuß von der Geld- beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die
Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus-
ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum „der Vater des modernen Liberalismus“.

Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei
lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie
betrachtete das Erreichte als ſelbſtverſtändlich, fühlte ſich gedrückt durch den träge
werdenden Polizeiſtaat und die von ihm noch nicht beſeitigten feudalen Geſellſchafts-
einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf dieſem
Boden nun die Naturlehre der individualiſtiſchen Volkswirtſchaft entſtehen. Die Phyſio-
kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England ſind die Begründer derſelben.
Es waren die erſten rein theoretiſchen und äußerlich vom Naturrecht, von den
übrigen Staatswiſſenſchaften losgelöſten volkswirtſchaftlichen Syſteme. Innerlich ſind
ſie freilich ganz abhängig von der damals vorherrſchenden Anſchauung eines Natur-
zuſtandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Geſellſchaft entſtanden ſei; die
Verfaſſer glauben als Theiſten an eine harmoniſche Einrichtung der Welt und der Ge-
ſellſchaft, an das Überwiegen guter, geſelliger Triebe, die, ſich ſelbſt überlaſſen, das
Richtige finden; die natürliche und die ſittliche Ordnung der Dinge fällt für ſie
zuſammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlaſſen der Natur iſt ihnen das höchſte Ideal;
die meiſten beſtehenden volkswirtſchaftlichen Einrichtungen erſcheinen ihnen als künſtliche
und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die ſie wiederherſtellen wollen.
Dabei unterſcheidet ſich freilich die etwas ältere franzöſiſche Schule doch noch weſentlich
von der engliſchen.

François Quesnay (1694—1774, Hauptſchriften 1756—58; Œuvres ed. A. Oncken,
1888) war Arzt und Naturforſcher, Autodidakt und Ideologe, ſchwärmte für Naturleben
und Landwirtſchaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie
ſeine Schüler ein treuer Anhänger des abſoluten Königtums, dem er freilich einen ganz
anderen Charakter geben wollte; dasſelbe ſollte eine Geſetzgebung und Verwaltung ent-
ſprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern
überlaſteten Bauern erleichtern, in erſter Linie perſönliche Freiheit und freies Eigentum
gewährleiſten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorſtellung, daß phyſiſch
alle Menſchen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß
Grundherren und große Pächter erhebliche Überſchüſſe für andere Zwecke haben, und
aus der privatwirtſchaftlichen Unterſuchung des landwirtſchaftlichen Roh- und Reinertrages
folgerte er, daß alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft ſtets nur in ihren Einnahmen erſetzt
erhielten, was ſie verbrauchten, alſo ſteril ſeien, der Landbau allein einen disponibeln
Überſchuß gebe, alſo produktiv ſei; da alle Steuern auf dieſen Überſchuß zuletzt fallen,
ſoll lieber gleich eine einzige gerechte Grundſteuer alle anderen erſetzen. Alle bisherige
Politik war ihm eine falſche Beförderung der Induſtrie, der Städte, des Luxus. Vor
allem erſchien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falſch; höhere
Getreidepreiſe ſollen durch die Ausfuhrfreiheit geſchaffen werden. Die von Hume bereits
bekämpfte Handelsbilanztheorie iſt ihm eine Thorheit, „denn“, ſagt er, „ein gerechter
und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar
gegenſeitigen Handelsvorteils ſei“. In dem ſogenannten tableau économique werden die
wirtſchaftlichen Klaſſen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtſchaftlichen
Güter in einem willkürlichen Zahlenbeiſpiele dargeſtellt mit der faſt kindlichen Hoffnung,
damit eine arithmetiſch-geometriſche, feſte Methode in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben.
Es bezeichnet den überſpannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt-
ſchüler dieſe wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die
dritte große Erfindung der Menſchheit — nach Schrift und Geld — bezeichnete.

Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der
allgemeinſten philoſophiſchen Bildung, mit Eleganz und Klarheit (Réflexions sur la
formation et la distribution des richesses, 1766)
das Bild einer Tauſchgeſellſchaft ohne
die extremen phyſiokratiſchen Schrullen entwickelt. Tauſch, Verſchiedenheit der Menſchen

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[89/0105] Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten. liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß der Zinsfuß von der Geld- beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus- ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum „der Vater des modernen Liberalismus“. Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie betrachtete das Erreichte als ſelbſtverſtändlich, fühlte ſich gedrückt durch den träge werdenden Polizeiſtaat und die von ihm noch nicht beſeitigten feudalen Geſellſchafts- einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf dieſem Boden nun die Naturlehre der individualiſtiſchen Volkswirtſchaft entſtehen. Die Phyſio- kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England ſind die Begründer derſelben. Es waren die erſten rein theoretiſchen und äußerlich vom Naturrecht, von den übrigen Staatswiſſenſchaften losgelöſten volkswirtſchaftlichen Syſteme. Innerlich ſind ſie freilich ganz abhängig von der damals vorherrſchenden Anſchauung eines Natur- zuſtandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Geſellſchaft entſtanden ſei; die Verfaſſer glauben als Theiſten an eine harmoniſche Einrichtung der Welt und der Ge- ſellſchaft, an das Überwiegen guter, geſelliger Triebe, die, ſich ſelbſt überlaſſen, das Richtige finden; die natürliche und die ſittliche Ordnung der Dinge fällt für ſie zuſammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlaſſen der Natur iſt ihnen das höchſte Ideal; die meiſten beſtehenden volkswirtſchaftlichen Einrichtungen erſcheinen ihnen als künſtliche und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die ſie wiederherſtellen wollen. Dabei unterſcheidet ſich freilich die etwas ältere franzöſiſche Schule doch noch weſentlich von der engliſchen. François Quesnay (1694—1774, Hauptſchriften 1756—58; Œuvres ed. A. Oncken, 1888) war Arzt und Naturforſcher, Autodidakt und Ideologe, ſchwärmte für Naturleben und Landwirtſchaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie ſeine Schüler ein treuer Anhänger des abſoluten Königtums, dem er freilich einen ganz anderen Charakter geben wollte; dasſelbe ſollte eine Geſetzgebung und Verwaltung ent- ſprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern überlaſteten Bauern erleichtern, in erſter Linie perſönliche Freiheit und freies Eigentum gewährleiſten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorſtellung, daß phyſiſch alle Menſchen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß Grundherren und große Pächter erhebliche Überſchüſſe für andere Zwecke haben, und aus der privatwirtſchaftlichen Unterſuchung des landwirtſchaftlichen Roh- und Reinertrages folgerte er, daß alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft ſtets nur in ihren Einnahmen erſetzt erhielten, was ſie verbrauchten, alſo ſteril ſeien, der Landbau allein einen disponibeln Überſchuß gebe, alſo produktiv ſei; da alle Steuern auf dieſen Überſchuß zuletzt fallen, ſoll lieber gleich eine einzige gerechte Grundſteuer alle anderen erſetzen. Alle bisherige Politik war ihm eine falſche Beförderung der Induſtrie, der Städte, des Luxus. Vor allem erſchien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falſch; höhere Getreidepreiſe ſollen durch die Ausfuhrfreiheit geſchaffen werden. Die von Hume bereits bekämpfte Handelsbilanztheorie iſt ihm eine Thorheit, „denn“, ſagt er, „ein gerechter und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar gegenſeitigen Handelsvorteils ſei“. In dem ſogenannten tableau économique werden die wirtſchaftlichen Klaſſen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtſchaftlichen Güter in einem willkürlichen Zahlenbeiſpiele dargeſtellt mit der faſt kindlichen Hoffnung, damit eine arithmetiſch-geometriſche, feſte Methode in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben. Es bezeichnet den überſpannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt- ſchüler dieſe wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die dritte große Erfindung der Menſchheit — nach Schrift und Geld — bezeichnete. Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der allgemeinſten philoſophiſchen Bildung, mit Eleganz und Klarheit (Réflexions sur la formation et la distribution des richesses, 1766) das Bild einer Tauſchgeſellſchaft ohne die extremen phyſiokratiſchen Schrullen entwickelt. Tauſch, Verſchiedenheit der Menſchen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/105>, abgerufen am 24.04.2024.