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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Schrift. Hier wird also schon Kritik erfordert. Aber auch
die ersten Leser der apostolischen Briefe hätten müssen von
dem Gedanken an die Verfasser und von Anwendung ihrer
Kenntniß derselben abstrahiren und wären mithin in die tiefste
Verwirrung versunken. Fragt man nun noch dazu, weshalb
entstand nicht die Schrift ganz wunderbarer Weise ohne Men-
schen anzuwenden, so muß man sagen, der göttliche Geist kann
diese Methode (nemlich durch Menschen) nur gewählt haben,
wenn er wollte, daß alles sollte auf die angegebenen Verfasser
zurückgeführt werden. Darum kann auch dieß nur die richtige
Auslegung sein. Von der grammatischen Seite gilt dasselbe.
Dann aber muß auch alles Einzelne rein menschlich behandelt
werden und die Wirksamkeit bleibt nur der innerliche Impuls. --
Andere Vorstellungen, welche einiges einzelne z. B. Bewahrung
vor Irrthümern dem Geiste zuschreiben das übrige aber nicht,
sind unhaltbar. Dabei müßte der Fortgang als gehemmt ge-
dacht werden, das richtige an die Stelle tretende aber wieder
dem Verfasser zufallend. Ob der Inspiration wegen alles sich
auf die ganze Kirche beziehen muß? Nein. Die unmittelba-
ren Empfänger hätten dann immer unrichtig auslegen müssen,
und viel richtiger hätte dann der heilige Geist gehandelt, wenn
die heiligen Schriften keine Gelegenheitsschriften gewesen wären.
Also grammatisch und psychologisch bleibt alles bei den allge-
meinen Regeln. In wie fern sich aber weiter eine Special-
hermeneutik der heiligen Schrift ergiebt, das kann erst später
untersucht werden.

In der Vorlesung von 1832 wird dieser Punkt gleich hier erör-
tert und die Grenze zwischen der allgemeinen und speciellen Her-
meneutik überhaupt genauer bestimmt, mit besonderer Anwendung
auf das N. T. 1). Schl. sagt: Gehen wir auf die hermeneutische
Aufgabe in ihrer Ursprünglichkeit zurück, nemlich die Rede als
Denkakt in einer gegebenen Sprache, so kommen wir auf den

1) Im Auszuge mitgetheilt.

Schrift. Hier wird alſo ſchon Kritik erfordert. Aber auch
die erſten Leſer der apoſtoliſchen Briefe haͤtten muͤſſen von
dem Gedanken an die Verfaſſer und von Anwendung ihrer
Kenntniß derſelben abſtrahiren und waͤren mithin in die tiefſte
Verwirrung verſunken. Fragt man nun noch dazu, weshalb
entſtand nicht die Schrift ganz wunderbarer Weiſe ohne Men-
ſchen anzuwenden, ſo muß man ſagen, der goͤttliche Geiſt kann
dieſe Methode (nemlich durch Menſchen) nur gewaͤhlt haben,
wenn er wollte, daß alles ſollte auf die angegebenen Verfaſſer
zuruͤckgefuͤhrt werden. Darum kann auch dieß nur die richtige
Auslegung ſein. Von der grammatiſchen Seite gilt daſſelbe.
Dann aber muß auch alles Einzelne rein menſchlich behandelt
werden und die Wirkſamkeit bleibt nur der innerliche Impuls. —
Andere Vorſtellungen, welche einiges einzelne z. B. Bewahrung
vor Irrthuͤmern dem Geiſte zuſchreiben das uͤbrige aber nicht,
ſind unhaltbar. Dabei muͤßte der Fortgang als gehemmt ge-
dacht werden, das richtige an die Stelle tretende aber wieder
dem Verfaſſer zufallend. Ob der Inſpiration wegen alles ſich
auf die ganze Kirche beziehen muß? Nein. Die unmittelba-
ren Empfaͤnger haͤtten dann immer unrichtig auslegen muͤſſen,
und viel richtiger haͤtte dann der heilige Geiſt gehandelt, wenn
die heiligen Schriften keine Gelegenheitsſchriften geweſen waͤren.
Alſo grammatiſch und pſychologiſch bleibt alles bei den allge-
meinen Regeln. In wie fern ſich aber weiter eine Special-
hermeneutik der heiligen Schrift ergiebt, das kann erſt ſpaͤter
unterſucht werden.

In der Vorleſung von 1832 wird dieſer Punkt gleich hier eroͤr-
tert und die Grenze zwiſchen der allgemeinen und ſpeciellen Her-
meneutik uͤberhaupt genauer beſtimmt, mit beſonderer Anwendung
auf das N. T. 1). Schl. ſagt: Gehen wir auf die hermeneutiſche
Aufgabe in ihrer Urſpruͤnglichkeit zuruͤck, nemlich die Rede als
Denkakt in einer gegebenen Sprache, ſo kommen wir auf den

1) Im Auszuge mitgetheilt.
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[24/0048] Schrift. Hier wird alſo ſchon Kritik erfordert. Aber auch die erſten Leſer der apoſtoliſchen Briefe haͤtten muͤſſen von dem Gedanken an die Verfaſſer und von Anwendung ihrer Kenntniß derſelben abſtrahiren und waͤren mithin in die tiefſte Verwirrung verſunken. Fragt man nun noch dazu, weshalb entſtand nicht die Schrift ganz wunderbarer Weiſe ohne Men- ſchen anzuwenden, ſo muß man ſagen, der goͤttliche Geiſt kann dieſe Methode (nemlich durch Menſchen) nur gewaͤhlt haben, wenn er wollte, daß alles ſollte auf die angegebenen Verfaſſer zuruͤckgefuͤhrt werden. Darum kann auch dieß nur die richtige Auslegung ſein. Von der grammatiſchen Seite gilt daſſelbe. Dann aber muß auch alles Einzelne rein menſchlich behandelt werden und die Wirkſamkeit bleibt nur der innerliche Impuls. — Andere Vorſtellungen, welche einiges einzelne z. B. Bewahrung vor Irrthuͤmern dem Geiſte zuſchreiben das uͤbrige aber nicht, ſind unhaltbar. Dabei muͤßte der Fortgang als gehemmt ge- dacht werden, das richtige an die Stelle tretende aber wieder dem Verfaſſer zufallend. Ob der Inſpiration wegen alles ſich auf die ganze Kirche beziehen muß? Nein. Die unmittelba- ren Empfaͤnger haͤtten dann immer unrichtig auslegen muͤſſen, und viel richtiger haͤtte dann der heilige Geiſt gehandelt, wenn die heiligen Schriften keine Gelegenheitsſchriften geweſen waͤren. Alſo grammatiſch und pſychologiſch bleibt alles bei den allge- meinen Regeln. In wie fern ſich aber weiter eine Special- hermeneutik der heiligen Schrift ergiebt, das kann erſt ſpaͤter unterſucht werden. In der Vorleſung von 1832 wird dieſer Punkt gleich hier eroͤr- tert und die Grenze zwiſchen der allgemeinen und ſpeciellen Her- meneutik uͤberhaupt genauer beſtimmt, mit beſonderer Anwendung auf das N. T. 1). Schl. ſagt: Gehen wir auf die hermeneutiſche Aufgabe in ihrer Urſpruͤnglichkeit zuruͤck, nemlich die Rede als Denkakt in einer gegebenen Sprache, ſo kommen wir auf den 1) Im Auszuge mitgetheilt.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/48>, abgerufen am 19.04.2024.