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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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aufgestellt sind oder nicht; dann erst können wir die Methoden an-
geben, um der Lösung derselben so nahe als möglich zu kommen.

Die eigentlich zur historischen Kritik des N. T. gehörigen
Fragen werden gewöhnlich in der Einleitung ins N. T. abgehan-
delt. Dieß ist nun eine Wissenschaft, die gar keine Grenzen hat,
in die man werfen kann, was man will. Da ist auch von einem
Zurückgehen auf Principien gar nicht die Rede, sondern man be-
handelt die Sachen nach Maaßgabe des jedesmaligen Zustandes.
Es fragt sich aber, giebt es keine solche Principien?

Wenn wir die Aufgaben so fassen, wie sie in jener Disciplin
vorzukommen pflegen, so ist es auf Ermittlung der Thatsache
aus mangelhaften und widersprechenden Indicien oder Zeugnissen
abgesehen. Da ist keine andere Methode, als was sich jedem
nach seiner Besonderheit als das Wahrscheinlichste darstellt. Bleibt
man dabei stehen, so erhält man nur Ohngefähres. Man wird
sich der Wahrheit bald nähern, bald sich mehr von ihr entfernen.
Und so wird wünschenswerth, daß man auf festes Objectives zu-
rückgehen könne.

Wenn die Grenze zwischen der philologischen und historischen
Kritik so festgestellt würde, daß die erste immer auf Dokumente,
als das Früheste oder rückwärts gerechnet auf das Lezte zurück-
geht, und was darüber hinausliegt, aus ihrem Gebiete ausschließt,
so ist nach dieser Seite hin dieses Lezte der Anfang für die Auf-
gabe der historischen Kritik. Fragen wir nun, kann es zur Wie-
derherstellung einer Thatsache, mit der es so steht, eine bestimmte
Methode geben, so ist die Frage so gleichsam ohne alles Funda-
ment, isolirt und schwebt in der Luft. Gehen wir aber davon
aus, daß die Thatsache ein Einzelnes ist in einem Ganzen, so
fragt sich, ist dieses Ganze nur ein bloßes Aggregat von solchen
Einzelheiten oder etwas anderes? Wollte man das erstere be-
haupten, so würde man alle Geschichte aufheben. Denn das
würde heißen, jeder geschichtliche Moment sei in der Zeitreihe
etwas rein Zufälliges. Wollen wir nicht alle Geschichte in leeren
Schein auflösen, so muß sich selbst das Einzelne als etwas für

aufgeſtellt ſind oder nicht; dann erſt koͤnnen wir die Methoden an-
geben, um der Loͤſung derſelben ſo nahe als moͤglich zu kommen.

Die eigentlich zur hiſtoriſchen Kritik des N. T. gehoͤrigen
Fragen werden gewoͤhnlich in der Einleitung ins N. T. abgehan-
delt. Dieß iſt nun eine Wiſſenſchaft, die gar keine Grenzen hat,
in die man werfen kann, was man will. Da iſt auch von einem
Zuruͤckgehen auf Principien gar nicht die Rede, ſondern man be-
handelt die Sachen nach Maaßgabe des jedesmaligen Zuſtandes.
Es fragt ſich aber, giebt es keine ſolche Principien?

Wenn wir die Aufgaben ſo faſſen, wie ſie in jener Disciplin
vorzukommen pflegen, ſo iſt es auf Ermittlung der Thatſache
aus mangelhaften und widerſprechenden Indicien oder Zeugniſſen
abgeſehen. Da iſt keine andere Methode, als was ſich jedem
nach ſeiner Beſonderheit als das Wahrſcheinlichſte darſtellt. Bleibt
man dabei ſtehen, ſo erhaͤlt man nur Ohngefaͤhres. Man wird
ſich der Wahrheit bald naͤhern, bald ſich mehr von ihr entfernen.
Und ſo wird wuͤnſchenswerth, daß man auf feſtes Objectives zu-
ruͤckgehen koͤnne.

Wenn die Grenze zwiſchen der philologiſchen und hiſtoriſchen
Kritik ſo feſtgeſtellt wuͤrde, daß die erſte immer auf Dokumente,
als das Fruͤheſte oder ruͤckwaͤrts gerechnet auf das Lezte zuruͤck-
geht, und was daruͤber hinausliegt, aus ihrem Gebiete ausſchließt,
ſo iſt nach dieſer Seite hin dieſes Lezte der Anfang fuͤr die Auf-
gabe der hiſtoriſchen Kritik. Fragen wir nun, kann es zur Wie-
derherſtellung einer Thatſache, mit der es ſo ſteht, eine beſtimmte
Methode geben, ſo iſt die Frage ſo gleichſam ohne alles Funda-
ment, iſolirt und ſchwebt in der Luft. Gehen wir aber davon
aus, daß die Thatſache ein Einzelnes iſt in einem Ganzen, ſo
fragt ſich, iſt dieſes Ganze nur ein bloßes Aggregat von ſolchen
Einzelheiten oder etwas anderes? Wollte man das erſtere be-
haupten, ſo wuͤrde man alle Geſchichte aufheben. Denn das
wuͤrde heißen, jeder geſchichtliche Moment ſei in der Zeitreihe
etwas rein Zufaͤlliges. Wollen wir nicht alle Geſchichte in leeren
Schein aufloͤſen, ſo muß ſich ſelbſt das Einzelne als etwas fuͤr

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[379/0403] aufgeſtellt ſind oder nicht; dann erſt koͤnnen wir die Methoden an- geben, um der Loͤſung derſelben ſo nahe als moͤglich zu kommen. Die eigentlich zur hiſtoriſchen Kritik des N. T. gehoͤrigen Fragen werden gewoͤhnlich in der Einleitung ins N. T. abgehan- delt. Dieß iſt nun eine Wiſſenſchaft, die gar keine Grenzen hat, in die man werfen kann, was man will. Da iſt auch von einem Zuruͤckgehen auf Principien gar nicht die Rede, ſondern man be- handelt die Sachen nach Maaßgabe des jedesmaligen Zuſtandes. Es fragt ſich aber, giebt es keine ſolche Principien? Wenn wir die Aufgaben ſo faſſen, wie ſie in jener Disciplin vorzukommen pflegen, ſo iſt es auf Ermittlung der Thatſache aus mangelhaften und widerſprechenden Indicien oder Zeugniſſen abgeſehen. Da iſt keine andere Methode, als was ſich jedem nach ſeiner Beſonderheit als das Wahrſcheinlichſte darſtellt. Bleibt man dabei ſtehen, ſo erhaͤlt man nur Ohngefaͤhres. Man wird ſich der Wahrheit bald naͤhern, bald ſich mehr von ihr entfernen. Und ſo wird wuͤnſchenswerth, daß man auf feſtes Objectives zu- ruͤckgehen koͤnne. Wenn die Grenze zwiſchen der philologiſchen und hiſtoriſchen Kritik ſo feſtgeſtellt wuͤrde, daß die erſte immer auf Dokumente, als das Fruͤheſte oder ruͤckwaͤrts gerechnet auf das Lezte zuruͤck- geht, und was daruͤber hinausliegt, aus ihrem Gebiete ausſchließt, ſo iſt nach dieſer Seite hin dieſes Lezte der Anfang fuͤr die Auf- gabe der hiſtoriſchen Kritik. Fragen wir nun, kann es zur Wie- derherſtellung einer Thatſache, mit der es ſo ſteht, eine beſtimmte Methode geben, ſo iſt die Frage ſo gleichſam ohne alles Funda- ment, iſolirt und ſchwebt in der Luft. Gehen wir aber davon aus, daß die Thatſache ein Einzelnes iſt in einem Ganzen, ſo fragt ſich, iſt dieſes Ganze nur ein bloßes Aggregat von ſolchen Einzelheiten oder etwas anderes? Wollte man das erſtere be- haupten, ſo wuͤrde man alle Geſchichte aufheben. Denn das wuͤrde heißen, jeder geſchichtliche Moment ſei in der Zeitreihe etwas rein Zufaͤlliges. Wollen wir nicht alle Geſchichte in leeren Schein aufloͤſen, ſo muß ſich ſelbſt das Einzelne als etwas fuͤr

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/403>, abgerufen am 25.04.2024.