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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Oft ist Schuld am Mißverstande, wenn schon vorhandenen Aus-
drücken eine besondere Bedeutung beigelegt wird. Da fällt die
Schuld meist auf den Verfasser, den wir dunkel nennen, wenn er
gangbaren Bezeichnungen einen eigenthümlichen Werth beilegt, ohne
daß dieser bestimmt aus dem Zusammenhang entwickelt werden
kann 1). -- Die neugebildeten Wörter sind aber eben so wenig
als die technischen Ausnahmen, da sie aus dem gemeinsamen
Sprachgebiete genommen und verstanden werden müssen. In
Beziehung aber auf die Archaismen und Neologismen in der
Sprache gilt, daß man sich mit der Geschichte der Sprache in
ihren verschiedenen Perioden bekannt macht. Bei Homer und
den Tragikern z. B. muß gefragt werden, ob die Verschiedenheit
ihrer Sprache in der Gattung oder Sprache selbst oder in beiden
liegt. Homers Sprache trat in den Alexandrinern wieder hervor.
Da kann man fragen, hat das Epos so lange geruht und trat
dann wieder hervor, oder sind die Werke der Alexandriner nur
Nachahmungen Homers? Je nachdem diese Frage verschieden be-
antwortet würde, müßte ein verschiedenes hermeneutisches Ver-
fahren entstehen. -- Ein richtiger Totalblick muß immer zum
Grunde liegen, wenn das Einzelne soll richtig verstanden werden.

5. In dem Ausdruck, daß wir uns des Sprachgebiets müssen
im Gegensaz gegen die übrigen organischen Theile der Rede bewußt
werden, liegt auch jenes, daß wir den Verfasser besser verstehen
als er selbst, denn in ihm ist vieles dieser Art unbewußt was
in uns ein bewußtes werden muß, theils schon im Allgemeinen
bei der ersten Übersicht theils im Einzelnen sobald Schwierig-
keiten entstehen.

1) Gelegentlich bemerkt hier Schleiermacher: Betrachten wir das gewohnte
Verfahren dieses Neubildens, so haben wir Ursache die Ausleger unserer
Litteratur zu bedauern, denn die Willkühr dabei ist so groß, daß weder
die logischen noch musikalischen Gesetze beobachtet werden. So entstehen
Sprachverderbnisse, welche die Sprache verwirren und die Auslegung
zweifelhaft machen. Wir können dagegen nichts weiter thun, als daß schlechte
neue Sprachbildungen nicht aufgenommen und verbreitet werden.

Oft iſt Schuld am Mißverſtande, wenn ſchon vorhandenen Aus-
druͤcken eine beſondere Bedeutung beigelegt wird. Da faͤllt die
Schuld meiſt auf den Verfaſſer, den wir dunkel nennen, wenn er
gangbaren Bezeichnungen einen eigenthuͤmlichen Werth beilegt, ohne
daß dieſer beſtimmt aus dem Zuſammenhang entwickelt werden
kann 1). — Die neugebildeten Woͤrter ſind aber eben ſo wenig
als die techniſchen Ausnahmen, da ſie aus dem gemeinſamen
Sprachgebiete genommen und verſtanden werden muͤſſen. In
Beziehung aber auf die Archaismen und Neologismen in der
Sprache gilt, daß man ſich mit der Geſchichte der Sprache in
ihren verſchiedenen Perioden bekannt macht. Bei Homer und
den Tragikern z. B. muß gefragt werden, ob die Verſchiedenheit
ihrer Sprache in der Gattung oder Sprache ſelbſt oder in beiden
liegt. Homers Sprache trat in den Alexandrinern wieder hervor.
Da kann man fragen, hat das Epos ſo lange geruht und trat
dann wieder hervor, oder ſind die Werke der Alexandriner nur
Nachahmungen Homers? Je nachdem dieſe Frage verſchieden be-
antwortet wuͤrde, muͤßte ein verſchiedenes hermeneutiſches Ver-
fahren entſtehen. — Ein richtiger Totalblick muß immer zum
Grunde liegen, wenn das Einzelne ſoll richtig verſtanden werden.

5. In dem Ausdruck, daß wir uns des Sprachgebiets muͤſſen
im Gegenſaz gegen die uͤbrigen organiſchen Theile der Rede bewußt
werden, liegt auch jenes, daß wir den Verfaſſer beſſer verſtehen
als er ſelbſt, denn in ihm iſt vieles dieſer Art unbewußt was
in uns ein bewußtes werden muß, theils ſchon im Allgemeinen
bei der erſten Überſicht theils im Einzelnen ſobald Schwierig-
keiten entſtehen.

1) Gelegentlich bemerkt hier Schleiermacher: Betrachten wir das gewohnte
Verfahren dieſes Neubildens, ſo haben wir Urſache die Ausleger unſerer
Litteratur zu bedauern, denn die Willkuͤhr dabei iſt ſo groß, daß weder
die logiſchen noch muſikaliſchen Geſetze beobachtet werden. So entſtehen
Sprachverderbniſſe, welche die Sprache verwirren und die Auslegung
zweifelhaft machen. Wir koͤnnen dagegen nichts weiter thun, als daß ſchlechte
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[45/0069] Oft iſt Schuld am Mißverſtande, wenn ſchon vorhandenen Aus- druͤcken eine beſondere Bedeutung beigelegt wird. Da faͤllt die Schuld meiſt auf den Verfaſſer, den wir dunkel nennen, wenn er gangbaren Bezeichnungen einen eigenthuͤmlichen Werth beilegt, ohne daß dieſer beſtimmt aus dem Zuſammenhang entwickelt werden kann 1). — Die neugebildeten Woͤrter ſind aber eben ſo wenig als die techniſchen Ausnahmen, da ſie aus dem gemeinſamen Sprachgebiete genommen und verſtanden werden muͤſſen. In Beziehung aber auf die Archaismen und Neologismen in der Sprache gilt, daß man ſich mit der Geſchichte der Sprache in ihren verſchiedenen Perioden bekannt macht. Bei Homer und den Tragikern z. B. muß gefragt werden, ob die Verſchiedenheit ihrer Sprache in der Gattung oder Sprache ſelbſt oder in beiden liegt. Homers Sprache trat in den Alexandrinern wieder hervor. Da kann man fragen, hat das Epos ſo lange geruht und trat dann wieder hervor, oder ſind die Werke der Alexandriner nur Nachahmungen Homers? Je nachdem dieſe Frage verſchieden be- antwortet wuͤrde, muͤßte ein verſchiedenes hermeneutiſches Ver- fahren entſtehen. — Ein richtiger Totalblick muß immer zum Grunde liegen, wenn das Einzelne ſoll richtig verſtanden werden. 5. In dem Ausdruck, daß wir uns des Sprachgebiets muͤſſen im Gegenſaz gegen die uͤbrigen organiſchen Theile der Rede bewußt werden, liegt auch jenes, daß wir den Verfaſſer beſſer verſtehen als er ſelbſt, denn in ihm iſt vieles dieſer Art unbewußt was in uns ein bewußtes werden muß, theils ſchon im Allgemeinen bei der erſten Überſicht theils im Einzelnen ſobald Schwierig- keiten entſtehen. 1) Gelegentlich bemerkt hier Schleiermacher: Betrachten wir das gewohnte Verfahren dieſes Neubildens, ſo haben wir Urſache die Ausleger unſerer Litteratur zu bedauern, denn die Willkuͤhr dabei iſt ſo groß, daß weder die logiſchen noch muſikaliſchen Geſetze beobachtet werden. So entſtehen Sprachverderbniſſe, welche die Sprache verwirren und die Auslegung zweifelhaft machen. Wir koͤnnen dagegen nichts weiter thun, als daß ſchlechte neue Sprachbildungen nicht aufgenommen und verbreitet werden.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/69>, abgerufen am 20.04.2024.