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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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die Ungleichheit und Mannigfaltigkeit in der Behandlung des Sazes
kann wieder bei verschiedenen Sprachfamilien gleich sein so daß
Gruppirungen entstehen. So kann es wieder für jede Sprach-
familie eine gemeinsame Hermeneutik geben. Ferner erkennen wir
verschiedene Arten die Sprache zu behandeln für verschiedene Denk-
akte. So können in derselben Sprache sprachliche Differenzen
entstehen z. B. in der Prosa und Poesie. Diese Differenzen
können aber wiederum in verschiedenen Sprachen dieselben sein.
Bei der Prosa will ich die strenge Bestimmung des Seins auf
das Denken, die Poesie ist aber das Denken in seinem freien Spiel.
So habe ich auf dieser Seite weit mehr Psychologisches, während
in der Prosa das Subject mehr zurücktritt. Hier entwickeln sich
zwei verschiedene Gebiete des Speciellen, das eine, welches sich
auf die Verschiedenheit in der Construction der Sprache, das an-
dere, welches sich auf die Verschiedenheit des Denkaktes bezieht. --
Was diese letztere betrifft, so verhält sich das Allgemeine und Be-
sondere bei der Auslegung eines einzelnen Schriftstellers auf fol-
gende Weise. Sofern die Denkakte des Einzelnen in allem auf
gleiche Weise die ganze Lebensbestimmtheit oder Lebensfunktion des
Einzelnen ausdrücken, werden auch die Gesetze der psychologischen
Interpretation dieselben sein. Sobald ich mir aber eine Ungleichheit
denke und nicht in dem Denkakte selbst den Schlüssel finde, son-
dern dabei noch auf Anderes Rücksicht nehmen muß, geht das
Gebiet des Speciellen an. So ist freilich das Gebiet des Allge-
meinen nicht sehr groß. Darum hat die Hermeneutik auch immer
bei dem Speciellen angefangen und ist dabei stehen geblieben. Gehen
wir nun davon aus daß die Rede ein Lebensmoment ist, so muß
ich den ganzen Zusammenhang aufsuchen und fragen, wie ist das
Individuum bewogen, die Rede aufzustellen (Anlaß), und auf wel-
chen folgenden Moment ist die Rede gerichtet gewesen, (Zweck).
Da die Rede ein Mannigfaltiges ist, so kann sie obwohl bei dem-
selben Anlaß und Zweck dennoch ein Verschiedenes sein. Wir müs-
sen sie also zerlegen und sagen, das Allgemeine geht nur so weit
als die Gesetze des Fortschreitens im Denken dieselben sind, wo

die Ungleichheit und Mannigfaltigkeit in der Behandlung des Sazes
kann wieder bei verſchiedenen Sprachfamilien gleich ſein ſo daß
Gruppirungen entſtehen. So kann es wieder fuͤr jede Sprach-
familie eine gemeinſame Hermeneutik geben. Ferner erkennen wir
verſchiedene Arten die Sprache zu behandeln fuͤr verſchiedene Denk-
akte. So koͤnnen in derſelben Sprache ſprachliche Differenzen
entſtehen z. B. in der Proſa und Poeſie. Dieſe Differenzen
koͤnnen aber wiederum in verſchiedenen Sprachen dieſelben ſein.
Bei der Proſa will ich die ſtrenge Beſtimmung des Seins auf
das Denken, die Poeſie iſt aber das Denken in ſeinem freien Spiel.
So habe ich auf dieſer Seite weit mehr Pſychologiſches, waͤhrend
in der Proſa das Subject mehr zuruͤcktritt. Hier entwickeln ſich
zwei verſchiedene Gebiete des Speciellen, das eine, welches ſich
auf die Verſchiedenheit in der Conſtruction der Sprache, das an-
dere, welches ſich auf die Verſchiedenheit des Denkaktes bezieht. —
Was dieſe letztere betrifft, ſo verhaͤlt ſich das Allgemeine und Be-
ſondere bei der Auslegung eines einzelnen Schriftſtellers auf fol-
gende Weiſe. Sofern die Denkakte des Einzelnen in allem auf
gleiche Weiſe die ganze Lebensbeſtimmtheit oder Lebensfunktion des
Einzelnen ausdruͤcken, werden auch die Geſetze der pſychologiſchen
Interpretation dieſelben ſein. Sobald ich mir aber eine Ungleichheit
denke und nicht in dem Denkakte ſelbſt den Schluͤſſel finde, ſon-
dern dabei noch auf Anderes Ruͤckſicht nehmen muß, geht das
Gebiet des Speciellen an. So iſt freilich das Gebiet des Allge-
meinen nicht ſehr groß. Darum hat die Hermeneutik auch immer
bei dem Speciellen angefangen und iſt dabei ſtehen geblieben. Gehen
wir nun davon aus daß die Rede ein Lebensmoment iſt, ſo muß
ich den ganzen Zuſammenhang aufſuchen und fragen, wie iſt das
Individuum bewogen, die Rede aufzuſtellen (Anlaß), und auf wel-
chen folgenden Moment iſt die Rede gerichtet geweſen, (Zweck).
Da die Rede ein Mannigfaltiges iſt, ſo kann ſie obwohl bei dem-
ſelben Anlaß und Zweck dennoch ein Verſchiedenes ſein. Wir muͤſ-
ſen ſie alſo zerlegen und ſagen, das Allgemeine geht nur ſo weit
als die Geſetze des Fortſchreitens im Denken dieſelben ſind, wo

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[26/0050] die Ungleichheit und Mannigfaltigkeit in der Behandlung des Sazes kann wieder bei verſchiedenen Sprachfamilien gleich ſein ſo daß Gruppirungen entſtehen. So kann es wieder fuͤr jede Sprach- familie eine gemeinſame Hermeneutik geben. Ferner erkennen wir verſchiedene Arten die Sprache zu behandeln fuͤr verſchiedene Denk- akte. So koͤnnen in derſelben Sprache ſprachliche Differenzen entſtehen z. B. in der Proſa und Poeſie. Dieſe Differenzen koͤnnen aber wiederum in verſchiedenen Sprachen dieſelben ſein. Bei der Proſa will ich die ſtrenge Beſtimmung des Seins auf das Denken, die Poeſie iſt aber das Denken in ſeinem freien Spiel. So habe ich auf dieſer Seite weit mehr Pſychologiſches, waͤhrend in der Proſa das Subject mehr zuruͤcktritt. Hier entwickeln ſich zwei verſchiedene Gebiete des Speciellen, das eine, welches ſich auf die Verſchiedenheit in der Conſtruction der Sprache, das an- dere, welches ſich auf die Verſchiedenheit des Denkaktes bezieht. — Was dieſe letztere betrifft, ſo verhaͤlt ſich das Allgemeine und Be- ſondere bei der Auslegung eines einzelnen Schriftſtellers auf fol- gende Weiſe. Sofern die Denkakte des Einzelnen in allem auf gleiche Weiſe die ganze Lebensbeſtimmtheit oder Lebensfunktion des Einzelnen ausdruͤcken, werden auch die Geſetze der pſychologiſchen Interpretation dieſelben ſein. Sobald ich mir aber eine Ungleichheit denke und nicht in dem Denkakte ſelbſt den Schluͤſſel finde, ſon- dern dabei noch auf Anderes Ruͤckſicht nehmen muß, geht das Gebiet des Speciellen an. So iſt freilich das Gebiet des Allge- meinen nicht ſehr groß. Darum hat die Hermeneutik auch immer bei dem Speciellen angefangen und iſt dabei ſtehen geblieben. Gehen wir nun davon aus daß die Rede ein Lebensmoment iſt, ſo muß ich den ganzen Zuſammenhang aufſuchen und fragen, wie iſt das Individuum bewogen, die Rede aufzuſtellen (Anlaß), und auf wel- chen folgenden Moment iſt die Rede gerichtet geweſen, (Zweck). Da die Rede ein Mannigfaltiges iſt, ſo kann ſie obwohl bei dem- ſelben Anlaß und Zweck dennoch ein Verſchiedenes ſein. Wir muͤſ- ſen ſie alſo zerlegen und ſagen, das Allgemeine geht nur ſo weit als die Geſetze des Fortſchreitens im Denken dieſelben ſind, wo

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/50>, abgerufen am 20.04.2024.