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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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wir Differenzen finden, da geht das Specielle an. Bei einer di-
daktischen Auseinandersetzung z. B. und einer lyrischen Dichtung
sind trotz dem, daß beide Aneinanderreihungen von Gedanken sind,
die Gesetze des Fortschreitens verschieden. So sind in Beziehung
auf sie auch die hermeneutischen Regeln verschieden und wir sind
im Gebiete der speciellen Hermeneutik.

Die Frage nun, ob und inwiefern die neutest. Hermeneutik
eine specielle sei wird so beantwortet. Von der sprachlichen Seite
scheint sie keine specielle zu sein, denn diese ist zunächst auf die grie-
chische Sprache zu beziehen, von der psychologischen Seite aber erscheint
das N. T. nicht als Eins, sondern es ist zu unterscheiden zwischen
didaktischen und historischen Schriften. Dieß sind verschiedene Gattun-
gen, die allerdings verschiedene hermeneutische Regeln fordern. Aber
daraus entsteht noch keine specielle Hermeneutik. Gleichwohl ist die
neutestam. Hermeneutik eine specielle, aber nur in Beziehung auf
das zusammengesetzte Sprachgebiet oder den hebraisirenden Sprach-
charakter. Die neutest. Schriftsteller waren nicht gewohnt in der
griechischen Sprache zu denken, wenigstens nicht über religiöse Ge-
genstände. Diese Beschränkung gilt dem Lukas, der ein geborener
Grieche gewesen sein kann. Aber selbst die Griechen waren auf
dem Gebiete des Hebraismus Christen geworden. Nun giebt es
in jeder Sprache eine Menge von Verschiedenheiten, örtlich, ver-
schiedene Dialekte im weitesten Sinne, zeitlich, verschiedene Sprach-
perioden. In jeder ist die Sprache eine andere. Dieß erfordert
specielle Regeln, die sich auf die specielle Grammatik verschiedener
Zeiträume und Orte beziehen. Doch dieß ist noch allgemeiner an-
wendbar. Denn wenn in einem Volke eine geistige Entwickelung
vorgeht, so entsteht auch eine neue Sprachentwickelung. Wie nun
jedes neue geistige Princip sprachbildend wird, so auch der christ-
liche Geist. Aber daraus entsteht sonst keine specielle Hermeneutik.
Beginnt ein Volk zu philosophiren, so zeigt es eine große Sprach-
entwickelung, aber es bedarf keiner speciellen Hermeneutik. Der
neue christliche Geist aber tritt im N. T. hervor in einer Sprach-
mischung, in der das hebräische der Stamm ist, worin das neue

wir Differenzen finden, da geht das Specielle an. Bei einer di-
daktiſchen Auseinanderſetzung z. B. und einer lyriſchen Dichtung
ſind trotz dem, daß beide Aneinanderreihungen von Gedanken ſind,
die Geſetze des Fortſchreitens verſchieden. So ſind in Beziehung
auf ſie auch die hermeneutiſchen Regeln verſchieden und wir ſind
im Gebiete der ſpeciellen Hermeneutik.

Die Frage nun, ob und inwiefern die neuteſt. Hermeneutik
eine ſpecielle ſei wird ſo beantwortet. Von der ſprachlichen Seite
ſcheint ſie keine ſpecielle zu ſein, denn dieſe iſt zunaͤchſt auf die grie-
chiſche Sprache zu beziehen, von der pſychologiſchen Seite aber erſcheint
das N. T. nicht als Eins, ſondern es iſt zu unterſcheiden zwiſchen
didaktiſchen und hiſtoriſchen Schriften. Dieß ſind verſchiedene Gattun-
gen, die allerdings verſchiedene hermeneutiſche Regeln fordern. Aber
daraus entſteht noch keine ſpecielle Hermeneutik. Gleichwohl iſt die
neuteſtam. Hermeneutik eine ſpecielle, aber nur in Beziehung auf
das zuſammengeſetzte Sprachgebiet oder den hebraiſirenden Sprach-
charakter. Die neuteſt. Schriftſteller waren nicht gewohnt in der
griechiſchen Sprache zu denken, wenigſtens nicht uͤber religioͤſe Ge-
genſtaͤnde. Dieſe Beſchraͤnkung gilt dem Lukas, der ein geborener
Grieche geweſen ſein kann. Aber ſelbſt die Griechen waren auf
dem Gebiete des Hebraismus Chriſten geworden. Nun giebt es
in jeder Sprache eine Menge von Verſchiedenheiten, oͤrtlich, ver-
ſchiedene Dialekte im weiteſten Sinne, zeitlich, verſchiedene Sprach-
perioden. In jeder iſt die Sprache eine andere. Dieß erfordert
ſpecielle Regeln, die ſich auf die ſpecielle Grammatik verſchiedener
Zeitraͤume und Orte beziehen. Doch dieß iſt noch allgemeiner an-
wendbar. Denn wenn in einem Volke eine geiſtige Entwickelung
vorgeht, ſo entſteht auch eine neue Sprachentwickelung. Wie nun
jedes neue geiſtige Princip ſprachbildend wird, ſo auch der chriſt-
liche Geiſt. Aber daraus entſteht ſonſt keine ſpecielle Hermeneutik.
Beginnt ein Volk zu philoſophiren, ſo zeigt es eine große Sprach-
entwickelung, aber es bedarf keiner ſpeciellen Hermeneutik. Der
neue chriſtliche Geiſt aber tritt im N. T. hervor in einer Sprach-
miſchung, in der das hebraͤiſche der Stamm iſt, worin das neue

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[27/0051] wir Differenzen finden, da geht das Specielle an. Bei einer di- daktiſchen Auseinanderſetzung z. B. und einer lyriſchen Dichtung ſind trotz dem, daß beide Aneinanderreihungen von Gedanken ſind, die Geſetze des Fortſchreitens verſchieden. So ſind in Beziehung auf ſie auch die hermeneutiſchen Regeln verſchieden und wir ſind im Gebiete der ſpeciellen Hermeneutik. Die Frage nun, ob und inwiefern die neuteſt. Hermeneutik eine ſpecielle ſei wird ſo beantwortet. Von der ſprachlichen Seite ſcheint ſie keine ſpecielle zu ſein, denn dieſe iſt zunaͤchſt auf die grie- chiſche Sprache zu beziehen, von der pſychologiſchen Seite aber erſcheint das N. T. nicht als Eins, ſondern es iſt zu unterſcheiden zwiſchen didaktiſchen und hiſtoriſchen Schriften. Dieß ſind verſchiedene Gattun- gen, die allerdings verſchiedene hermeneutiſche Regeln fordern. Aber daraus entſteht noch keine ſpecielle Hermeneutik. Gleichwohl iſt die neuteſtam. Hermeneutik eine ſpecielle, aber nur in Beziehung auf das zuſammengeſetzte Sprachgebiet oder den hebraiſirenden Sprach- charakter. Die neuteſt. Schriftſteller waren nicht gewohnt in der griechiſchen Sprache zu denken, wenigſtens nicht uͤber religioͤſe Ge- genſtaͤnde. Dieſe Beſchraͤnkung gilt dem Lukas, der ein geborener Grieche geweſen ſein kann. Aber ſelbſt die Griechen waren auf dem Gebiete des Hebraismus Chriſten geworden. Nun giebt es in jeder Sprache eine Menge von Verſchiedenheiten, oͤrtlich, ver- ſchiedene Dialekte im weiteſten Sinne, zeitlich, verſchiedene Sprach- perioden. In jeder iſt die Sprache eine andere. Dieß erfordert ſpecielle Regeln, die ſich auf die ſpecielle Grammatik verſchiedener Zeitraͤume und Orte beziehen. Doch dieß iſt noch allgemeiner an- wendbar. Denn wenn in einem Volke eine geiſtige Entwickelung vorgeht, ſo entſteht auch eine neue Sprachentwickelung. Wie nun jedes neue geiſtige Princip ſprachbildend wird, ſo auch der chriſt- liche Geiſt. Aber daraus entſteht ſonſt keine ſpecielle Hermeneutik. Beginnt ein Volk zu philoſophiren, ſo zeigt es eine große Sprach- entwickelung, aber es bedarf keiner ſpeciellen Hermeneutik. Der neue chriſtliche Geiſt aber tritt im N. T. hervor in einer Sprach- miſchung, in der das hebraͤiſche der Stamm iſt, worin das neue

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/51>, abgerufen am 19.04.2024.