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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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ist er auch lahm, und die andere kann ihm nur dienen um
richtig zu wählen was ihm andere in jener geben.

Zusaz 1). Das überwiegende Talent ist nicht nur der
schwereren Fälle wegen erforderlich, sondern auch um nirgends
bei dem unmittelbaren Zweck (des einzelnen Talents) allein
stehen zu bleiben, vielmehr überall das Ziel der beiden Haupt-
richtungen zu verfolgen, vergl. §. 8. u. 9.

Das zur hermeneut. Kunst nothwendige Talent ist ein zwiefaches,
welche Zwiefachheit wir bis jetzt noch nicht in einem Begriff
zusammenfassen können. Wenn wir jede Sprache in ihrer ei-
genthümlichen Einzelheit vollkommen nachconstruiren und den
Einzelnen aus der Sprache, wie die Sprache aus dem Ein-
zelnen verstehen könnten, so wäre das Talent wohl auf eins
zu bringen. Da aber die Sprachforschung und die Auffas-
sung des Individuellen das noch nicht vermögen, so müssen wir
noch zwei Talente annehmen, als verschieden. -- Das Sprach-
talent ist nun wieder ein zwiefaches. Der Verkehr der Menschen geht
von der Muttersprache aus, kann sich aber auch auf eine andere
erstrecken. Darin liegt die Duplicität des Sprachtalents. Das
comparative Auffassen der Sprachen in ihren Differenzen, das ex-
tensive Sprachtalent, ist verschieden von dem Eindringen in das
Innere der Sprache in Beziehung auf das Denken, dem intensi-
ven Sprachtalent. Dieß ist das Talent des eigentlichen Sprach-
forschers. Beide sind nothwendig, aber fast nie vereinigt in ei-
nem und demselben Subject, sie müssen sich also in verschiedenen
gegenseitig ergänzen. Das Talent der Menschenkenntniß zerfällt
auch wieder in zwei. Viele Menschen können die Einzelheiten
Anderer leicht comparativ in ihren Verschiedenheiten auffassen.
Dieß (extensive) Talent kann die Handlungsweise Anderer leicht
nach-, ja auch vorconstruiren. Aber ein anderes Talent ist das
Verstehen der eigenthümlichen Bedeutung eines Menschen und sei-
ner Eigenthümlichkeiten im Verhältniß zum Begriff des Menschen.

1) Randbemerk. v. 1828.
Hermeneutik u. Kritik. 2

iſt er auch lahm, und die andere kann ihm nur dienen um
richtig zu waͤhlen was ihm andere in jener geben.

Zuſaz 1). Das uͤberwiegende Talent iſt nicht nur der
ſchwereren Faͤlle wegen erforderlich, ſondern auch um nirgends
bei dem unmittelbaren Zweck (des einzelnen Talents) allein
ſtehen zu bleiben, vielmehr uͤberall das Ziel der beiden Haupt-
richtungen zu verfolgen, vergl. §. 8. u. 9.

Das zur hermeneut. Kunſt nothwendige Talent iſt ein zwiefaches,
welche Zwiefachheit wir bis jetzt noch nicht in einem Begriff
zuſammenfaſſen koͤnnen. Wenn wir jede Sprache in ihrer ei-
genthuͤmlichen Einzelheit vollkommen nachconſtruiren und den
Einzelnen aus der Sprache, wie die Sprache aus dem Ein-
zelnen verſtehen koͤnnten, ſo waͤre das Talent wohl auf eins
zu bringen. Da aber die Sprachforſchung und die Auffaſ-
ſung des Individuellen das noch nicht vermoͤgen, ſo muͤſſen wir
noch zwei Talente annehmen, als verſchieden. — Das Sprach-
talent iſt nun wieder ein zwiefaches. Der Verkehr der Menſchen geht
von der Mutterſprache aus, kann ſich aber auch auf eine andere
erſtrecken. Darin liegt die Duplicitaͤt des Sprachtalents. Das
comparative Auffaſſen der Sprachen in ihren Differenzen, das ex-
tenſive Sprachtalent, iſt verſchieden von dem Eindringen in das
Innere der Sprache in Beziehung auf das Denken, dem intenſi-
ven Sprachtalent. Dieß iſt das Talent des eigentlichen Sprach-
forſchers. Beide ſind nothwendig, aber faſt nie vereinigt in ei-
nem und demſelben Subject, ſie muͤſſen ſich alſo in verſchiedenen
gegenſeitig ergaͤnzen. Das Talent der Menſchenkenntniß zerfaͤllt
auch wieder in zwei. Viele Menſchen koͤnnen die Einzelheiten
Anderer leicht comparativ in ihren Verſchiedenheiten auffaſſen.
Dieß (extenſive) Talent kann die Handlungsweiſe Anderer leicht
nach-, ja auch vorconſtruiren. Aber ein anderes Talent iſt das
Verſtehen der eigenthuͤmlichen Bedeutung eines Menſchen und ſei-
ner Eigenthuͤmlichkeiten im Verhaͤltniß zum Begriff des Menſchen.

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[17/0041] iſt er auch lahm, und die andere kann ihm nur dienen um richtig zu waͤhlen was ihm andere in jener geben. Zuſaz 1). Das uͤberwiegende Talent iſt nicht nur der ſchwereren Faͤlle wegen erforderlich, ſondern auch um nirgends bei dem unmittelbaren Zweck (des einzelnen Talents) allein ſtehen zu bleiben, vielmehr uͤberall das Ziel der beiden Haupt- richtungen zu verfolgen, vergl. §. 8. u. 9. Das zur hermeneut. Kunſt nothwendige Talent iſt ein zwiefaches, welche Zwiefachheit wir bis jetzt noch nicht in einem Begriff zuſammenfaſſen koͤnnen. Wenn wir jede Sprache in ihrer ei- genthuͤmlichen Einzelheit vollkommen nachconſtruiren und den Einzelnen aus der Sprache, wie die Sprache aus dem Ein- zelnen verſtehen koͤnnten, ſo waͤre das Talent wohl auf eins zu bringen. Da aber die Sprachforſchung und die Auffaſ- ſung des Individuellen das noch nicht vermoͤgen, ſo muͤſſen wir noch zwei Talente annehmen, als verſchieden. — Das Sprach- talent iſt nun wieder ein zwiefaches. Der Verkehr der Menſchen geht von der Mutterſprache aus, kann ſich aber auch auf eine andere erſtrecken. Darin liegt die Duplicitaͤt des Sprachtalents. Das comparative Auffaſſen der Sprachen in ihren Differenzen, das ex- tenſive Sprachtalent, iſt verſchieden von dem Eindringen in das Innere der Sprache in Beziehung auf das Denken, dem intenſi- ven Sprachtalent. Dieß iſt das Talent des eigentlichen Sprach- forſchers. Beide ſind nothwendig, aber faſt nie vereinigt in ei- nem und demſelben Subject, ſie muͤſſen ſich alſo in verſchiedenen gegenſeitig ergaͤnzen. Das Talent der Menſchenkenntniß zerfaͤllt auch wieder in zwei. Viele Menſchen koͤnnen die Einzelheiten Anderer leicht comparativ in ihren Verſchiedenheiten auffaſſen. Dieß (extenſive) Talent kann die Handlungsweiſe Anderer leicht nach-, ja auch vorconſtruiren. Aber ein anderes Talent iſt das Verſtehen der eigenthuͤmlichen Bedeutung eines Menſchen und ſei- ner Eigenthuͤmlichkeiten im Verhaͤltniß zum Begriff des Menſchen. 1) Randbemerk. v. 1828. Hermeneutik u. Kritik. 2

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/41>, abgerufen am 18.04.2024.