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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
schaft, 1755; Polizeiwissenschaft, 1756; System des Finanzwesens 1766 etc.). Neben ihnen
vertreten die Staatsrechtslehrer und Philosophen mit fast noch größerer Energie die Pflicht
der Regierungen zu wirtschafts-polizeilicher Thätigkeit. Christian Wolf ist der Lehrer
der Generation, die bis zu 1786 regiert hat; er preist aus vollster Überzeugung China
mit seiner Vielregiererei und seinem Mandarinentum als Musterstaat. Der Regierung wird
in schrankenloser Weise die Sorge für die allgemeine Glückseligkeit zugewiesen; sie soll
für richtigen Lohn und Beschäftigung aller Menschen, für mittleren Preis, für die rechte
Zahl Menschen im ganzen und in jedem Berufszweige, für die Tugenden und guten
Sitten der Kinder, der Hausfrauen, der Bürger und der Beamten sorgen.

Der Franzose Melon (Essai politique sur le commerce, 1734, deutsch 1756)
verlangt von der Regierung Sorge für Kornvorräte, Bevölkerungs- und Geldvermehrung.
Forbonnais (Elements du commerce, 1754; Recherches et considerations sur les finances
de France, 1758 etc.)
steht ungefähr mit Steuart auf demselben Boden. Die Schriften
beider haben die merkantilistischen Einseitigkeiten und Übertreibungen so abgestreift, sind
so reich an scharfer Beobachtung und guter Schlußfolgerung, daß sie neben Smith,
Hume, Turgot zu den großen Leistungen der ersten Glanzzeit nationalökonomischer
Wissenschaft (1750--90) zu rechnen sind.

Die ganze hier aufgezählte Litteratur hat überwiegend einen politischen und ver-
waltungsrechtlichen Charakter; die allgemeine psychologische Voraussetzung ist zumal bei
den deutschen Kameralisten die Dummheit des Pöbels, der Schlendrian selbst der Kauf-
leute, die man mit Gewalt zu ihrem Vorteil hinziehen müsse. Man fürchtet, daß alles
schlecht gehe, wenn man der Dummheit und Gewinnsucht freie Bahn gebe. Es ist eher
eine pessimistische als eine optimistische Lebensauffassung, die vorherrscht; eine gewisse
Unbehülflichkeit bei viel praktischer Lebenskenntnis. Die volkswirtschaftliche Theorie ist
noch ganz verknüpft mit der Betrachtung des Staates, der Polizei, der Finanz, weil
die Staats- und die Volkswirtschaftsbildung im 17. und 18. Jahrhundert zusammenfiel,
weil nur in den eben gebildeten größeren Nationalstaaten mit starker Centralgewalt die
neue Volkswirtschaft hatte entstehen können. Nicht der Glanz generalisierender, bestechender
Systeme wird in dieser Litteratur erreicht, sondern eklektisch sucht man das Brauchbare,
das Nächstliegende, das Anwendbare. Die platten Köpfe werden dabei banausisch, die
feineren aber erreichen eine Lebenswahrheit, die von den abstrakten Systemen ihrer
Nachfolger im Lager der volkswirtschaftlichen Individualisten und der Socialisten vielfach
nicht wieder erreicht wurde.

40. Die individualistische Naturlehre der Volkswirtschaft. So
sehr vom 16.--18. Jahrhundert in den sich konsolidierenden westeuropäischen Staaten
das Bedürfnis einer festen und starken Centralgewalt sich geltend gemacht hatte, so
wenig fehlten doch die entgegengesetzten praktischen Tendenzen. Fast überall dauerten
kräftige lokale Bildungen, Korporationen, Stände, selbständige kirchliche Gruppen fort.
Wie die katholische Kirche da und dort die Volkssouveränität gelehrt, so hatten die
bedrängten französischen Hugenotten die ständischen Rechte und das Recht des Wider-
standes gegen die Mißbräuche der Regierungsgewalt betont, den sogenannten Staatsvertrag
in individualistischem Sinne ausgelegt, teilweise schon die Parole der Gleichheit aller
Menschen ausgegeben. Boisguillebert (Le detail de la France, 1695) erging sich in
hartem Tadel der bestehenden französischen Staats- und Finanzverwaltung, welche die
Getreideausfuhr zu Gunsten der städtischen Industrie erschwere, den Landbau lähme,
und der große französische Marschall Vauban (Deime royal, 1707) kam auf Grund seiner
genauen Kenntnisse der Not der Bauern zu nicht minder schweren Anklagen und zur
Forderung großer Ämter-, Steuer- und Socialreformen. Mächtig arbeitete der durch
die Renaissance und die Reformation geweckte, durch die Geldwirtschaft beförderte Trieb
nach individueller Selbständigkeit weiter. In Holland und England hatte noch stärker
als anderwärts das aufkommende Bürgertum und die beginnende Handelsaristokratie
freie Bewegung, für sich hauptsächlich freien Handel gefordert, die merkantilistischen
Regierungsmaßregeln getadelt (z. B. North, Discourses upon trade, 1691). Der große
Philosoph Locke, obwohl im ganzen noch whigistischer Merkantilist, eifert gegen polizei-

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſchaft, 1755; Polizeiwiſſenſchaft, 1756; Syſtem des Finanzweſens 1766 ꝛc.). Neben ihnen
vertreten die Staatsrechtslehrer und Philoſophen mit faſt noch größerer Energie die Pflicht
der Regierungen zu wirtſchafts-polizeilicher Thätigkeit. Chriſtian Wolf iſt der Lehrer
der Generation, die bis zu 1786 regiert hat; er preiſt aus vollſter Überzeugung China
mit ſeiner Vielregiererei und ſeinem Mandarinentum als Muſterſtaat. Der Regierung wird
in ſchrankenloſer Weiſe die Sorge für die allgemeine Glückſeligkeit zugewieſen; ſie ſoll
für richtigen Lohn und Beſchäftigung aller Menſchen, für mittleren Preis, für die rechte
Zahl Menſchen im ganzen und in jedem Berufszweige, für die Tugenden und guten
Sitten der Kinder, der Hausfrauen, der Bürger und der Beamten ſorgen.

Der Franzoſe Melon (Essai politique sur le commerce, 1734, deutſch 1756)
verlangt von der Regierung Sorge für Kornvorräte, Bevölkerungs- und Geldvermehrung.
Forbonnais (Éléments du commerce, 1754; Recherches et considérations sur les finances
de France, 1758 ꝛc.)
ſteht ungefähr mit Steuart auf demſelben Boden. Die Schriften
beider haben die merkantiliſtiſchen Einſeitigkeiten und Übertreibungen ſo abgeſtreift, ſind
ſo reich an ſcharfer Beobachtung und guter Schlußfolgerung, daß ſie neben Smith,
Hume, Turgot zu den großen Leiſtungen der erſten Glanzzeit nationalökonomiſcher
Wiſſenſchaft (1750—90) zu rechnen ſind.

Die ganze hier aufgezählte Litteratur hat überwiegend einen politiſchen und ver-
waltungsrechtlichen Charakter; die allgemeine pſychologiſche Vorausſetzung iſt zumal bei
den deutſchen Kameraliſten die Dummheit des Pöbels, der Schlendrian ſelbſt der Kauf-
leute, die man mit Gewalt zu ihrem Vorteil hinziehen müſſe. Man fürchtet, daß alles
ſchlecht gehe, wenn man der Dummheit und Gewinnſucht freie Bahn gebe. Es iſt eher
eine peſſimiſtiſche als eine optimiſtiſche Lebensauffaſſung, die vorherrſcht; eine gewiſſe
Unbehülflichkeit bei viel praktiſcher Lebenskenntnis. Die volkswirtſchaftliche Theorie iſt
noch ganz verknüpft mit der Betrachtung des Staates, der Polizei, der Finanz, weil
die Staats- und die Volkswirtſchaftsbildung im 17. und 18. Jahrhundert zuſammenfiel,
weil nur in den eben gebildeten größeren Nationalſtaaten mit ſtarker Centralgewalt die
neue Volkswirtſchaft hatte entſtehen können. Nicht der Glanz generaliſierender, beſtechender
Syſteme wird in dieſer Litteratur erreicht, ſondern eklektiſch ſucht man das Brauchbare,
das Nächſtliegende, das Anwendbare. Die platten Köpfe werden dabei banauſiſch, die
feineren aber erreichen eine Lebenswahrheit, die von den abſtrakten Syſtemen ihrer
Nachfolger im Lager der volkswirtſchaftlichen Individualiſten und der Socialiſten vielfach
nicht wieder erreicht wurde.

40. Die individualiſtiſche Naturlehre der Volkswirtſchaft. So
ſehr vom 16.—18. Jahrhundert in den ſich konſolidierenden weſteuropäiſchen Staaten
das Bedürfnis einer feſten und ſtarken Centralgewalt ſich geltend gemacht hatte, ſo
wenig fehlten doch die entgegengeſetzten praktiſchen Tendenzen. Faſt überall dauerten
kräftige lokale Bildungen, Korporationen, Stände, ſelbſtändige kirchliche Gruppen fort.
Wie die katholiſche Kirche da und dort die Volksſouveränität gelehrt, ſo hatten die
bedrängten franzöſiſchen Hugenotten die ſtändiſchen Rechte und das Recht des Wider-
ſtandes gegen die Mißbräuche der Regierungsgewalt betont, den ſogenannten Staatsvertrag
in individualiſtiſchem Sinne ausgelegt, teilweiſe ſchon die Parole der Gleichheit aller
Menſchen ausgegeben. Boisguillebert (Le détail de la France, 1695) erging ſich in
hartem Tadel der beſtehenden franzöſiſchen Staats- und Finanzverwaltung, welche die
Getreideausfuhr zu Gunſten der ſtädtiſchen Induſtrie erſchwere, den Landbau lähme,
und der große franzöſiſche Marſchall Vauban (Dîme royal, 1707) kam auf Grund ſeiner
genauen Kenntniſſe der Not der Bauern zu nicht minder ſchweren Anklagen und zur
Forderung großer Ämter-, Steuer- und Socialreformen. Mächtig arbeitete der durch
die Renaiſſance und die Reformation geweckte, durch die Geldwirtſchaft beförderte Trieb
nach individueller Selbſtändigkeit weiter. In Holland und England hatte noch ſtärker
als anderwärts das aufkommende Bürgertum und die beginnende Handelsariſtokratie
freie Bewegung, für ſich hauptſächlich freien Handel gefordert, die merkantiliſtiſchen
Regierungsmaßregeln getadelt (z. B. North, Discourses upon trade, 1691). Der große
Philoſoph Locke, obwohl im ganzen noch whigiſtiſcher Merkantiliſt, eifert gegen polizei-

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[88/0104] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ſchaft, 1755; Polizeiwiſſenſchaft, 1756; Syſtem des Finanzweſens 1766 ꝛc.). Neben ihnen vertreten die Staatsrechtslehrer und Philoſophen mit faſt noch größerer Energie die Pflicht der Regierungen zu wirtſchafts-polizeilicher Thätigkeit. Chriſtian Wolf iſt der Lehrer der Generation, die bis zu 1786 regiert hat; er preiſt aus vollſter Überzeugung China mit ſeiner Vielregiererei und ſeinem Mandarinentum als Muſterſtaat. Der Regierung wird in ſchrankenloſer Weiſe die Sorge für die allgemeine Glückſeligkeit zugewieſen; ſie ſoll für richtigen Lohn und Beſchäftigung aller Menſchen, für mittleren Preis, für die rechte Zahl Menſchen im ganzen und in jedem Berufszweige, für die Tugenden und guten Sitten der Kinder, der Hausfrauen, der Bürger und der Beamten ſorgen. Der Franzoſe Melon (Essai politique sur le commerce, 1734, deutſch 1756) verlangt von der Regierung Sorge für Kornvorräte, Bevölkerungs- und Geldvermehrung. Forbonnais (Éléments du commerce, 1754; Recherches et considérations sur les finances de France, 1758 ꝛc.) ſteht ungefähr mit Steuart auf demſelben Boden. Die Schriften beider haben die merkantiliſtiſchen Einſeitigkeiten und Übertreibungen ſo abgeſtreift, ſind ſo reich an ſcharfer Beobachtung und guter Schlußfolgerung, daß ſie neben Smith, Hume, Turgot zu den großen Leiſtungen der erſten Glanzzeit nationalökonomiſcher Wiſſenſchaft (1750—90) zu rechnen ſind. Die ganze hier aufgezählte Litteratur hat überwiegend einen politiſchen und ver- waltungsrechtlichen Charakter; die allgemeine pſychologiſche Vorausſetzung iſt zumal bei den deutſchen Kameraliſten die Dummheit des Pöbels, der Schlendrian ſelbſt der Kauf- leute, die man mit Gewalt zu ihrem Vorteil hinziehen müſſe. Man fürchtet, daß alles ſchlecht gehe, wenn man der Dummheit und Gewinnſucht freie Bahn gebe. Es iſt eher eine peſſimiſtiſche als eine optimiſtiſche Lebensauffaſſung, die vorherrſcht; eine gewiſſe Unbehülflichkeit bei viel praktiſcher Lebenskenntnis. Die volkswirtſchaftliche Theorie iſt noch ganz verknüpft mit der Betrachtung des Staates, der Polizei, der Finanz, weil die Staats- und die Volkswirtſchaftsbildung im 17. und 18. Jahrhundert zuſammenfiel, weil nur in den eben gebildeten größeren Nationalſtaaten mit ſtarker Centralgewalt die neue Volkswirtſchaft hatte entſtehen können. Nicht der Glanz generaliſierender, beſtechender Syſteme wird in dieſer Litteratur erreicht, ſondern eklektiſch ſucht man das Brauchbare, das Nächſtliegende, das Anwendbare. Die platten Köpfe werden dabei banauſiſch, die feineren aber erreichen eine Lebenswahrheit, die von den abſtrakten Syſtemen ihrer Nachfolger im Lager der volkswirtſchaftlichen Individualiſten und der Socialiſten vielfach nicht wieder erreicht wurde. 40. Die individualiſtiſche Naturlehre der Volkswirtſchaft. So ſehr vom 16.—18. Jahrhundert in den ſich konſolidierenden weſteuropäiſchen Staaten das Bedürfnis einer feſten und ſtarken Centralgewalt ſich geltend gemacht hatte, ſo wenig fehlten doch die entgegengeſetzten praktiſchen Tendenzen. Faſt überall dauerten kräftige lokale Bildungen, Korporationen, Stände, ſelbſtändige kirchliche Gruppen fort. Wie die katholiſche Kirche da und dort die Volksſouveränität gelehrt, ſo hatten die bedrängten franzöſiſchen Hugenotten die ſtändiſchen Rechte und das Recht des Wider- ſtandes gegen die Mißbräuche der Regierungsgewalt betont, den ſogenannten Staatsvertrag in individualiſtiſchem Sinne ausgelegt, teilweiſe ſchon die Parole der Gleichheit aller Menſchen ausgegeben. Boisguillebert (Le détail de la France, 1695) erging ſich in hartem Tadel der beſtehenden franzöſiſchen Staats- und Finanzverwaltung, welche die Getreideausfuhr zu Gunſten der ſtädtiſchen Induſtrie erſchwere, den Landbau lähme, und der große franzöſiſche Marſchall Vauban (Dîme royal, 1707) kam auf Grund ſeiner genauen Kenntniſſe der Not der Bauern zu nicht minder ſchweren Anklagen und zur Forderung großer Ämter-, Steuer- und Socialreformen. Mächtig arbeitete der durch die Renaiſſance und die Reformation geweckte, durch die Geldwirtſchaft beförderte Trieb nach individueller Selbſtändigkeit weiter. In Holland und England hatte noch ſtärker als anderwärts das aufkommende Bürgertum und die beginnende Handelsariſtokratie freie Bewegung, für ſich hauptſächlich freien Handel gefordert, die merkantiliſtiſchen Regierungsmaßregeln getadelt (z. B. North, Discourses upon trade, 1691). Der große Philoſoph Locke, obwohl im ganzen noch whigiſtiſcher Merkantiliſt, eifert gegen polizei-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/104>, abgerufen am 23.04.2024.