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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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2. Es ist auch nicht bloß die Schrift. Sonst müßte die
Kunst nur nothwendig werden durch den Unterschied zwischen
Schrift und Rede, d. h. durch das Fehlen der lebendigen Stimme
und durch den Mangel anderweitiger persönlicher Einwirkungen.
Die lezten aber bedürfen selbst wieder der Auslegung und diese
bleibt immer unsicher. Die lebendige Stimme erleichtert freilich
das Verständniß sehr, aber der Schreibende muß darauf Rück-
sicht nehmen (daß er nicht spricht). Thut er dieß, so müßte
die Auslegungskunst dann auch überflüssig sein, welches doch
nicht der Fall ist. Also beruhet ihre Nothwendigkeit auch wo
er jenes nicht gethan nicht bloß auf diesem Unterschiede.

Zusaz 1). Daß sich aber die Kunst der Auslegung aller-
dings mehr auf Schrift als Rede bezieht, kommt daher weil
der mündlichen Rede in der Regel vieles zu Hülfe kommt wo-
durch ein unmittelbares Verständniß gegeben wird, was der
Schrift abgeht, und weil man -- besonders von den verein-
zelten Regeln, die man ohnehin nicht im Gedächtniß fest-
hält, bei der vorübergehenden Rede keinen Gebrauch machen
kann.

3. Wenn nun Rede und Schrift sich so verhalten, so bleibt
kein anderer Unterschied als der bezeichnete übrig, und es folgt
daß auch die kunstgerechte Auslegung kein anderes Ziel hat,
als welches wir beim Anhören jeder gemeinen Rede haben.

15. Die laxere Praxis in der Kunst geht davon aus,
daß sich das Verstehen von selbst ergiebt und drückt das Ziel
negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden.

1. Ihre Voraussetzung beruht darauf, daß sie sich vornehm-
lich mit dem unbedeutenden abgiebt oder wenigstens nur um
eines gewissen Interesse willen verstehen will und sich daher
leicht auszuführende Grenzen sezt.

2. Auch sie muß indeß in schwierigen Fällen zur Kunst

1) Aus der Randbem. und der Vorlesung v. J. 1828.

2. Es iſt auch nicht bloß die Schrift. Sonſt muͤßte die
Kunſt nur nothwendig werden durch den Unterſchied zwiſchen
Schrift und Rede, d. h. durch das Fehlen der lebendigen Stimme
und durch den Mangel anderweitiger perſoͤnlicher Einwirkungen.
Die lezten aber beduͤrfen ſelbſt wieder der Auslegung und dieſe
bleibt immer unſicher. Die lebendige Stimme erleichtert freilich
das Verſtaͤndniß ſehr, aber der Schreibende muß darauf Ruͤck-
ſicht nehmen (daß er nicht ſpricht). Thut er dieß, ſo muͤßte
die Auslegungskunſt dann auch uͤberfluͤſſig ſein, welches doch
nicht der Fall iſt. Alſo beruhet ihre Nothwendigkeit auch wo
er jenes nicht gethan nicht bloß auf dieſem Unterſchiede.

Zuſaz 1). Daß ſich aber die Kunſt der Auslegung aller-
dings mehr auf Schrift als Rede bezieht, kommt daher weil
der muͤndlichen Rede in der Regel vieles zu Huͤlfe kommt wo-
durch ein unmittelbares Verſtaͤndniß gegeben wird, was der
Schrift abgeht, und weil man — beſonders von den verein-
zelten Regeln, die man ohnehin nicht im Gedaͤchtniß feſt-
haͤlt, bei der voruͤbergehenden Rede keinen Gebrauch machen
kann.

3. Wenn nun Rede und Schrift ſich ſo verhalten, ſo bleibt
kein anderer Unterſchied als der bezeichnete uͤbrig, und es folgt
daß auch die kunſtgerechte Auslegung kein anderes Ziel hat,
als welches wir beim Anhoͤren jeder gemeinen Rede haben.

15. Die laxere Praxis in der Kunſt geht davon aus,
daß ſich das Verſtehen von ſelbſt ergiebt und druͤckt das Ziel
negativ aus: Mißverſtand ſoll vermieden werden.

1. Ihre Vorausſetzung beruht darauf, daß ſie ſich vornehm-
lich mit dem unbedeutenden abgiebt oder wenigſtens nur um
eines gewiſſen Intereſſe willen verſtehen will und ſich daher
leicht auszufuͤhrende Grenzen ſezt.

2. Auch ſie muß indeß in ſchwierigen Faͤllen zur Kunſt

1) Aus der Randbem. und der Vorleſung v. J. 1828.
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[29/0053] 2. Es iſt auch nicht bloß die Schrift. Sonſt muͤßte die Kunſt nur nothwendig werden durch den Unterſchied zwiſchen Schrift und Rede, d. h. durch das Fehlen der lebendigen Stimme und durch den Mangel anderweitiger perſoͤnlicher Einwirkungen. Die lezten aber beduͤrfen ſelbſt wieder der Auslegung und dieſe bleibt immer unſicher. Die lebendige Stimme erleichtert freilich das Verſtaͤndniß ſehr, aber der Schreibende muß darauf Ruͤck- ſicht nehmen (daß er nicht ſpricht). Thut er dieß, ſo muͤßte die Auslegungskunſt dann auch uͤberfluͤſſig ſein, welches doch nicht der Fall iſt. Alſo beruhet ihre Nothwendigkeit auch wo er jenes nicht gethan nicht bloß auf dieſem Unterſchiede. Zuſaz 1). Daß ſich aber die Kunſt der Auslegung aller- dings mehr auf Schrift als Rede bezieht, kommt daher weil der muͤndlichen Rede in der Regel vieles zu Huͤlfe kommt wo- durch ein unmittelbares Verſtaͤndniß gegeben wird, was der Schrift abgeht, und weil man — beſonders von den verein- zelten Regeln, die man ohnehin nicht im Gedaͤchtniß feſt- haͤlt, bei der voruͤbergehenden Rede keinen Gebrauch machen kann. 3. Wenn nun Rede und Schrift ſich ſo verhalten, ſo bleibt kein anderer Unterſchied als der bezeichnete uͤbrig, und es folgt daß auch die kunſtgerechte Auslegung kein anderes Ziel hat, als welches wir beim Anhoͤren jeder gemeinen Rede haben. 15. Die laxere Praxis in der Kunſt geht davon aus, daß ſich das Verſtehen von ſelbſt ergiebt und druͤckt das Ziel negativ aus: Mißverſtand ſoll vermieden werden. 1. Ihre Vorausſetzung beruht darauf, daß ſie ſich vornehm- lich mit dem unbedeutenden abgiebt oder wenigſtens nur um eines gewiſſen Intereſſe willen verſtehen will und ſich daher leicht auszufuͤhrende Grenzen ſezt. 2. Auch ſie muß indeß in ſchwierigen Faͤllen zur Kunſt 1) Aus der Randbem. und der Vorleſung v. J. 1828.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/53>, abgerufen am 28.03.2024.