Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

aber rein für den Ausleger da sind, ist die die wahre voll-
kommene Einheit des Wortes zu finden. Das einzelne
Vorkommen des Wortes an einer gegebenen Stelle gehört frei-
lich der unendlich unbestimmten Mannigfaltigkeit und zu dieser
giebt es zu jener Einheit keinen andern Übergang als eine
bestimmte Vielheit unter welcher sie befaßt ist, und eine solche
wieder muß nothwendig in Gegensäze aufgehn. Allein im ein-
zelnen Vorkommen ist das Wort nicht isolirt; es geht in seiner
Bestimmtheit nicht aus sich selbst hervor, sondern aus seinen
Umgebungen, und wir dürfen nur die ursprüngliche Einheit des
Wortes mit diesen zusammenbringen um jedesmal das rechte zu
finden. Die vollkommene Einheit des Wortes aber wäre seine
Erklärung und die ist eben so wenig als die vollkommene Er-
klärung der Gegenstände vorhanden. In den todten Sprachen
nicht, weil wir ihre ganze Entwicklung noch nicht durchschaut
haben, in den lebenden nicht, weil sie wirklich noch fortgeht.

9. Wenn bei vorhandener Einheit eine Mannigfaltigkeit
der Gebrauchsweise möglich sein soll, so muß schon in der Ein-
heit eine Mannigfaltigkeit sein, mehrere Hauptpunkte auf eine
in gewissen Gränzen verschiebbare Weise verbunden. Dieß
muß der Sprachsinn aufsuchen, wo wir unsicher werden, be-
dienen wir uns des Wörterbuches als Hülfsmittel um uns am
gemeinsamen Schaz der Sprachkenntniß zu orientiren. Die
verschiedenen dort vorkommenden Fälle sollen nur ein verständi-
ger Auszug sein, man muß sich die Punkte durch Übergänge
verbinden um gleichsam die ganze Kurve vor sich zu haben und
den gesuchten Ort bestimmen zu können.

Ist das Verständniß eines Sazes aus seiner Umgebung gehemmt,
so müssen wir uns nach den allgemeinen und besonderen Hülfs-
mitteln umsehen. Jene sind Lexika und deren Ergänzung die
Syntax, diese Commentarien über die vorliegende Schrift oder
ganze Gattungen derselben. Der Gebrauch des Wörterbuches
tritt ein, wenn es zum richtigen Verstehen an einer vollstän-
digen Einsicht des Sprachwerthes fehlt. Bei dem richtigen Ge-

aber rein fuͤr den Ausleger da ſind, iſt die die wahre voll-
kommene Einheit des Wortes zu finden. Das einzelne
Vorkommen des Wortes an einer gegebenen Stelle gehoͤrt frei-
lich der unendlich unbeſtimmten Mannigfaltigkeit und zu dieſer
giebt es zu jener Einheit keinen andern Übergang als eine
beſtimmte Vielheit unter welcher ſie befaßt iſt, und eine ſolche
wieder muß nothwendig in Gegenſaͤze aufgehn. Allein im ein-
zelnen Vorkommen iſt das Wort nicht iſolirt; es geht in ſeiner
Beſtimmtheit nicht aus ſich ſelbſt hervor, ſondern aus ſeinen
Umgebungen, und wir duͤrfen nur die urſpruͤngliche Einheit des
Wortes mit dieſen zuſammenbringen um jedesmal das rechte zu
finden. Die vollkommene Einheit des Wortes aber waͤre ſeine
Erklaͤrung und die iſt eben ſo wenig als die vollkommene Er-
klaͤrung der Gegenſtaͤnde vorhanden. In den todten Sprachen
nicht, weil wir ihre ganze Entwicklung noch nicht durchſchaut
haben, in den lebenden nicht, weil ſie wirklich noch fortgeht.

9. Wenn bei vorhandener Einheit eine Mannigfaltigkeit
der Gebrauchsweiſe moͤglich ſein ſoll, ſo muß ſchon in der Ein-
heit eine Mannigfaltigkeit ſein, mehrere Hauptpunkte auf eine
in gewiſſen Graͤnzen verſchiebbare Weiſe verbunden. Dieß
muß der Sprachſinn aufſuchen, wo wir unſicher werden, be-
dienen wir uns des Woͤrterbuches als Huͤlfsmittel um uns am
gemeinſamen Schaz der Sprachkenntniß zu orientiren. Die
verſchiedenen dort vorkommenden Faͤlle ſollen nur ein verſtaͤndi-
ger Auszug ſein, man muß ſich die Punkte durch Übergaͤnge
verbinden um gleichſam die ganze Kurve vor ſich zu haben und
den geſuchten Ort beſtimmen zu koͤnnen.

Iſt das Verſtaͤndniß eines Sazes aus ſeiner Umgebung gehemmt,
ſo muͤſſen wir uns nach den allgemeinen und beſonderen Huͤlfs-
mitteln umſehen. Jene ſind Lexika und deren Ergaͤnzung die
Syntax, dieſe Commentarien uͤber die vorliegende Schrift oder
ganze Gattungen derſelben. Der Gebrauch des Woͤrterbuches
tritt ein, wenn es zum richtigen Verſtehen an einer vollſtaͤn-
digen Einſicht des Sprachwerthes fehlt. Bei dem richtigen Ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0072" n="48"/>
aber rein fu&#x0364;r den Ausleger da &#x017F;ind, i&#x017F;t die <hi rendition="#g">die wahre voll</hi>-<lb/><hi rendition="#g">kommene Einheit des Wortes zu finden</hi>. Das einzelne<lb/>
Vorkommen des Wortes an einer gegebenen Stelle geho&#x0364;rt frei-<lb/>
lich der unendlich unbe&#x017F;timmten Mannigfaltigkeit und zu die&#x017F;er<lb/>
giebt es zu jener Einheit keinen andern Übergang als eine<lb/>
be&#x017F;timmte Vielheit unter welcher &#x017F;ie befaßt i&#x017F;t, und eine &#x017F;olche<lb/>
wieder muß nothwendig in Gegen&#x017F;a&#x0364;ze aufgehn. Allein im ein-<lb/>
zelnen Vorkommen i&#x017F;t das Wort nicht i&#x017F;olirt; es geht in &#x017F;einer<lb/>
Be&#x017F;timmtheit nicht aus &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t hervor, &#x017F;ondern aus &#x017F;einen<lb/>
Umgebungen, und wir du&#x0364;rfen nur die ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Einheit des<lb/>
Wortes mit die&#x017F;en zu&#x017F;ammenbringen um jedesmal das rechte zu<lb/>
finden. Die vollkommene Einheit des Wortes aber wa&#x0364;re &#x017F;eine<lb/>
Erkla&#x0364;rung und die i&#x017F;t eben &#x017F;o wenig als die vollkommene Er-<lb/>
kla&#x0364;rung der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde vorhanden. In den todten Sprachen<lb/>
nicht, weil wir ihre ganze Entwicklung noch nicht durch&#x017F;chaut<lb/>
haben, in den lebenden nicht, weil &#x017F;ie wirklich noch fortgeht.</p><lb/>
            <p>9. Wenn bei vorhandener Einheit eine Mannigfaltigkeit<lb/>
der Gebrauchswei&#x017F;e mo&#x0364;glich &#x017F;ein &#x017F;oll, &#x017F;o muß &#x017F;chon in der Ein-<lb/>
heit eine Mannigfaltigkeit &#x017F;ein, mehrere Hauptpunkte auf eine<lb/>
in gewi&#x017F;&#x017F;en Gra&#x0364;nzen ver&#x017F;chiebbare Wei&#x017F;e verbunden. Dieß<lb/>
muß der Sprach&#x017F;inn auf&#x017F;uchen, wo wir un&#x017F;icher werden, be-<lb/>
dienen wir uns des Wo&#x0364;rterbuches als Hu&#x0364;lfsmittel um uns am<lb/>
gemein&#x017F;amen Schaz der Sprachkenntniß zu orientiren. Die<lb/>
ver&#x017F;chiedenen dort vorkommenden Fa&#x0364;lle &#x017F;ollen nur ein ver&#x017F;ta&#x0364;ndi-<lb/>
ger Auszug &#x017F;ein, man muß &#x017F;ich die Punkte durch Überga&#x0364;nge<lb/>
verbinden um gleich&#x017F;am die ganze Kurve vor &#x017F;ich zu haben und<lb/>
den ge&#x017F;uchten Ort be&#x017F;timmen zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>I&#x017F;t das Ver&#x017F;ta&#x0364;ndniß eines Sazes aus &#x017F;einer Umgebung gehemmt,<lb/>
&#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir uns nach den allgemeinen und be&#x017F;onderen Hu&#x0364;lfs-<lb/>
mitteln um&#x017F;ehen. Jene &#x017F;ind Lexika und deren Erga&#x0364;nzung die<lb/>
Syntax, die&#x017F;e Commentarien u&#x0364;ber die vorliegende Schrift oder<lb/>
ganze Gattungen der&#x017F;elben. Der Gebrauch des Wo&#x0364;rterbuches<lb/>
tritt ein, wenn es zum richtigen Ver&#x017F;tehen an einer voll&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
digen Ein&#x017F;icht des Sprachwerthes fehlt. Bei dem richtigen Ge-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0072] aber rein fuͤr den Ausleger da ſind, iſt die die wahre voll- kommene Einheit des Wortes zu finden. Das einzelne Vorkommen des Wortes an einer gegebenen Stelle gehoͤrt frei- lich der unendlich unbeſtimmten Mannigfaltigkeit und zu dieſer giebt es zu jener Einheit keinen andern Übergang als eine beſtimmte Vielheit unter welcher ſie befaßt iſt, und eine ſolche wieder muß nothwendig in Gegenſaͤze aufgehn. Allein im ein- zelnen Vorkommen iſt das Wort nicht iſolirt; es geht in ſeiner Beſtimmtheit nicht aus ſich ſelbſt hervor, ſondern aus ſeinen Umgebungen, und wir duͤrfen nur die urſpruͤngliche Einheit des Wortes mit dieſen zuſammenbringen um jedesmal das rechte zu finden. Die vollkommene Einheit des Wortes aber waͤre ſeine Erklaͤrung und die iſt eben ſo wenig als die vollkommene Er- klaͤrung der Gegenſtaͤnde vorhanden. In den todten Sprachen nicht, weil wir ihre ganze Entwicklung noch nicht durchſchaut haben, in den lebenden nicht, weil ſie wirklich noch fortgeht. 9. Wenn bei vorhandener Einheit eine Mannigfaltigkeit der Gebrauchsweiſe moͤglich ſein ſoll, ſo muß ſchon in der Ein- heit eine Mannigfaltigkeit ſein, mehrere Hauptpunkte auf eine in gewiſſen Graͤnzen verſchiebbare Weiſe verbunden. Dieß muß der Sprachſinn aufſuchen, wo wir unſicher werden, be- dienen wir uns des Woͤrterbuches als Huͤlfsmittel um uns am gemeinſamen Schaz der Sprachkenntniß zu orientiren. Die verſchiedenen dort vorkommenden Faͤlle ſollen nur ein verſtaͤndi- ger Auszug ſein, man muß ſich die Punkte durch Übergaͤnge verbinden um gleichſam die ganze Kurve vor ſich zu haben und den geſuchten Ort beſtimmen zu koͤnnen. Iſt das Verſtaͤndniß eines Sazes aus ſeiner Umgebung gehemmt, ſo muͤſſen wir uns nach den allgemeinen und beſonderen Huͤlfs- mitteln umſehen. Jene ſind Lexika und deren Ergaͤnzung die Syntax, dieſe Commentarien uͤber die vorliegende Schrift oder ganze Gattungen derſelben. Der Gebrauch des Woͤrterbuches tritt ein, wenn es zum richtigen Verſtehen an einer vollſtaͤn- digen Einſicht des Sprachwerthes fehlt. Bei dem richtigen Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/72
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/72>, abgerufen am 29.03.2024.