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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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führen, so lange das nicht ist, können wir nur aus inneren Grün-
den Beweis führen, nach der bezeichneten Methode, das Ein-
zelne nur in Beziehung auf den Gesammtzustand zu behandeln.

Die kritischen Untersuchungen haben im N. T. noch ein an-
deres Hinderniß. Wenn wir die Momente, aus denen die herr-
schenden Vorstellungen vertheidigt zu werden pflegen, genauer
betrachten, so finden wir, daß vieles als Zeugniß angesehen wird,
was nur Meinung gewesen. So wird die zweite Gefangenschaft
des Apostels Paulus von Vielen für eine bezeugte Thatsache ge-
halten. Allein bei genauerer Untersuchung fehlt es an allem Zeug-
niß dafür. Gäbe es Zeugnisse, so müßte man auch angeben kön-
nen, was der Apostel nach der in der Apostelgeschichte erzählten
Gefangenschaft gethan. Es giebt freilich spätere Nachrichten dar-
über, aber sie haben keine bezeugende Kraft. Wie die Ansicht
der Alten von der zweiten Gefangenschaft entstanden sein möge aus
der Voraussezung der Inspiration der heiligen Schrift, dieß haben
wir schon oben in der Hermeneutik zu erklären gesucht 1).

Noch ein Anderes kommt hier in Betracht, wo man recht
sehen kann, wie es der Kritik geht, wenn man ihr nicht freies
Feld läßt. Sie arbeitet dann nur gegen sich selbst.

Es waren gegen manche Paulinische Briefe Zweifel erhoben
worden, weil man sagte, es kämen Punkte darin vor, die sich
aus dem bekannten Gesammtzustande, aus dem Leben des Apo-
stels nicht erklären lassen. Wenn aber nur die Apostelgeschichte
nichts davon sagt, so ist das kein Grund, denn diese hat geschicht-
liche Lücken. Wenn aber gegen bestimmte Nachrichten Contrain-
dikationen in des Apostels Schriften vorkommen, so sind diese eben
nicht aus jenem Gesammtzustande zu begreifen, sie können daraus
nicht hervorgegangen sein. Da war die Befreiung des Apostels
aus der ersten Gefangenschaft ein sehr bequemes Auskunftsmittel;
sie sollte alle Contraindikationen aufheben. Allein da alle positive
Zeugnisse dafür fehlen, auch die Erklärung der ganzen Sache aus

1) S. 247.

fuͤhren, ſo lange das nicht iſt, koͤnnen wir nur aus inneren Gruͤn-
den Beweis fuͤhren, nach der bezeichneten Methode, das Ein-
zelne nur in Beziehung auf den Geſammtzuſtand zu behandeln.

Die kritiſchen Unterſuchungen haben im N. T. noch ein an-
deres Hinderniß. Wenn wir die Momente, aus denen die herr-
ſchenden Vorſtellungen vertheidigt zu werden pflegen, genauer
betrachten, ſo finden wir, daß vieles als Zeugniß angeſehen wird,
was nur Meinung geweſen. So wird die zweite Gefangenſchaft
des Apoſtels Paulus von Vielen fuͤr eine bezeugte Thatſache ge-
halten. Allein bei genauerer Unterſuchung fehlt es an allem Zeug-
niß dafuͤr. Gaͤbe es Zeugniſſe, ſo muͤßte man auch angeben koͤn-
nen, was der Apoſtel nach der in der Apoſtelgeſchichte erzaͤhlten
Gefangenſchaft gethan. Es giebt freilich ſpaͤtere Nachrichten dar-
uͤber, aber ſie haben keine bezeugende Kraft. Wie die Anſicht
der Alten von der zweiten Gefangenſchaft entſtanden ſein moͤge aus
der Vorausſezung der Inſpiration der heiligen Schrift, dieß haben
wir ſchon oben in der Hermeneutik zu erklaͤren geſucht 1).

Noch ein Anderes kommt hier in Betracht, wo man recht
ſehen kann, wie es der Kritik geht, wenn man ihr nicht freies
Feld laͤßt. Sie arbeitet dann nur gegen ſich ſelbſt.

Es waren gegen manche Pauliniſche Briefe Zweifel erhoben
worden, weil man ſagte, es kaͤmen Punkte darin vor, die ſich
aus dem bekannten Geſammtzuſtande, aus dem Leben des Apo-
ſtels nicht erklaͤren laſſen. Wenn aber nur die Apoſtelgeſchichte
nichts davon ſagt, ſo iſt das kein Grund, denn dieſe hat geſchicht-
liche Luͤcken. Wenn aber gegen beſtimmte Nachrichten Contrain-
dikationen in des Apoſtels Schriften vorkommen, ſo ſind dieſe eben
nicht aus jenem Geſammtzuſtande zu begreifen, ſie koͤnnen daraus
nicht hervorgegangen ſein. Da war die Befreiung des Apoſtels
aus der erſten Gefangenſchaft ein ſehr bequemes Auskunftsmittel;
ſie ſollte alle Contraindikationen aufheben. Allein da alle poſitive
Zeugniſſe dafuͤr fehlen, auch die Erklaͤrung der ganzen Sache aus

1) S. 247.
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[388/0412] fuͤhren, ſo lange das nicht iſt, koͤnnen wir nur aus inneren Gruͤn- den Beweis fuͤhren, nach der bezeichneten Methode, das Ein- zelne nur in Beziehung auf den Geſammtzuſtand zu behandeln. Die kritiſchen Unterſuchungen haben im N. T. noch ein an- deres Hinderniß. Wenn wir die Momente, aus denen die herr- ſchenden Vorſtellungen vertheidigt zu werden pflegen, genauer betrachten, ſo finden wir, daß vieles als Zeugniß angeſehen wird, was nur Meinung geweſen. So wird die zweite Gefangenſchaft des Apoſtels Paulus von Vielen fuͤr eine bezeugte Thatſache ge- halten. Allein bei genauerer Unterſuchung fehlt es an allem Zeug- niß dafuͤr. Gaͤbe es Zeugniſſe, ſo muͤßte man auch angeben koͤn- nen, was der Apoſtel nach der in der Apoſtelgeſchichte erzaͤhlten Gefangenſchaft gethan. Es giebt freilich ſpaͤtere Nachrichten dar- uͤber, aber ſie haben keine bezeugende Kraft. Wie die Anſicht der Alten von der zweiten Gefangenſchaft entſtanden ſein moͤge aus der Vorausſezung der Inſpiration der heiligen Schrift, dieß haben wir ſchon oben in der Hermeneutik zu erklaͤren geſucht 1). Noch ein Anderes kommt hier in Betracht, wo man recht ſehen kann, wie es der Kritik geht, wenn man ihr nicht freies Feld laͤßt. Sie arbeitet dann nur gegen ſich ſelbſt. Es waren gegen manche Pauliniſche Briefe Zweifel erhoben worden, weil man ſagte, es kaͤmen Punkte darin vor, die ſich aus dem bekannten Geſammtzuſtande, aus dem Leben des Apo- ſtels nicht erklaͤren laſſen. Wenn aber nur die Apoſtelgeſchichte nichts davon ſagt, ſo iſt das kein Grund, denn dieſe hat geſchicht- liche Luͤcken. Wenn aber gegen beſtimmte Nachrichten Contrain- dikationen in des Apoſtels Schriften vorkommen, ſo ſind dieſe eben nicht aus jenem Geſammtzuſtande zu begreifen, ſie koͤnnen daraus nicht hervorgegangen ſein. Da war die Befreiung des Apoſtels aus der erſten Gefangenſchaft ein ſehr bequemes Auskunftsmittel; ſie ſollte alle Contraindikationen aufheben. Allein da alle poſitive Zeugniſſe dafuͤr fehlen, auch die Erklaͤrung der ganzen Sache aus 1) S. 247.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/412>, abgerufen am 29.03.2024.