und divinatorische (profetische) objective und sub- jective Nachconstruiren der gegebenen Rede.
1. Objectiv geschichtlich heißt einsehen wie sich die Rede in der Gesammtheit der Sprache und das in ihr einge- schlossene Wissen als ein Erzeugniß der Sprache verhält. Ob- jectiv divinatorisch heißt ahnden wie die Rede selbst ein Entwickelungspunkt für die Sprache werden wird. Ohne beides ist qualitativer und quantitativer Mißverstand nicht zu vermeiden.
2. Subjectiv geschichtlich heißt wissen wie die Rede als Thatsache im Gemüth gegeben ist, subjectiv divinatorisch heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides eben so Mißverstand unvermeidlich.
3. Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß dessen haben, was in ihm ist, so müssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen was ihm unbewußt bleiben kann außer sofern er selbst reflektirend sein eigen[ - 1 Zeichen fehlt]r Leser wird. Auf der objectiven Seite hat er auch hier kein andern Data als wir.
4. Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche, weil es ein unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen. Daher ist auch diese Kunst ebenfalls einer Begeisterung fähig wie jede andere. In dem Maaße als eine Schrift diese Begeisterung nicht erregt ist sie unbedeutend. -- Wie weit man aber und auf welche Seite vorzüglich man mit der Annäherung gehen will, das muß jedenfalls praktisch entschieden werden, und gehört höch- stens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.
19. Vor der Anwendung der Kunst muß hergehen, daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem Urheber gleichstellt.
und divinatoriſche (profetiſche) objective und ſub- jective Nachconſtruiren der gegebenen Rede.
1. Objectiv geſchichtlich heißt einſehen wie ſich die Rede in der Geſammtheit der Sprache und das in ihr einge- ſchloſſene Wiſſen als ein Erzeugniß der Sprache verhaͤlt. Ob- jectiv divinatoriſch heißt ahnden wie die Rede ſelbſt ein Entwickelungspunkt fuͤr die Sprache werden wird. Ohne beides iſt qualitativer und quantitativer Mißverſtand nicht zu vermeiden.
2. Subjectiv geſchichtlich heißt wiſſen wie die Rede als Thatſache im Gemuͤth gegeben iſt, ſubjectiv divinatoriſch heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides eben ſo Mißverſtand unvermeidlich.
3. Die Aufgabe iſt auch ſo auszudruͤcken, die Rede zuerſt eben ſo gut und dann beſſer zu verſtehen als ihr Urheber. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß deſſen haben, was in ihm iſt, ſo muͤſſen wir vieles zum Bewußtſein zu bringen ſuchen was ihm unbewußt bleiben kann außer ſofern er ſelbſt reflektirend ſein eigen[ – 1 Zeichen fehlt]r Leſer wird. Auf der objectiven Seite hat er auch hier kein andern Data als wir.
4. Die Aufgabe iſt ſo geſtellt eine unendliche, weil es ein unendliches der Vergangenheit und Zukunft iſt, was wir in dem Moment der Rede ſehen wollen. Daher iſt auch dieſe Kunſt ebenfalls einer Begeiſterung faͤhig wie jede andere. In dem Maaße als eine Schrift dieſe Begeiſterung nicht erregt iſt ſie unbedeutend. — Wie weit man aber und auf welche Seite vorzuͤglich man mit der Annaͤherung gehen will, das muß jedenfalls praktiſch entſchieden werden, und gehoͤrt hoͤch- ſtens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.
19. Vor der Anwendung der Kunſt muß hergehen, daß man ſich auf der objectiven und ſubjectiven Seite dem Urheber gleichſtellt.
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Entwickelungspunkt fuͤr die Sprache werden wird. Ohne beides
iſt qualitativer und quantitativer Mißverſtand nicht zu vermeiden.
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in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides
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4. Die Aufgabe iſt ſo geſtellt eine unendliche, weil es ein
unendliches der Vergangenheit und Zukunft iſt, was wir in
dem Moment der Rede ſehen wollen. Daher iſt auch dieſe
Kunſt ebenfalls einer Begeiſterung faͤhig wie jede andere. In
dem Maaße als eine Schrift dieſe Begeiſterung nicht erregt
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Seite vorzuͤglich man mit der Annaͤherung gehen will, das
muß jedenfalls praktiſch entſchieden werden, und gehoͤrt hoͤch-
ſtens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.
19. Vor der Anwendung der Kunſt muß hergehen,
daß man ſich auf der objectiven und ſubjectiven Seite dem
Urheber gleichſtellt.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/56>, abgerufen am 24.04.2024.
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