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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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1. Das erste nemlich wenn ein Saz unmittelbar aus dem
vorigen herausgenommen wird, so daß der Hauptpunkt schon
in jenem enthalten war, das zweite ist der Fall wenn genau
coordinirtes neben einander gestellt wird. Beide Fälle sind
nicht selten.

Zusaz 1) Die Bestimmung der unverbundenen Säze in
einer zusammenhängenden Gedankenreihe geschieht mit gehöriger
Modification wegen des fehlenden formellen Verbindungszeichens
nach Kanon 6.

Die neueren Sprachen haben unverbundene Säze weit häu-
figer als die alten. Wir schreiben für das Auge, die Alten schrie-
ben für das Ohr. Hier mußte also das unverbundene viel selte-
ner vorkommen und die Verbindungspartikeln häufiger.

2. Alle Beiwörter können bis zu einer enklitischen Unbedeu-
tendheit in gewissen Fällen sinken und dann ist die dadurch an-
gedeutete Verbindung die loseste.

3. Bei Mangel an kritischem Bewußtsein kann von dem
Schriftsteller selbst die Verbindung unbestimmt gedacht sein.

4. Bei den neutestam. Schriftstellern kommt alles zusam-
men, die Lockerheit der Perioden zu erzeugen sowol in den di-
daktischen Schriften wo die Causalverbindung, als in den hi-
storischen wo die erzählende Verknüpfung herrscht, nemlich
schlechte Gewöhnung und Gebrauch aus Unkenntniß. Daher
beides so schwierig. Man weiß oft nicht wieweit eine didak-
tische Reihe geht, oft nicht wie weit ein historisches Ganzes.
Nur Paulus und Johannes ragen hervor, jener im didaktischen,
dieser im historischen. Das Interesse genauer zu bestimmen
als der Verfasser selbst gethan hängt von dem dogmatischen In-
teresse ab und von dem der historischen Kritik. Daher alles dog-
matisch sowie kritisch schwierige von der Interpretation abhängt.

Da 2) die Interpunktion bei den Alten nicht ursprünglich war,

1) Aus der Vorles. v. 1826.
2) Aus der Vorles. v. 1826.

1. Das erſte nemlich wenn ein Saz unmittelbar aus dem
vorigen herausgenommen wird, ſo daß der Hauptpunkt ſchon
in jenem enthalten war, das zweite iſt der Fall wenn genau
coordinirtes neben einander geſtellt wird. Beide Faͤlle ſind
nicht ſelten.

Zuſaz 1) Die Beſtimmung der unverbundenen Saͤze in
einer zuſammenhaͤngenden Gedankenreihe geſchieht mit gehoͤriger
Modification wegen des fehlenden formellen Verbindungszeichens
nach Kanon 6.

Die neueren Sprachen haben unverbundene Saͤze weit haͤu-
figer als die alten. Wir ſchreiben fuͤr das Auge, die Alten ſchrie-
ben fuͤr das Ohr. Hier mußte alſo das unverbundene viel ſelte-
ner vorkommen und die Verbindungspartikeln haͤufiger.

2. Alle Beiwoͤrter koͤnnen bis zu einer enklitiſchen Unbedeu-
tendheit in gewiſſen Faͤllen ſinken und dann iſt die dadurch an-
gedeutete Verbindung die loſeſte.

3. Bei Mangel an kritiſchem Bewußtſein kann von dem
Schriftſteller ſelbſt die Verbindung unbeſtimmt gedacht ſein.

4. Bei den neuteſtam. Schriftſtellern kommt alles zuſam-
men, die Lockerheit der Perioden zu erzeugen ſowol in den di-
daktiſchen Schriften wo die Cauſalverbindung, als in den hi-
ſtoriſchen wo die erzaͤhlende Verknuͤpfung herrſcht, nemlich
ſchlechte Gewoͤhnung und Gebrauch aus Unkenntniß. Daher
beides ſo ſchwierig. Man weiß oft nicht wieweit eine didak-
tiſche Reihe geht, oft nicht wie weit ein hiſtoriſches Ganzes.
Nur Paulus und Johannes ragen hervor, jener im didaktiſchen,
dieſer im hiſtoriſchen. Das Intereſſe genauer zu beſtimmen
als der Verfaſſer ſelbſt gethan haͤngt von dem dogmatiſchen In-
tereſſe ab und von dem der hiſtoriſchen Kritik. Daher alles dog-
matiſch ſowie kritiſch ſchwierige von der Interpretation abhaͤngt.

Da 2) die Interpunktion bei den Alten nicht urſpruͤnglich war,

1) Aus der Vorleſ. v. 1826.
2) Aus der Vorleſ. v. 1826.
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[75/0099] 1. Das erſte nemlich wenn ein Saz unmittelbar aus dem vorigen herausgenommen wird, ſo daß der Hauptpunkt ſchon in jenem enthalten war, das zweite iſt der Fall wenn genau coordinirtes neben einander geſtellt wird. Beide Faͤlle ſind nicht ſelten. Zuſaz 1) Die Beſtimmung der unverbundenen Saͤze in einer zuſammenhaͤngenden Gedankenreihe geſchieht mit gehoͤriger Modification wegen des fehlenden formellen Verbindungszeichens nach Kanon 6. Die neueren Sprachen haben unverbundene Saͤze weit haͤu- figer als die alten. Wir ſchreiben fuͤr das Auge, die Alten ſchrie- ben fuͤr das Ohr. Hier mußte alſo das unverbundene viel ſelte- ner vorkommen und die Verbindungspartikeln haͤufiger. 2. Alle Beiwoͤrter koͤnnen bis zu einer enklitiſchen Unbedeu- tendheit in gewiſſen Faͤllen ſinken und dann iſt die dadurch an- gedeutete Verbindung die loſeſte. 3. Bei Mangel an kritiſchem Bewußtſein kann von dem Schriftſteller ſelbſt die Verbindung unbeſtimmt gedacht ſein. 4. Bei den neuteſtam. Schriftſtellern kommt alles zuſam- men, die Lockerheit der Perioden zu erzeugen ſowol in den di- daktiſchen Schriften wo die Cauſalverbindung, als in den hi- ſtoriſchen wo die erzaͤhlende Verknuͤpfung herrſcht, nemlich ſchlechte Gewoͤhnung und Gebrauch aus Unkenntniß. Daher beides ſo ſchwierig. Man weiß oft nicht wieweit eine didak- tiſche Reihe geht, oft nicht wie weit ein hiſtoriſches Ganzes. Nur Paulus und Johannes ragen hervor, jener im didaktiſchen, dieſer im hiſtoriſchen. Das Intereſſe genauer zu beſtimmen als der Verfaſſer ſelbſt gethan haͤngt von dem dogmatiſchen In- tereſſe ab und von dem der hiſtoriſchen Kritik. Daher alles dog- matiſch ſowie kritiſch ſchwierige von der Interpretation abhaͤngt. Da 2) die Interpunktion bei den Alten nicht urſpruͤnglich war, 1) Aus der Vorleſ. v. 1826. 2) Aus der Vorleſ. v. 1826.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/99>, abgerufen am 19.04.2024.