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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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das ähnliche wurde durch die Verbindung mit dem Polytheis-
mus abgestoßen.

7. Es ist daher die Vermischung des anomalen in dem man-
nigfaltigsten Verhältniß vorhanden und bei jedem einzelnen
Schriftsteller wiederum verschieden. Die Hauptregel bleibt also
immer, sich für jedes Wort aus dem griechischen Wörterbuche
und aus dem hellenistischen, und für jede Form aus der griechi-
schen Grammatik und aus der comparativ hellenistischen ein
Ganzes zu bilden und nur in Bezug auf dieses den Kanon
anzuwenden. -- Rath an den Anfänger das doppelte Wörter-
buch oft auch da wo man keinen Anstoß findet zu Rathe zu
ziehen, um alle kunstlose Gewöhnung im voraus abzuhalten.

Eine Sprache kann nur in dem Maaße einer Specialhermeneutik
bedürfen, als sie noch keine Grammatik hat. Ist die Grammatik
einer Sprache schon kunstgemäß bearbeitet, so ist auch von dieser
Seite keine Specialhermeneutik nöthig, die allgemeinen Regeln
werden dann nur angewendet nach der Natur der grammatischen
Zusammenstellung. Sprachen, in denen das Verhältniß der Ele-
mente des Sazes regelmäßig und wesentlich dieselben sind, bedür-
fen im Verhältniß zu einander auch keiner speciellen Hermeneutik.
Findet aber das Gegentheil statt, so muß wie eine specielle Gram-
matik so auch eine specielle Hermeneutik stattfinden. Die neutest.
Sprache ist allerdings zunächst die griechische. Diese ist nun eine
Sprache, deren Grammatik kunstgemäß bearbeitet ist. Aber die
neutestam. Sprache steht dazu in einem ganz besonderen Verhält-
niß. Um dieß Verhältniß überhaupt richtig zu bestimmen, müssen
wir zwei Hauptperioden der griechischen Sprache, die der Blüthe
und die des Verfalls, unterscheiden. Das N. T. fällt in die
zweite, wo die Mannigfaltigkeit der Dialekte, die in der ersten
Periode auch auf dem Gebiete der kunstmäßigen Rede charakteristisch
war, verschwunden ist. Außerdem tritt in der griechischen Sprache
der Gegensaz zwischen Prosa und Poesie sehr bestimmt herausge-
arbeitet hervor. Das N. T. gehört ganz auf das Gebiet der

das aͤhnliche wurde durch die Verbindung mit dem Polytheis-
mus abgeſtoßen.

7. Es iſt daher die Vermiſchung des anomalen in dem man-
nigfaltigſten Verhaͤltniß vorhanden und bei jedem einzelnen
Schriftſteller wiederum verſchieden. Die Hauptregel bleibt alſo
immer, ſich fuͤr jedes Wort aus dem griechiſchen Woͤrterbuche
und aus dem helleniſtiſchen, und fuͤr jede Form aus der griechi-
ſchen Grammatik und aus der comparativ helleniſtiſchen ein
Ganzes zu bilden und nur in Bezug auf dieſes den Kanon
anzuwenden. — Rath an den Anfaͤnger das doppelte Woͤrter-
buch oft auch da wo man keinen Anſtoß findet zu Rathe zu
ziehen, um alle kunſtloſe Gewoͤhnung im voraus abzuhalten.

Eine Sprache kann nur in dem Maaße einer Specialhermeneutik
beduͤrfen, als ſie noch keine Grammatik hat. Iſt die Grammatik
einer Sprache ſchon kunſtgemaͤß bearbeitet, ſo iſt auch von dieſer
Seite keine Specialhermeneutik noͤthig, die allgemeinen Regeln
werden dann nur angewendet nach der Natur der grammatiſchen
Zuſammenſtellung. Sprachen, in denen das Verhaͤltniß der Ele-
mente des Sazes regelmaͤßig und weſentlich dieſelben ſind, beduͤr-
fen im Verhaͤltniß zu einander auch keiner ſpeciellen Hermeneutik.
Findet aber das Gegentheil ſtatt, ſo muß wie eine ſpecielle Gram-
matik ſo auch eine ſpecielle Hermeneutik ſtattfinden. Die neuteſt.
Sprache iſt allerdings zunaͤchſt die griechiſche. Dieſe iſt nun eine
Sprache, deren Grammatik kunſtgemaͤß bearbeitet iſt. Aber die
neuteſtam. Sprache ſteht dazu in einem ganz beſonderen Verhaͤlt-
niß. Um dieß Verhaͤltniß uͤberhaupt richtig zu beſtimmen, muͤſſen
wir zwei Hauptperioden der griechiſchen Sprache, die der Bluͤthe
und die des Verfalls, unterſcheiden. Das N. T. faͤllt in die
zweite, wo die Mannigfaltigkeit der Dialekte, die in der erſten
Periode auch auf dem Gebiete der kunſtmaͤßigen Rede charakteriſtiſch
war, verſchwunden iſt. Außerdem tritt in der griechiſchen Sprache
der Gegenſaz zwiſchen Proſa und Poeſie ſehr beſtimmt herausge-
arbeitet hervor. Das N. T. gehoͤrt ganz auf das Gebiet der

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[58/0082] das aͤhnliche wurde durch die Verbindung mit dem Polytheis- mus abgeſtoßen. 7. Es iſt daher die Vermiſchung des anomalen in dem man- nigfaltigſten Verhaͤltniß vorhanden und bei jedem einzelnen Schriftſteller wiederum verſchieden. Die Hauptregel bleibt alſo immer, ſich fuͤr jedes Wort aus dem griechiſchen Woͤrterbuche und aus dem helleniſtiſchen, und fuͤr jede Form aus der griechi- ſchen Grammatik und aus der comparativ helleniſtiſchen ein Ganzes zu bilden und nur in Bezug auf dieſes den Kanon anzuwenden. — Rath an den Anfaͤnger das doppelte Woͤrter- buch oft auch da wo man keinen Anſtoß findet zu Rathe zu ziehen, um alle kunſtloſe Gewoͤhnung im voraus abzuhalten. Eine Sprache kann nur in dem Maaße einer Specialhermeneutik beduͤrfen, als ſie noch keine Grammatik hat. Iſt die Grammatik einer Sprache ſchon kunſtgemaͤß bearbeitet, ſo iſt auch von dieſer Seite keine Specialhermeneutik noͤthig, die allgemeinen Regeln werden dann nur angewendet nach der Natur der grammatiſchen Zuſammenſtellung. Sprachen, in denen das Verhaͤltniß der Ele- mente des Sazes regelmaͤßig und weſentlich dieſelben ſind, beduͤr- fen im Verhaͤltniß zu einander auch keiner ſpeciellen Hermeneutik. Findet aber das Gegentheil ſtatt, ſo muß wie eine ſpecielle Gram- matik ſo auch eine ſpecielle Hermeneutik ſtattfinden. Die neuteſt. Sprache iſt allerdings zunaͤchſt die griechiſche. Dieſe iſt nun eine Sprache, deren Grammatik kunſtgemaͤß bearbeitet iſt. Aber die neuteſtam. Sprache ſteht dazu in einem ganz beſonderen Verhaͤlt- niß. Um dieß Verhaͤltniß uͤberhaupt richtig zu beſtimmen, muͤſſen wir zwei Hauptperioden der griechiſchen Sprache, die der Bluͤthe und die des Verfalls, unterſcheiden. Das N. T. faͤllt in die zweite, wo die Mannigfaltigkeit der Dialekte, die in der erſten Periode auch auf dem Gebiete der kunſtmaͤßigen Rede charakteriſtiſch war, verſchwunden iſt. Außerdem tritt in der griechiſchen Sprache der Gegenſaz zwiſchen Proſa und Poeſie ſehr beſtimmt herausge- arbeitet hervor. Das N. T. gehoͤrt ganz auf das Gebiet der

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/82>, abgerufen am 18.04.2024.