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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Matthäus und Lukas nicht zur ursprünglichen Einheit von Stoff und
Form gehören. Verfahren wir nun vergleichungsweise, und wen-
den dabei eben festgestellten Kanon an, daß wenn ein Verfasser
einen besonderen Zweck außer der Behandlung eines bestimmten
Stoffes in einer bestimmten Form habe, dieser Zweck aus den
Elementen seines Werkes klar werden müsse, die auf jene Weise
nicht zu verstehen seien, so wird man, wenn wir voraussezen, das
Wesentliche des Evangeliums sei in beiden Arten dasselbe, fragen
müssen, ob sich aus dem, was die einen aus der Jugendgeschichte
Jesu mittheilen, ein besonderer Zweck der Darstellung erkennen
lasse? Aus dem Wunderbaren darin darf man nicht schließen,
jene hätten den besonderen Zweck gehabt, Christum als wunder-
bare Person darzustellen. Denn auch bei den andern ist das
Wunderbare hinlänglich vorhanden. Das Einfachste ist zu sagen,
die andern haben von der Kindheitsgeschichte keine Kunde gehabt;
die Gesellschaft, von der alle Nachrichten über Jesus ausgehen
mußten, habe sich erst mit seinem öffentlichen Auftreten um ihn
gesammelt; da beginne also erst der Stoff, der historisch behandelt
werden könne; die, welche darüber in ihren Evangelien hinaus-
gingen, hatten Gelegenheit mehr zu erfahren, die andern Evange-
listen nicht. Sagt man, die andern hätten die Gelegenheit zwar
auch haben können, aber verschmähet, so stellt sich das hermeneu-
tische Verhältniß ganz anders. Jenes Verschmähen könnte dann
seinen Grund darin haben, daß die Absicht war, nur das öffent-
liche Leben Christi zu beschreiben, in sofern darin allein Grund
zur Stiftung des Christenthums gelegen habe. Die andern Evan-
gelisten dagegen wollten alles geben, was sie von Christo in Er-
fahrung bringen konnten. So entsteht schon eine verschiedene Ein-
heit der einen und andern Classe. Die strengere hat alles aus-
geschlossen, was nicht zum öffentlichen Leben Jesu gehört. Ge-
schah dieß mit Wissen des anderweitigen Stoffes, so ist diese
strengere Einheit eine positive. Die Einheit würde eine sehr
laxe sein, wenn ohne eine bestimmte innere Schäzung nur nach
ganz äußeren Bestimmungsgründen der beschränkten Zeit, des be-

Matthaͤus und Lukas nicht zur urſpruͤnglichen Einheit von Stoff und
Form gehoͤren. Verfahren wir nun vergleichungsweiſe, und wen-
den dabei eben feſtgeſtellten Kanon an, daß wenn ein Verfaſſer
einen beſonderen Zweck außer der Behandlung eines beſtimmten
Stoffes in einer beſtimmten Form habe, dieſer Zweck aus den
Elementen ſeines Werkes klar werden muͤſſe, die auf jene Weiſe
nicht zu verſtehen ſeien, ſo wird man, wenn wir vorausſezen, das
Weſentliche des Evangeliums ſei in beiden Arten daſſelbe, fragen
muͤſſen, ob ſich aus dem, was die einen aus der Jugendgeſchichte
Jeſu mittheilen, ein beſonderer Zweck der Darſtellung erkennen
laſſe? Aus dem Wunderbaren darin darf man nicht ſchließen,
jene haͤtten den beſonderen Zweck gehabt, Chriſtum als wunder-
bare Perſon darzuſtellen. Denn auch bei den andern iſt das
Wunderbare hinlaͤnglich vorhanden. Das Einfachſte iſt zu ſagen,
die andern haben von der Kindheitsgeſchichte keine Kunde gehabt;
die Geſellſchaft, von der alle Nachrichten uͤber Jeſus ausgehen
mußten, habe ſich erſt mit ſeinem oͤffentlichen Auftreten um ihn
geſammelt; da beginne alſo erſt der Stoff, der hiſtoriſch behandelt
werden koͤnne; die, welche daruͤber in ihren Evangelien hinaus-
gingen, hatten Gelegenheit mehr zu erfahren, die andern Evange-
liſten nicht. Sagt man, die andern haͤtten die Gelegenheit zwar
auch haben koͤnnen, aber verſchmaͤhet, ſo ſtellt ſich das hermeneu-
tiſche Verhaͤltniß ganz anders. Jenes Verſchmaͤhen koͤnnte dann
ſeinen Grund darin haben, daß die Abſicht war, nur das oͤffent-
liche Leben Chriſti zu beſchreiben, in ſofern darin allein Grund
zur Stiftung des Chriſtenthums gelegen habe. Die andern Evan-
geliſten dagegen wollten alles geben, was ſie von Chriſto in Er-
fahrung bringen konnten. So entſteht ſchon eine verſchiedene Ein-
heit der einen und andern Claſſe. Die ſtrengere hat alles aus-
geſchloſſen, was nicht zum oͤffentlichen Leben Jeſu gehoͤrt. Ge-
ſchah dieß mit Wiſſen des anderweitigen Stoffes, ſo iſt dieſe
ſtrengere Einheit eine poſitive. Die Einheit wuͤrde eine ſehr
laxe ſein, wenn ohne eine beſtimmte innere Schaͤzung nur nach
ganz aͤußeren Beſtimmungsgruͤnden der beſchraͤnkten Zeit, des be-

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[171/0195] Matthaͤus und Lukas nicht zur urſpruͤnglichen Einheit von Stoff und Form gehoͤren. Verfahren wir nun vergleichungsweiſe, und wen- den dabei eben feſtgeſtellten Kanon an, daß wenn ein Verfaſſer einen beſonderen Zweck außer der Behandlung eines beſtimmten Stoffes in einer beſtimmten Form habe, dieſer Zweck aus den Elementen ſeines Werkes klar werden muͤſſe, die auf jene Weiſe nicht zu verſtehen ſeien, ſo wird man, wenn wir vorausſezen, das Weſentliche des Evangeliums ſei in beiden Arten daſſelbe, fragen muͤſſen, ob ſich aus dem, was die einen aus der Jugendgeſchichte Jeſu mittheilen, ein beſonderer Zweck der Darſtellung erkennen laſſe? Aus dem Wunderbaren darin darf man nicht ſchließen, jene haͤtten den beſonderen Zweck gehabt, Chriſtum als wunder- bare Perſon darzuſtellen. Denn auch bei den andern iſt das Wunderbare hinlaͤnglich vorhanden. Das Einfachſte iſt zu ſagen, die andern haben von der Kindheitsgeſchichte keine Kunde gehabt; die Geſellſchaft, von der alle Nachrichten uͤber Jeſus ausgehen mußten, habe ſich erſt mit ſeinem oͤffentlichen Auftreten um ihn geſammelt; da beginne alſo erſt der Stoff, der hiſtoriſch behandelt werden koͤnne; die, welche daruͤber in ihren Evangelien hinaus- gingen, hatten Gelegenheit mehr zu erfahren, die andern Evange- liſten nicht. Sagt man, die andern haͤtten die Gelegenheit zwar auch haben koͤnnen, aber verſchmaͤhet, ſo ſtellt ſich das hermeneu- tiſche Verhaͤltniß ganz anders. Jenes Verſchmaͤhen koͤnnte dann ſeinen Grund darin haben, daß die Abſicht war, nur das oͤffent- liche Leben Chriſti zu beſchreiben, in ſofern darin allein Grund zur Stiftung des Chriſtenthums gelegen habe. Die andern Evan- geliſten dagegen wollten alles geben, was ſie von Chriſto in Er- fahrung bringen konnten. So entſteht ſchon eine verſchiedene Ein- heit der einen und andern Claſſe. Die ſtrengere hat alles aus- geſchloſſen, was nicht zum oͤffentlichen Leben Jeſu gehoͤrt. Ge- ſchah dieß mit Wiſſen des anderweitigen Stoffes, ſo iſt dieſe ſtrengere Einheit eine poſitive. Die Einheit wuͤrde eine ſehr laxe ſein, wenn ohne eine beſtimmte innere Schaͤzung nur nach ganz aͤußeren Beſtimmungsgruͤnden der beſchraͤnkten Zeit, des be-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/195>, abgerufen am 25.04.2024.